»Lasst euch nicht provozieren«

Antony Beevor stellt erstmalig die Kriegstagebücher von Wassili Grossman vor. Ein Blick von sowjetischer Seite auf die Jahre 1941 bis 1945. Von Guido Sprügel

Deutsche Feldpostbriefe aus Stalin­grad, Filme über das Leiden von General Paulus’ 6. Armee, das Leiden der Landser unter »Väterchen Frost« – der deutsche Einmarsch in die Sowjetunion dient immer wieder als Projektionsfläche für das Leid der Wehrmachtsangehörigen und das nationale Lei­den. Die Sowjetunion setzte dem ein propagandistisches Bild der heroischen Roten Armee ent­gegen, in dem es keine Verfehlungen gab und in dem der »Holocaust« oftmals als Leid, welches Sowjetmenschen erfahren hatten, be­schrie­ben wurde.

Der britische Historiker Antony Beevor setzt dem einen neuen Blick entgegen, indem er erst­malig die Frontnotizbücher von Wassili Grossman veröffentlicht. Der weitaus größte Teil des vorgestellten Materials aus den Notizbüchern und Artikeln Grossmans für die Zeitung Krassnaja Swesda (Roter Stern) beschreibt den Krieg gegen die Sowjetunion aus der Sicht des Schrift­stellers Grossman, der das Kriegsgeschehen begleitet. Sind die Artikel für den Roten Stern immer von einer gewissen Zensur geprägt, so vermitteln die Tagebuchaufzeichnungen einen direkten Blick auf die Ereignisse. Grossman schrieb Tagebuch, obwohl dies in der Roten Armee verboten war – zu groß war die Angst vor Spionen.

Fast drei von insgesamt vier Kriegsjahren verbrachte der in der Sowjetunion der dreißiger Jahre schon anerkannte jüdischstämmige Schriftsteller in der Roten Armee. Als Hitlers Trup­pen im Juni 1941 die Sowjetunion über­fielen, meldete sich der aus der Ukraine stammende Grossman freiwillig zur Armee. Doch diese beschied dem 35jährigen Untauglichkeit, sodass er begann, als Kriegsberichterstatter für die Armeezeitung Roter Stern zu arbeiten. Im August 1941 wurde er an die Front geschickt und begleitete die Rote Armee fortan von Stalingrad über die Ukraine bis Weißrussland, er erlebte die Befreiung von Treblinka und den Ein­marsch in Berlin.

Antony Beevor ordnet das Material chrono­logisch und versucht, es in den historischen Kontext zu stellen. An einigen Stellen weist er auf sowjetoffizielle Abweichungen der von Grossman beschriebenen Ereignisse hin. So schildert Grossman, dass der Einmarsch der deutschen Truppen zunächst von der Militärführung nicht ernst genommen wurde.

»Als der Krieg begann, befanden sich viele hohe Kommandeure und Generäle zur Kur in Sotschi. (…) Als die an der Grenze stationierten Verbände bei ihren vorgesetzten Stäben anriefen, der Krieg habe begonnen, erhielten einige die Antwort: ›Lasst euch nicht provozieren.‹«

In der offiziellen sowjetischen Propaganda habe man das Chaos der ersten Monate nicht erwähnen dürfen.

Viele Rotarmisten verstümmelten sich in dieser Phase des Krieges selbst, um nicht kämp­fen zu müssen. Der NKWD ahndete versuchte Fahnenflucht mit Erschießen. Grossman beschreibt die Erschießungen in seinem Notizbuch – offiziell wurde nicht über diese »Feigheit« in der Roten Armee gesprochen.

Grossman berührten vor allem die mensch­lichen Tragödien, die er zu sehen bekam. Er notierte: »Weinende Zivilisten allerorten. Ob die Menschen nun fahren, sitzen oder am Zaun ste­hen – schon beim ersten Wort beginnen sie zu weinen, und es schnürt einem selbst die Kehle zu. Welch riesiges Unglück!«

Ausführlich schildert er die Leiden der russischen Zivilbevölkerung und das unkoordinierte Zurückweichen der Roten Armee vor den Deutschen. Aber bereits in diesen ersten Wochen des Krieges blieb ihm der eigentliche Charakter des deutschen Angriffs nicht verborgen – die Vernich­tung der Juden. Seine Mutter blieb 1941 in Berdytschiw und wollte nicht zu Grossman nach Mos­kau kommen. Zusammen mit den weit über 20 000 Juden des Ortes wurde sie ermordet. Der Sohn erfuhr die näheren Umstände erst Jahre später bei der Befreiung des Ortes durch die Rote Armee. Ein Schicksalsschlag, den er nie verwunden hat. Doch bereits in den ersten Kriegswochen trieb ihn die Angst um seine Mut­ter um – ahnte er doch die Absichten der Deutschen. »Darüber ist nichts zu schreiben, sie sitzt Tag und Nacht in meinem Herzen. Ist sie noch am Leben? Nein! Ich weiß es und ich spüre es.«

Den Rassenhass der Deutschen erlebte Grossman täglich. Er schreibt: »Ein deutscher Gefangener wurde in einen Lazarettzug gebracht. Um ihm das Leben zu retten, musste eine Bluttrans­fusion vorgenommen werden. Er aber schrie: ›Nein, nein!‹ Er wollte kein slawisches Blut. Drei Stunden später war er tot.«

Im Spätherbst 1942 wendete sich das Blatt, als in Stalingrad die Einkesselung der 6. Armee gelang. Grossman war immer an vorderster Front beteiligt und widmete sich ausführlichen Interviews mit einfachen Rotarmisten und Of­fizieren, die er detailliert in seinem Tagebuch festhielt. Später beschrieb er Stalingrad als Kul­minations­punkt der Freiheitshoffnung der sowjetischen Menschen. Es ging ihm um die »gna­denlose Wahr­heit des Krieges«, wie er selbst einmal schrieb. Fehlentscheidungen der sowjetischen Führung hielt er ebenso fest wie Übergriffe von sowjetischen Soldaten bei der Befreiung zunächst der Sowjetunion und später Deutsch­lands.

Die Offensiven der Roten Armee Richtung Westen erfüllten ihn mit großer Freude. Er beschreibt die Freude der Bevölkerung über das Ende der deutschen Herrschaft und wurde immer wieder mit unfassbaren Gräueln konfrontiert. Seiner Frau schrieb er:

»Liebe Ljussja, gerade bin ich am heutigen Zielort angekommen. Gestern war ich noch in Kiew. Ich kann kaum ausdrücken, was ich in den Stunden empfunden und gelitten habe, da ich die Adressen von Bekannten und Verwandten aufsuchte. Hier sind nur Gräber und Tod.«

Höhepunkt des Grauens war für ihn aber sicherlich die Befreiung von Treblinka. Sein erschütternder Bericht »Die Hölle von Treblinka«, im Jahre 1944 verfasst, wurde als Dokument in den Nürnberger Prozessen verlesen.

Seine Berichte über die Vernichtung der Juden in der Sowjetunion konnte er größtenteils nicht mehr in der Zeitschrift Roter Stern veröffentlichen. Stalin untersagte die Hervorhebung einzelner Opfergruppen wie z.B. der Juden. Es sollte nur von Sowjetmenschen gesprochen wer­den. Die Kollaboration vieler Ukrainer mit den Deutschen wurde ebenfalls verschwiegen. Zunächst konnte Grossman seine Berichte noch in dem Organ des Jüdischen Antifaschistischen Komitees veröffentlichen. Nach Ende des Kriegs waren sie, ebenso wie das mit Ilja Ehrenburg verfasste »Schwarzbuch« über die Vernichtung der Juden, in der Sowjetunion unerwünscht. Stalins Kampagne gegen den Kosmopolitismus fielen auch die Werke Grossmans zum Opfer.

Die Aufzeichnungen des Schriftstellers enden im brennenden Berlin. Von hier stammen seine letzten Frontberichte. Detailliert beschreibt er die Empfindungen der Rotarmisten und der Zivilbevölkerung.

Das Buch von Beevor ist ausdrücklich zu loben, zeigt es doch endlich einen ungeschönten Blick auf den Krieg von russischer Seite. Beim Lesen wird deutlich, wie überfrachtet die deutschen Medien mit den »Leiden deutscher Landser« sind. Die Lektüre öffnet endlich wieder den Blick auf die von den Deutschen besetzten Länder.

Antony Beevor: Ein Schriftsteller im Krieg. Wassili Grossman und die Rote Armee 1941-1945. C. Bertelsmann Verlag, München 2007, 480 S., 24,95 Euro