Niemand will die Ökoballen

Um die Müllberge in Neapel und Umgebung zu beseitigen, hat die Regierung einen Son­derkommissar eingesetzt, dessen erste Vor­schläge heftige Proteste hervorgerufen haben. Sind die Müllberge seitdem kleiner ge­worden? Was halten die Einwohner von der Müllkrise und den Maßnahmen, die sie beenden sollen? von catrin dingler

Neapels Müllkrise ist nicht zu Ende. Doch längst bestimmen wieder andere Themen die Schlagzeilen. Der »Notstand« als Normalzustand ist keinen Aufmacher wert, und die Bilder von meterhohen Abfallbergen sind schlecht für das Image. »Wir sind nicht Neapel«, verspricht eine Werbekampagne des norditalienischen Tourismusverbands, um verunsicherte Adriaurlauber zu beruhigen. Dabei stehen am Bahnhof in Neapel die Mülltonnen ebenso ordentlich aufgereiht und frisch geleert wie an der Uferpromenade des Gardasees. Auch zwei Metrostationen weiter, in Mon­tesanto, einem der typischen Altstadtviertel mit engen und steilen Gassen, liegt nirgendwo Abfall. »Aus den kleinen Vierteln in Hanglage haben sie den Müll immer rausgebracht«, erklärt Marta. »Nur auf den größeren Plätzen sammelt sich immer wieder der Abfall. Doch seit der Sonderkommissar Gianni De Gennaro im Amt ist, versuchen sie, die Innenstadt sauber zu halten.« »Der heilige Gennaro beschützt uns«, scherzt Ciro in Anspielung auf den gleichnamigen Schutz­patron der Neapolitaner.

Erst vor kurzem bat Kardinal Crescenzio Sepe den heiligen Januarius wegen der Müllkrise um Beistand. Dafür waren die Reliquien des Märtyrers, zwei angeblich mit Blut gefüllte Ampullen, in einem Prozessionszug durch den Dom getragen worden. Doch das Wunder blieb aus: Das Blut des heiligen Gennaro verflüssigte sich nicht, und die Abfallplage dauert an. Jetzt bleibt den Neapoli­tanern tatsächlich nur die profane Hoffnung, dass der irdische De Gennaro für Ordnung zu sor­gen vermag.

Der Plan, den der ehemalige Polizeichef vorgelegt hat, ist jedoch nicht sehr vielversprechend. Er sieht vor, dass drei bereits stillgelegte Mülldeponien »kurzfristig« wieder geöffnet und »vorübergehend« drei neue Zwischenlager für ungetrennt zusammengepresste Müllpakete eingerich­tet werden. Um die Entsorgung dieser euphemistisch als »Ökoballen« bezeichneten Abfallpakete zu garantieren, soll die Müllverbrennungsanlage in Acerra endlich fertiggestellt und mit dem Bau von zwei weiteren Verbrennungsanlagen begonnen werden.

In allen von diesem Plan betroffenen Kommunen bildeten sich jedoch umgehend »Bürger­komitees«, die die ausgewählten Gelände besetzten. Bisher konnten die Blockaden nur deshalb ohne größere Ausschreitungen beendet werden, weil De Gennaro zugestand, die von ihm bestimm­ten Standorte noch einmal von unabhängigen Gutachtern auf ihre Eignung zur Mülllagerung überprüfen zu lassen. Die Proteste können zu jeder Zeit und an jedem Ort neu beginnen. Un­wahr­scheinlich ist, dass der Sonderkommissar den »Notstand« in den von der Regierung angesetzen 120 Tagen zu lösen vermag.

»Je nach Wetterlage ist der Gestank unerträglich, aber ich bin trotzdem froh, dass sich der Müll in den Straßen türmt«, sagt Marta. »Nur so wird endlich das Ausmaß der Misere bekannt.« Ciros Mobiltelefon klingelt. Ein Freund bittet ihn, ein französisches Fernsehteam in einen der nördlichen Vororte zu begleiten. »Für uns ist der Müll Gold wert«, witzelt er. Dieser dem Camorra-Boss Nunzio Perrella zugeschriebene Satz wurde von einem gegen die organisierte Kriminalität ermittelnden Staatsanwalt in einem Zeitungsinterview zitiert und wird seitdem vor allem von jenen wie­derholt, die für die Müllkrise allein die Camorra verantwortlich machen wollen. Tatsächlich aber verdienen viele am Geschäft mit dem Müll: derzeit sogar die eigenen Freunde, indem sie für Orts­fremde eine Grand Tour des Abfalls organisieren.

Seit dem 17. Jahrhundert gehörten die phlegräischen (brennenden) Felder nordwestlich von Neapel ihrer antiken Ruinen und spektakulären Naturerscheinungen wegen zu jeder Italien-Rund­fahrt. Heutzutage erinnern nur noch die Namen der Bahnstationen an die sagenumwobene Vergangenheit. Die Bahnlinie Cumana führt an der Küste entlang, durch schäbige, von der Müllkrise besonders betroffene Vororte. Wir steigen in Pozzuoli aus. Von der Bahnstation führt die Straße bergab zur Uferpromenade. Man kann das Meer sehen, aber man riecht es nicht. Vielmehr stinkt es nach Müll, ohne dass irgendwo Abfallberge zu sehen wären. Im trüben Licht des frühen Nachmittags wirkt das unheimlich.

Entlang der Küste reihen sich Fischgeschäfte und Straßencafés. Es sind keine Spaziergänger un­terwegs, gelangweilt wischt eine Frau die Sitzmöbel vor ihrer Bar trocken. Wir fragen sie nach dem Verbleib der Müllberge, so als sei uns etwas Kostbares abhanden gekommen. Die Frau blickt auf und stellt erstaunt fest, dass die Küstenstraße gereinigt ist. »Ist mir noch gar nicht aufgefallen. Gestern waren noch mindestens sieben Park­plätze mit Abfällen zugeschüttet. Ich hatte mich schon an den Anblick gewöhnt.« Dann aber fügt sie energisch hinzu: »Zuletzt haben wir die Straße blockiert, dann ging Richtung Neapel für ein paar Stunden nichts mehr, hat wohl gewirkt. Wer weiß, wie lange.«

Sie schickt uns stadtauswärts, vermutet, die Müllberge seien nur bis zum Ortsausgang gefahren worden. Seitens des Sonderkommissars gibt es keine genauen Angaben, wohin der abgetragene Müll gebracht wird. Da nur ein Bruchteil des fortzuschaffenden Mülls mit Zügen nach Deutsch­land exportiert werden kann, die meisten von De Gennaro bestimmten Deponien aber noch nicht wieder in Betrieb genommen werden konn­ten, halten sich hartnäckig die Gerüchte, der Müll werde aus der Stadt in die umliegenden Provinzen gefahren und dort unkontrolliert abgekippt.

In einer Bar am Hafen, wo man den Gestank der abgetragenen Müllberge nicht mehr wahrnimmt, esse ich ein Brötchen mit dem für die Gegend berühmten Büffelmozzarella. Auf der Theke liegt eine Regionalzeitung aus. Ein Experte aus dem Gesundheitsministerium versichert in großen Lettern, dass Mozzarella »absolut sicher« sei. Obwohl die Büffelherden neben offenen Müllhalden und auf stillgelegtem Deponiegelände der casertanischen Provinz grasen? Zweifel sind wohl angebracht, aber niemand will sich den Appetit verderben lassen.

Mit der Eisenbahnlinie Circumflegrea, die durch die nördlichen Viertel der phlegräischen Felder führt, fahren wir weiter nach Pianura. Dort konzentrierte sich Anfang des Jahres der Protest, nach­dem bekannt geworden war, dass die alte, vor mehr als zehn Jahren stillgelegte Mülldeponie wieder geöffnet werden sollte. Tagelang besetzte die Bevölkerung nicht nur den Eingang zur Müllhalde, sondern legte den gesamten Nahverkehr lahm und blockierte alle Zufahrtsstraßen. Nur die Anwohner konnten die Absperrungen passieren. Seit ein paar Tagen fährt die Circumflegrea wieder mit der ihr eigenen Unzuverlässigkeit.

Bei der Ankunft in Pianura verstört zunächst das offensichtlich neue, blitzsaubere, neonbeleuchtete Bahnhofsgebäude. Erst hinter den auto­matischen Glastüren zeigt sich die erwartete Öde: eine Ansammlung von Hochhäusern zwischen breiten Asphaltstraßen. Ein Ortskern ist nicht auszumachen, dafür gibt es überall Spuren des Protests. Der Asphalt ist schwarz verbrannt, die Müllcontainer sind angebrannt, viele liegen umgeworfen am Straßenrand, daneben wachsen neue Müllberge. Die Straßen sind nach Künstlern benannt. Deshalb drängt sich der Witz auf, die Neapolitaner sollten versuchen, die Müllansammlungen als Abfallkunst zu verkaufen.

Es fängt an zu regnen, der Wind wird kälter. Wir fragen einen jungen Mann, wie weit es bis zur Mülldeponie ist und ob man wohl zu Fuß dorthin gehen kann. »Während der Demonstra­tionen sind wir die Strecke mehrmals täglich zu Fuß gegangen«, antwortet er lapidar. Der Protest scheint ihm so selbstverständlich wie die samstagnachmittägliche Fußballpartie mit den Freunden.

Während ich vor einem großen weißen Lei­nen­tuch stehen bleibe, auf dem mit Filzstift die Namen derer aufgeschrieben stehen, die an Krebsgeschwüren und Tumorerkrankungen verstorben sind, deuten auf der gegenüberliegenden Straßen­seite zwei unsympathische Typen fies lachend auf ein Graffito, das Rosa Russo Iervolino, die Bürgermeisterin Neapels, in sexistischer Weise beleidigt. Gezeichnet: Pianura Bronx. Am Schriftzug lässt sich erkennen, dass dieser Spruch von Rechten kommt.

Für die Radikalisierung des Protests in Pianura wurden rasch Jugendliche aus dem Milieu der Ultras und der extremen Rechten verantwortlich gemacht. Antonio, einer der Protagonisten der linksradikalen Bewegung Sud Ribelle, war von Anfang an bei den lokalen Protesten dabei. Er ist sich sicher, dass der Protest hauptsächlich von Anwohnern Pia­nu­ras getragen wird, die einfach keine Mülldeponie mehr wollen. »Wenn dazwischen auch andere Subjekte versuchen, ihr Ding zu machen, ist das noch lange kein Grund für Linke, sich zurückzuziehen. Im Gegenteil. Es ist doch lächerlich zu glauben, man könnte in einem sterilen Raum agieren. Wer das denkt, muss die Region wechseln.«

Aus demselben Grund ist der häufig geäußerte Verdacht, die Camorra würde die Proteste steu­ern, ebenso plausibel wie banal. Das neapolitanische Hinterland wird von den Clans des orga­­nisierten Verbrechens kontrolliert. »Kleine Ein­schuss­löcher gibt es jede Menge auf sämtlichen Ortstafeln hier entlang der Landstraße, als ob da­rauf hingewiesen würde, dass man in dieser Gegend auf der Hut sein muss, weil es ein Gebiet ist, das kontrolliert wird.« Mit diesen Sätzen skizziert Nanni Balestrini in seiner Camorra-Geschich­te »Sandokan« die Atmosphäre in der neapoli­tanischen Provinz. Tatsächlich gehörte das Gelän­de in Ariano Irpino, auf dem eine der von De Gen­naro vorgesehenen Deponien eingerichtet werden soll, dem Camorra-Boss Francesco Schiavone, genannt Sandokan. Es wurde erst nach seiner Verhaftung Ende der neunziger Jahre vom italienischen Staat konfisziert.

Mit dem Verweis auf die »diffuse Illegalität« in Neapel und den umliegenden Provinzen lässt sich der Protest aus der Bevölkerung nicht diskre­ditieren. Im Gegenteil, nicht zuletzt die »diffuse Notstandspolitik« der Regierung hat dazu beigetragen, dass die Verwaltungen der Deponien mit Hilfe korrupter Politiker von den Clans der Camor­ra kontrolliert werden konnten. Das belegen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft.

Der Protest in Pianura hatte einstweilen Erfolg. Nach weiteren geologischen und toxikologischen Untersuchungen wurde die alte Deponie nun doch endgültig geschlossen. Das Gelände ist abgesperrt, die von den Anwohnern aufgestellten Mahnwachen sind verschwunden. Außerdem sollen in einem von der regionalen Gesundheitsbehörde finanzierten Projekt die gesundheitlichen Auswirkungen der jahrelangen Belastung durch die Deponie nun erstmals offiziell untersucht werden.

Trotz dieses Erfolgs für das Bürgerkomitee bleibt Antonio kritisch: »Natürlich ist der Protest in Pianura und den anderen Ortschaften extrem ambivalent.« Zwar hätten sich die einzelnen Gruppen im »Netz Kampaniens für Umwelt und Gesundheit« zusammengefunden, doch bleibe der Widerstand weiterhin stark an das jeweils betroffene Territorium gebunden. Es sei da­gegen wichtig, den Protest nicht auf eine lokale Auseinandersetzung zu reduzieren, sondern die Diskussion um die Müllmisere Kampaniens in ­einen größeren Kontext zu stellen.

Am frühen Abend bietet sich die Gelegenheit. Paul Connet, Professor für Umweltchemie und Toxikologie an der Saint-Lawrence-Universität von Canton, New York, ist auf Einladung des neapolitanischen Ablegers der von ihm gegründeten Bewegung »Null Müll« für drei Tage in der Region unterwegs. Auf einer Pressekonferenz auf der Piazza del Gesù spricht er zusammen mit Joan Marc Simon, dem Brüsseler Referenten der Global Alliance Incinerator Alternatives (Gaia), über die Risiken der Müllverbrennung, insbesondere über die Schwierigkeiten, die dioxin- und bleihaltigen Verbrennungsrückstände loszuwerden.

Ebenso hartnäckig wie die Simplifizierung, die Camorra sei für die Müllkrise verantwortlich, hält sich die Auffassung, durch eine Müllverbrennungsanlage könne die Müllmisere Kampaniens ein für allemal gelöst werden. Zeitweise wurde deshalb der grüne Umweltminister Alfonso Pe­co­raro Scanio, dessen Partei sich seit Jahren gegen den Bau von Müllverbrennungsanlagen enga­giert, für das Desaster in Neapel verantwortlich gemacht. Doch nicht nur wegen der nachgewiesenen gesundheitlichen Risiken für die Anwohner wächst in der Region der Widerstand gegen die nahezu fertiggestellte Verbrennungsanlage in Acerra. Deren skandalträchtige zehnjährige Bau­geschichte hat deutlich werden lassen, dass das System der Müllverbrennung von einer politisch-ökonomischen Lobby gefördert wird, während die Einführung umweltverträglicherer Methoden der Abfallentsorgung seit Jahren verhindert wird.

Das Vorhaben, neue Verbrennungsanlagen zu bauen, hält Connet für anachronistisch. Die Herausforderungen, denen sich die Abfallindustrie zu stellen habe, seien längst andere. Er vergleicht Neapel nach Einwohnerzahl und urbaner Struktur mit San Francisco und schlägt vor, das in Kalifornien experimentell erprobte Programm auch in Kampanien zu starten. Dank einer großangelegten Kampagne würden in San Francisco mehr als 60 Prozent des Stadtmülls getrennt, Ziel sei es, bis 2020 das Recycling-System so zu verfeinern, dass tatsächlich »null Müll« übrig bleibe. Das Projekt klingt in einer Stadt, in der immer noch weniger als zehn Prozent des Mülls getrennt gesammelt werden und entsprechende Container im Stadtbild kaum auffallen, wie eine Phantasie aus Hollywoods Traumfabrik.

Doch die Stimmung im Saal ist eindeutig: De Gennaros Plan funktioniert nicht, die Notstandspolitik bezüglich der kampanischen Müllmisere ist gescheitert. Die Diskussion darüber, ob Con­nets Projekt sich auch in Neapel verwirklichen lässt, dauert noch an, als ich aufbrechen muss, um den letzten Zug nicht zu verpassen. »Du fährst zurück nach Rom?« fragt Lorenzo. »Dann nimm doch bitte schon mal ein bisschen Müll mit.«