Ein Opfer für Pachamama

Die neue Verfassung Boliviens schreibt die Rechte »indigener Völker« fest, um ihnen politische Repräsentation zu sichern. Der Identitätsentwurf könnte andere Bevölkerungsgruppen marginalisieren.

Die Flutkatastrophe hat den politischen Konflikt kurzzeitig unterbrochen, doch der Streit über die neue Verfassung Boliviens dürfte bald wieder aufflammen. Ende 2007 verabschiedet, wird sie der Bevölkerung in diesem Jahr zur Abstimmung vorgelegt. Zu den umstrittensten Themen gehören die nun in der Verfassung festgeschriebenen Rechte »indigener Völker«.

Deren Repräsentant ist Präsident Evo Morales, ein ehemaliger Kokabauer und Gewerkschafter. Bereits bei seiner Amtseinführung war der Bezug auf die indigenen Aymara zentral. Neben den offiziellen Feierlichkeiten fand am 21. Januar 2006 eine ungewöhnliche Zeremonie in Tiahuanaco statt, einem kleinen Dorf neben dem gleichnamigen archäologischen Fundort, der bei den Aymara als symbolisches und kosmologisches Zentrum gilt. Dort hatten sich religiöse und politische Autoritäten der verschiedenen indigenen Gruppen zusammengefunden, um vor mehreren tausend Personen gemeinsam mit dem Präsidenten den Sonnenaufgang zu begrüßen und der »Mutter Erde« Pachamama zu opfern.

Evo Morales war in Anspielung auf die »uralte« Kultur Tiahuanacos (Prä-Tiahuanaco wird auf ca. 2 000 v. u. Z. datiert) in priesterliche Kleider gehüllt. Speziell waren dafür eine Kopfbedeckung mit vier Zipfeln gefertigt worden, die sich in Form und Design an archäologischen Vorbildern orientierte, sowie ein Poncho und ein Zeremonialstab aus Tropenholz, der in seinen Verzierungen sowohl das Hochland (Kondor) als auch das östliche Tiefland (Anakonda) repräsentiert. Die Zeremonie hat einen im Verfassungsentwurf proklamierten Bezug zur vorkolonialen Vergangenheit vorweg genommen und sollte eine bis zur Gegenwart reichende historische Kontinuität von ungefähr 4 000 Jahren visualisieren. Mit dem symbolischen und rituellen Akt der Ermächtigung indigener Gruppen sollten Ausschluss und Diskriminierung überwunden werden.

Ein weiteres Symbol dieser Ermächtigung ist die Wiphala (Aymara für Flagge), neben der rot-gelb-grünen Trikolore ein neues nationales Banner (Artikel 6 der Verfassung), dessen Regenbogenfarben die Gemeinschaft aller ethnischen Gruppen des Landes repräsentieren soll. In nur wenigen Jahren hat die Whipala ihren Weg von Protestmärschen und Straßenblockaden über politische Versammlungen und das Internet bis hinein in den Regierungspalast und die Verfassung gefunden. Zunächst Symbol bäuerlichen Widerstands im Hochland der Anden und der Repräsentation der »indigenen Völker«, nun Zeichen der nationalen Einheit, steht die Wiphala gleichberechtigt neben den Symbolen, die seit der Unabhängigkeit des Landes 1826 allein die Nation einer urbanen kreolischen Elite repräsentiert hatten.

Damit hatte auch der Diskurs einen Sieg davon getragen, sämtliche Konflikte in der fast 300jährigen kolonialen Geschichte in einen einzigen Antagonismus zweier einander feindlich gegen­über­stehender Blöcke – Spanier und Indigene – zu zementieren. Politische Kontroversen und Verhandlungen, Kollaborationen indigener Gruppen mit den Spaniern, gegenseitige Anpassungen und Austauschprozesse jeglicher Art, aber auch interne Differenzierungen und Konflikte indigener Gruppen wurden dabei systematisch ausgeblendet.

Spanische Befehlshaber und einfache Soldaten, Bauern und spanischer Adel, Indigene und ihre Anführer vertraten durchaus auch gemeinsame Interessen. Ungeachtet dieser vielfältigen Kräfte- und Machtverhältnisse in der kolonialen Gesellschaft setzte sich im öffentlichen Diskurs bis heute das utopische Bild der gewünschten Ordnung durch, einer streng nach Kriterien der Kultur und des Erscheinungsbilds gegliederten Kastengesellschaft. Finden diese Kriterien Eingang in Konflikte und politische Diskurse, so können sie dazu dienen, Gruppen unter ethnischen und »rassischen« Vorzeichen von der politischen Repräsentation und Teilhabe auszuschließen.

Kultur, race und Ethnizität, von dem US-Anthropologen Eric Wolf als gefährliche Ideen bezeichnet, hatten seit der Unabhängigkeit Boliviens sämtlichen Machthabern dazu gedient, die subalternen indigenen Gruppen zu marginalisieren oder gar völlig auszuschließen. In den Imaginationen einer Nation von den urbanen Kreolen, Mestizen und »Weißen« kamen die indigenen Gruppen auf dem Land nicht mehr vor. Vom nationalen Dialog ausgeschlossen, bildeten sie das stumme Rückgrat kolonialer und neokolonialer Ausbeutung auf den Haziendas und in den Minen.

Der Partei Mas (Bewegung zum Sozialismus) von Evo Morales genügt eine symbolische Politik allein nicht mehr. Beabsichtigt ist die Gründung eines »neuen Staats«. Der koloniale, republikanische und der neoliberale Staat gehörten der Vergangenheit an, heißt es in der Präambel der Verfassung. Die »Subalternen«, die im Konstruktionsprozess der Nation ausgeschlossen worden waren, schreiben sich nun in die Verfassung ein, um sich so als ein eigenständiges politisches Subjekt zu begreifen. Diesem Emanzipationsauftrag ist es geschuldet, dass die soziale Frage dem Thema Identität, das seinen Ausdruck in einem strategischen Essenzialismus (Gayatri Spivak) sucht, so eindeutig nachgeordnet wird.

Nachdem die Existenz der indigenen Bevölkerung in Bolivien erst 1993 durch eine Reform der damaligen Verfassung anerkannt worden war, sind aus dem aktuellen Entwurf nun spezielle Rechte ableitbar. Zu den »fundamentalen Grundlagen« des Staats gehört die Anerkennung aller 36 indigenen Sprachen als Amtssprachen neben dem Spanischen (Art. 5, I). Garantiert wird außerdem eine eigenständige Rechtsprechung in den »territorialen indigenen Einheiten« (Art. 30, Abs. II, Art. 291). Eine »ordentliche« und eine »indigene originäre bäuerliche« Rechtsprechung sollen »ohne Hierarchie« nebeneinander existieren (Art. 179, 180).

Die neue indigene Rechtsprechung ist eng mit Selbstverwaltung und politischer Autonomie verbunden, die in den indigenen Territorien, Gemeinden und Regionen garantiert werden sollen. In den Verwaltungsräten der übergeordneten Ebenen wie Provinzen und Departments sollen von den Indigenen gewählte Mitglieder vertreten sein. Die indigenen Autoritäten sollen Recht sprechen, indem sie ihre »Prinzipien, kulturellen Werte, Normen und eigene Verfahren« anwenden, die aber dem »Recht auf Leben« und der Verfassung untergeordnet bleiben müssen (Art. 191). Die Mechanismen, welche die »ordentliche« und die »indigene originäre bäuerliche« Rechtsprechung koordinieren, müssen in einem erst noch zu schaffenden Gesetz definiert werden (Art. 193).

Die Betonung eines intra- und interkulturellen Dialogs sowie plurinationaler Identitäten (Art. 9) kann jedoch nur schlecht verbergen, dass ein großer Teil der bolivianischen Bevölkerung, vor allem die Mittelschicht der Städte des östlichen Tieflands, in diesem Identitätsentwurf keinen Platz hat. Das »bolivianische Volk« – so die vereinfachende und dichotomisierende Konstruktion in der Verfassung – setzt sich aus den Angehörigen verschiedener sozialer Klassen, die in den Städten leben, und aus den »indigenen originären bäuerlichen Nationen und Völkern« auf dem Land zusammen (Art. 3). Kreolen und Mestizen gibt es im Wortlaut der neuen Verfassung nicht mehr. Den Rechten der »indigenen originären bäuerlichen Nationen und Völker« wird dagegen ein eigenes Kapitel gewidmet, das sie als »mensch­liche Gemeinschaft, die kulturelle Identität, Sprache, Tradition, Institutionen, Territorialität und Kosmovision miteinander teilen, deren Existenz der kolonialen spanischen Invasion vorausgeht« (Art. 30) definiert.

Der Zusammenhang mit der am 13. September 2007 nach 20jähriger Arbeit verabschiedeten UN-Deklaration der Rechte indigener Völker ist nicht zu übersehen. Mit dem großen Unterschied, dass in dieser Deklaration auf eine Definition des Begriffs »indigene Völker«, die als umstritten gilt, verzichtet worden ist. Der Verfassungsentwurf Boliviens dagegen übernimmt die Arbeitsdefinition der UN von 1982, die es rechtfertigt, die Identität der indigenen Gruppen des Hochlands derartig zentral in den Verfassungstext einzuschreiben.

Ein »neuer Staat«, der von den Gruppen getragen werden soll, die bislang marginalisiert und unsichtbar waren, muss seine neue Identität repräsentieren. Antonio Gramsci zufolge ist die kulturelle Repräsentation eine Vorbedingung, um sich auch politisch zu repräsentieren. Die Symbole, auf die zurückgegriffen wird, stehen für eine historische Zeitspanne, die mit Begriffen wie »Urzeiten« und »von den Vorfahren überliefert« beschrieben wird.

Der britische Historiker Eric Hobsbawm betont, dass das Erfinden von Traditionen besonders bei einschneidenden gesellschaftlichen Veränderungen zu beobachten sei. In der Erschaffung neuer sozialkultureller Muster sei der Gebrauch »alter« Materialien typisch für das Erfinden von Traditionen. Damit werde eine so nicht vorhandene historische Kontinuität hergestellt. Das Merkmal dieser Traditionen sei Unveränderlichkeit. Dies entspricht der Statik und Unveränderlichkeit der »indigenen Völker«, wie sie in der Verfassung dokumentiert ist (Art.2, Art. 30).

Der Verfassungsentwurf ist nicht nur ein praktizierter strategischer Essenzialismus der »indigenen Völker« Boliviens, in ihm zeigt sich dar­über hinaus auch eine Dominanz der Gruppen des andinen Hochlands, der Aymara und Quechua. Zweifellos ist der strategische Essenzialismus in bestimmten gesellschaftlichen Situationen politisch notwendig. Er darf aber nur eine vorläufige Strategie bleiben, wenn er nicht »immer weniger strategisch und dafür immer essenzialistischer« (Hito Steyerl) und auf diese Weise zur Zerreißprobe für das Land werden soll. Die Verfassung müsste neben der lateinamerikanischen Integration und der aller »indigenen Völker« weltweit (Art. 266) auch einen integrativen Ansatz nach innen finden, der es allen Gruppen und Schichten des Landes erlaubt, sich mit dem neuen nationalen Projekt zu identifizieren. Das Fehlen dieses Ansatzes führte zu der »Verfassungskrise«, die Bolivien in den vergangenen Monaten erschütterte.