Verschleiert in die Zukunft

Die Aufhebung des Kopftuchverbots an Universitäten, die in der vergangenen Woche vom türkischen Parlament beschlos­sen wurde, spaltet die Türkei. In Ankara demonstrierten am Samstag mehrere zehn­tausend Menschen, die diese »Reform« als Zeichen einer schleichenden Islamisierung des Landes betrachten. Die Regierungspartei AKP hatte den Gesetzesentwurf mit Unterstützung der ultranatio­nalistischen Partei MHP eingebracht. Die beschlossene Verfassungsänderung gehört zu einer umfangreichen Refom, dabei ist das Kopftuch nur einer von meh­reren umstrittenen Punkten. von sabine küper-büsch, istanbul

Zümrüt Çavusoglu verbrachte einen Teil ihrer Kind­heit in Australien und wuchs zweisprachig auf, neben dem Türkisch ist ihr Englisch perfekt. Das erleichterte ihre Aufnahme an der renom­mier­ten Istanbuler Bosporus-Universität. Studenten müssen bei den Zulassungsprüfungen eine hohe Punktzahl erreichen, um an dieser Hochschule akzeptiert zu werden, wo auf Englisch unterrichtet wird. Die junge Frau ist mitt­lerweile Filmemacherin. Sie trägt gern Hüfthosen, enge Tops und manchmal einen Schal um den Kopf, wenn die Frisur nicht so recht sitzt. Sie käme nie auf die Idee, ein traditionelles Kopftuch zu tragen. Die Diskussionen um die Kopfbedeckung von Studen­tinnen verstand die 25jährige jedoch schon zu ihrer Studienzeit nicht. Bis heute mag sie sich nicht genauer mit der Symbolik des Tuchs auseinandersetzen. »Ich interessiere mich nicht für das Kopftuch an sich, es hat mit meinem Leben überhaupt nichts zu tun«, sagt sie etwas schroff. »Was mich interessiert, ist der Umstand, dass ich den Campus jeden morgen und ohne Einschränkung betreten durfte. Andere Studentinnen, und das beschränkt sich nur auf Frauen, standen jedes Jahr Ängste aus, was der Dekan sich wieder Neues hat einfallen lassen. Ob sie überhaupt die Universität betreten dürfen, ob sie eine Perücke tragen oder über den Zaun klettern müssen.«

Tatsächlich wird derzeit die Kopftuchfrage an tür­kischen Universitäten unterschiedlich beantwortet. Das Verbot wird teilweise bereits umgangen. Viele Rektoren dulden eine gemäßigte Auslegung des Gesetzes, das zu moderner Kleidung verpflich­tet. Manche Studentinnen dürfen Kopftücher auf dem Campus tragen, wenn sie bunt und kleidsam sind. Andere junge Frauen tragen Perücken, um das eigene Haar zu verdecken.

Zümrüt Çavusoglu drehte zum Ende ihres So­zio­logiestudiums einen Kurzfilm über dieses Thema. Es geht darin um drei eng befreundete Studentin­nen an der Bosporus-Universität. Sie rauchen gemeinsam im Waschraum und ärgern die nörgelige Putzfrau, eine traditionelle ana­tolische Frau mit Kopftuch. Doch die Anatolierin ist nicht wegen ihrer Kleidung Anlass zu allerlei Spott. Es sind ihre spießigen Ermahnungen und bäuerlichen Rollenvorstellungen, die die jungen Frauen provozieren. Der Film thematisiert die Konkurrenzsituation zwischen den Generationen und versucht, die feinen Unterschiede herauszuarbeiten, die in der öffentlichen Kopftuchdebatte im Allgemeinen übersehen und pauschalisiert werden. Die hübsche Merve unterscheidet sich erst von den anderen, als ihre Freundinnen das Wohnheim verlassen. Sie trägt ein Kopftuch zur Jeansjacke und wird ständig vom Sicherheits­beamten der Universität schikaniert. Er stellt sich der jungen Frau in den Weg und herrscht sie an, »so kommen Sie hier nicht rein.« Mit Unterstützung der Freun­dinnen versucht Merve zu argumentieren, verweist auf die bisherige liberale Praxis an der Elite­universität, doch der Beamte bleibt unerbittlich. Entweder das Kopftuch oder die Universität. Der Wirbel um die eigene Person beschämt Merve schließlich so sehr, dass sie das Kopftuch abnimmt. Sie durchschreitet das Universitätsportal mit gesenktem Kopf. Kein Akt der Befreiung. Der freie Wille einer jungen Frau wird gebrochen, der autoritäre Machismo des Wärters triumphiert. Aus Protest gießt sich Merve eine Flasche Wasser über den Kopf und beginnt, ihr langes, schwarzes Haar abzuschneiden. Für Zümrüt Çavusoglu zeigt dieses Bild die diskriminierende Komponente des Kopftuchverbots. »Für mich ist das auch eine Form von Gewalt. Man lässt diese Frauen mit ihren Kopftüchern nicht an die Universität oder an bestimmte Arbeitsplätze. Das bedeutet, sie zuhause einzusperren. Was hat das mit Emanzipation zu tun?«

Nicht nur die Regisseurin denkt so. Auch das aktuelle Titelbild der satirischen Zeitschrift Uykusuz zeigt eine junge Frau, die sich die Haare abschnei­det, in der typischen Mantelmode der Islamistinnen. Im Hintergrund Sprechblasen, die die derzeitige politische Debatte wiedergeben. Ein großer Teil der urbanen Jugend in der Türkei empfindet die Diskussion über das Kopftuch mittlerweile als entnervender als das Kopftuch selbst. Die Debatte wurde bereits Ende der achtziger Jahre durch eine Gesetzesklausel der westlich orientierten Re­gierung Turgut Özals ausgelöst, die gleichzeitig islamische Elemente förderte. Die »türkisch-islamische-Synthese«, eine Betonung frommer und nationalistischer Elemente in einer kapitalistisch globalisierten türkischen Gesellschaft, sollte für sozialen Frieden und Entwicklung sorgen.

Im Hochschulgesetz von 1989 hieß es: »Die Studenten sind aufgefordert, moderne Kleidung zu tragen, das Kopftuch aus religiösen Gründen auf dem Campus zu tragen, wird erlaubt.« Damit wur­de die Auslegung des zu den Revolutionsgesetzen zählenden »Kleidungsgesetzes« umgangen, das seit den dreißiger Jahren eine moderne, zeitgemäße Aufmachung verordnet. Das Verfassungs­gericht annullierte die Klausel 1991 und löste damit Protest im ganzen Land aus. Viele Studentinnen konnten ihren Abschluss nicht machen, weil sie sich innerhalb der islamistisch politisierten Atmosphäre der neunziger Jahre weigerten, das Kopftuch abzulegen.

1996 wurde die Koalitionsregierung von Premierministerin Tansu Ciller und Islamistenführer Necmettin Erbakan zum Rücktritt gezwungen, der militante Arm der vor allem im Südosten aktiven türkischen Hizbollah wurde durch zahlreiche Verhaftungen unschädlich gemacht. Der »ver­deckte Putsch« erzeugte in der Türkei erneut das Gefühl, das Militär habe das Land vor einem Abrutschen in die Islamisierung bewahrt. Tatsächlich hatte man sich selbst aufgebauter Mafia-Struk­turen entledigt. Die Koalition zwischen Ciller und Erbakan war nur entstanden, weil die islamistische Partei sich eine Machtbeteiligung verschaffte, indem sie Ciller vor einem drohenden Un­tersuchungsausschuss bewahrte. Die türkische Hizbollah war von Teilen des türkischen Militärs toleriert und als militante Kraft gegen die kurdische PKK und andere politische Strömungen unterstützt worden.

Die Verstrickung von Mafia, Politik, Staatsbüro­kratie und Sicherheitsapparat dauert bis heute fort und ist Anlass für Machtkämpfe zwischen der gegenwärtigen Regierung und dem so genannten »tiefen Staat«, reaktionären Angehörigen des Staats- und Militärapparats. Der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) gelang im vergangenen Sommer auch deshalb ein überragender Wahlsieg, weil viele Wähler sie hinsichtlich ihrer Meinung zur Kopftuchfrage als die demokratischste im Parteienspektrum empfand. Umso bedenklicher, dass sich jetzt AKP und ultranationalistsiche MHP die Hand reichten, um das Koptuchverbor abzuschaffen. Zu befürchten ist, dass die AKP in Hinblick auf andere wichtige Reformen – etwa die Liberalisierung der Zensurgesetze – künftig der MHP Zugeständnisse machen muss.

Die geplante Verfassungsreform ist seit langem überfällig, doch über die Inhalte wird derzeit kontrovers debattiert. Denn es geht nicht nur um das Kopftuch. Canan Arın ist eine der Symbolfiguren der türkischen Frauenbewegung. Seit den achtziger Jahren kämpft die Anwältin für Frauen­rechte. Das Jahr 2004 bedeutete gesetzlich eine Zäsur. Eine Gesetzesänderung sorgte erstmals für die Gleichstellung von Mann und Frau in der Verfassung. Dem folgten Reformen, für die die Frauen­bewegung jahrzehntelang erfolglos gekämpft hatte. Gewalt in der Ehe wurde unter Strafe gestellt, die Strafnachlässe für so genannte Ehrenmorde wurden aufgehoben und willkürliche »Jung­fräulichkeitstests« verboten.

»In meiner Berufspraxis war das ein Meilenstein«, sagt Canan Arın entschieden. Schon Gerüchte über eine mögliche Verfassungsänderung zu Ungunsten dieser Gleichstellung in den tür­kischen Medien lassen die 52jährige zornig werden. Die AKP diskutiert zurzeit über den von einer Juristenkommission erarbeiteten Entwurf für eine neue Verfassung. Seit Wochen heizen immer wieder Vorabdrucke von Auszügen die öffent­liche Diskussion in der Türkei an. Der Vorschlag, den Paragraphen über Gleichberechtigung zu strei­chen und Frauen unter Artikel 9 neben Kindern, Alten und Behinderten als besonders schutzbedürftige Gruppe zu definieren, erregte nicht nur im feministischen Lager großen Unmut. Diese Definition erinnert zu sehr an die Debatte der acht­ziger Jahre um den islamistischen Slogan »Gerechtigkeit statt Gleichheit«.

Die Frauen der Bewegung für das Kopftuch hatten jahrelang die Ungleichheit von Mann und Frau als gottgegeben verteidigt und besondere Pflichten und Privilegien für Frauen gefordert. Doch selbst innerhalb des starken Frauenflügels der AKP ist diese Ansicht längst passé. Alle Par­lamentarierinnen der AKP sind unverschleierte Akademikerinnen und propagieren Bildung und Berufstätigkeit für Frauen. Es bleibt abzuwarten, ob sie sich gegen die Allianz aus den Männern von AKP und MHP im Verbund mit der kurdischen Fraktion durchsetzen können. Gegen die Empfehlung der Abgeordneten Aysel Tugluk, die vor einem Erstarken der kurdischen Hizbollah in ­ihrem Wahlkreis Diyarbakir warnt, entschied sich auch die prokurdische Partei für eine demokra­tische Gesellschaft (DTP), für die Afhebung des Kopftuchverbots zu stimmen.

»Ich denke, hinter den Kulissen wird tüchtig gestritten«, zuckt Canan Arin lakonisch die Schul­tern, »wir werden weiter öffentlich Druck aus­üben, um die Debatte zu beeinflussen.«

Im Kabinett von Ministerpräsident Recep Tay­yip Erdogan ringen derzeit Modernisierer mit Traditionalisten. Besonders umstritten ist die von der Europäischen Union geforderte Änderung des berüchtigten Paragrafen 301, der die »Verunglimpfung des Türkentums« verbietet. Er war in den vergangenen Jahren von nationalistischen Juristen benutzt worden, um etwa den Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk wegen öffentlich geäußerter Kritik am Umgang der Türken mit den Massakern an Armeniern im Ersten Weltkrieg vor Gericht zu bringen. Der türkisch-armenische Journalist Hrant Dink wurde wegen ähnlicher Äußerungen sogar zu einer Bewährungsstrafe verurteilt und vor einem Jahr am 19. Januar auf offener Straße von einem nationalistisch indoktrinier­ten Jugendlichen ermordet. Die Regierung Erdogan würde den Paragrafen 301 gern loswerden, vor allem um das schlechte Image der Türkei in Europa zu verbessern. Justizminister Mehmet Ali Sahin will den vagen Begriff des »Türkentums« in dem Gesetz durch die »türkische Nation« erset­zen. Zudem soll die Höchststrafe von drei auf zwei Jahre reduziert werden. Außerdem will Sahin, dass Verfahren nach dem Paragrafen 301 nur noch mit Genehmigung seines Ministeriums eingeleitet werden dürfen. Damit sollen nationalistische Anwälte, die in der Vergangenheit die spek­takulären Prozesse gegen Dink und Pamuk als Nebenkläger auslösten, an ihrem Tun gehindert werden.

Hrant Dinks Anwältin Fethiye Cetin ist skeptisch. Hätte diese Reform den damaligen Prozess gegen Dink anders verlaufen lassen? »Die Politik des damaligen Justizministeriums war eindeutig gegen uns, eine politische Instanz liefert doch nicht mehr Rechtssicherheit«, unterstreicht sie. Zudem sind Justizminister Mehmet Sahins Vorschlä­ge in der eigenen Regierung umstritten. Sein Vorgänger Cemil Cicek, inzwischen Vizepremierminister und Wortführer der Nationalisten in der Regierung Erdogan, nahm nach mehreren Me­dienberichten in internen Beratungen gegen Sahins Pläne Stellung. »Das einzig richtige Signal wäre die komplette Streichung dieses Paragraphen«, fordert Cetin mit steinerner Miene. Sie ist nicht die einzige, die so denkt, denn die Rechtswirklichkeit misst mit zweierlei Maß. Fethiye Cetin ist jetzt Nebenklägerin im Prozess gegen Hrant Dinks Mörder. Der armenisch-türkische Journalist wurde 2006 trotz eines ihn entlastenden linguistischen Gutachtens der »Verunglimpfung des Türkentums« schuldig gesprochen. Das war ein Justizskandal, der in der Türkei kaum thematisiert wurde. Das Verschwinden von Beweismaterial im Mordfall Dink verschleiert derzeit nur oberflächlich die Verbindungen des Mörders und seiner Hintermänner bis in den Polizei- und Justizapparat. Dies ist ein fast täglich in der türkischen Öffentlichkeit thematisierter Justizskandal, der keinerlei Konsequenzen nach sich zieht. »Wir sind deshalb noch weit von Rechtssicherheit entfernt«, sagt Cetin, »trotzdem haben Verfassungs- und Gesetzesänderungen eine Signalwirkung.«

Die AKP taktiert zurzeit. Neben der Debatte um das Strafrecht sind umfassende Änderungen des politischen Systems vorgesehen. Die Begrenzung der Macht des Präsidenten und des Militärs würde einer von der EU geforderten Stärkung der par­la­mentarischen Demokratie gleichkommen, auch die Liberalisierung des totalen Kopftuchverbots an der Universität wird von der EU begrüßt. Diese Punkte sind die strittigsten der derzeitigen Debatte.

Die Anwältin Canan Arın erinnert sich nachdenklich an die achtziger Jahre, als die feminis­tische Bewegung entstand und sie selbst entschie­den gegen das Kopftuch war. Das hat sich mit dem Verschwinden der Massenbewegung für die Verschleierung verändert. Heutzutage setzen sich viele der Frauen aus der AKP-Bewegung für die gleichen Ziele wie sie ein. »Wir werden jetzt sehen«, lächelt sie verschmitzt, »wie sie sich in der Debatte um den Gleichheitsparagraphen verhalten werden.«