»Die Juden greifen uns an«

... verbreitet Radio Mariya in Polen. Antisemitismus im Nachkriegspolen ist das Thema eines neu erschienenen Buchs. Der Autor hat damit erneut eine erregte Debatte in dem Land ausgelöst. von karolina wigura, warschau

Die polnische Debatte um das Buch »Angst« von Jan Tomasz Gross begann mit einem Skandal. Gleich am ersten Tag des Erscheinens in Polen, am 11. Januar, gab die Staatsanwaltschaft bekannt, es werde geprüft, ob Gross das polnische Volk beleidigt und falsche Beschuldigungen gegen Polen erhoben habe. Der Vorsitzende der polnischen Staatsanwaltschaft musste allerdings schnell zugeben, dass es für eine solche Anklage keine Grundlage gibt. Dann goss der Krakauer Kardinal Stanislaw Dziwisz, einer der einflussreichsten Priester Polens, Öl ins Feuer. Er kritisierte sowohl das Buch als auch »Znak«, einen alteingesessenen und geschätzten katholischen Verlag, der das Buch herausgegeben hat. »Die Juden greifen uns an! Wir müssen uns verteidigen!«, hieß es dann Mitte Februar von Radio Maryja.

In dem Buch von Gross, einem polnischstämmige US-Historiker, der bereits mit seinem Buch über das antisemitische Pogrom in Jedwabne für Wirbel in Polen sorgte, geht es um Antisemitismus im Nachkriegspolen. Seine Grundthese ist, dass dieser noch verheerender als vor dem Krieg und der Shoah gewesen sei. Er belegt dies ausführ­lich mit einer sehr großen Zahl von Zitaten von Holocaust-Überlebenden. Detailreich beschreibt Gross vor allem das Pogrom in der Stadt Kielce, bei dem im Juli 1946 etwa 40 Juden ermordet wurden.

So war das Interesse der polnischen Leser an dem Buch groß. Der Znak-Verlag gab bekannt, dass bisher mehr als 70 000 Exemplare von dem Buch verkauft wurden. Und die Nachfrage ist immer noch da, bis Ende des Jahres sollen etwa 200 000 Exemplare verkauft werden. Die Diskussion über das Buch wird in einigen Medien, aber vor allem im Rahmen von unzähligen öffentlichen Veranstaltungen an den Universitäten unvermindert intensiv geführt. Gerade beginnt in der Polnischen Akademie der Wissenschaften eine öffentliche Debatte. Das Interesse an den Veranstaltungen ist riesig: Tausende Besucher kommen zu den Veranstaltungen.

Trotz ihrer Intensität ist diese Debatte anders als die im Jahr 2001, als »Nachbarn« von Gross erschien. In dem Buch ging es um die Ermordung der jüdischen Bewohner der Stadt Jedwabne am 10. Juli 1941 durch ihre polnischen Nachbarn. Der Mord war kein völliges Geheimnis gewesen. In den Archiven gab es Akten über die Prozesse, die gegen die Täter eingeleiten worden waren. Die antisemitische Tat war dennoch kein Thema in der Forschung oder der Literatur und – was war weit wichtiger war – im gesellschaftlichen Be­wusst­sein nicht vorhanden.

Die Veröffentlichung rief 2001 eine der größten nationalen Debatten nach 1989 hervor, die für immer die polnische Einstellung zur Geschichte verändern sollte. Zum ersten Mal revidierten viele Polen ihre traditionelle Vorstellung der Geschichte von den Polen als Helden und Opfer. Die Darstellung der Polen als Täter war etwas völlig Neues. (Jungle World 30/01) Dies bedeutete einen Schock für die Gesellschaft, aber einen heilsamen. Die Debatte über »Nachbarn« war so lang und dramatisch, dass sie »National­exerzitien« genannt wurde.

Die heutige Situation ist anders, und das aus zweierlei Gründen. Die Fakten, dass es einen polnischen Nachkriegs-Antisemitismus gegeben hat und ein antisemitisches Pogrom in Kielce, sind nichts Neues für die Gesellschaft. Beides ist bereits ausführlich behandelt und erforscht worden. Ob diese Tatsachen allerdings wirklich bis ins Bewusstsein der Bevölkerung gedrungen sind, ist eine andere Frage. Die 70 000 verkauften Bücher könnten ein Zeichen dafür sein, dass der Bedarf an Informationen zu diesem grundlegenden Thema polnischer Gesellschaftswahrnehmung noch nicht gedeckt ist.

Zugleich sind es diesmal nicht die Medien, die die öffentliche Debatte bestimmen. Viele Zeitungen sind anscheinend nicht bereit, eine erneute Debatte um Antisemitismus in Polen zu führen und neue schwierige Fragen zu beantworten. Neueste Meinungsumfragen in Polen zeigen, dass immer mehr Menschen zufrieden mit ihrem Leben sind. Vielleicht scheuen sich Zeitungen deshalb, dieses unangenehme Thema anzusprechen. In Rzeczpospolita wird etwa der Standpunkt vertreten, dass es nichts zu diskutieren gebe, weil das Buch vom methodischen Standpunkt her völlig unakzeptabel sei. Damit endete die Debatte in dieser Zeitung.

Mehr interessante Artikel konnte man in der rechtskonservativen Tageszeitung Dziennik und in der linksliberalen Tageszeitung Gazeta Wyborcza finden. In Dziennik bemühte man sich zumindest darum, neue Ansätze zu finden, anstatt dieselben Fragen wie vor sechs Jahren zu diskutieren. Chefredakteur Robert Krasowski schrieb dazu: »Das Buch von Gross ist nicht großer Diskussionen wert. Polnischer Antisemitismus ist kein moralisches Problem, aber es ist ein politisches. (…) Bei der Frage um polnischen Antisemitismus geht es um die Frage nach dem Zustand der Demokratie in Polen.« Ein interessanter Ansatz, aber damit endete die Debatte in Dziennik auch schon wieder.

Nur Gazeta Wyborcza publizierte zahlreiche Diskussionen und Texte verschiedener Autoren, die die Frage des polnischen Antisemitismus zu beantworten suchten. »Noch schlimmer als der polnische Antisemitismus war das Banditentum nach dem Krieg«, schrieb etwa Marek Edelman, der letzte noch lebende Kommandant des Aufstands im Warschauer Ghetto. Die Gründe für das Pogrom und die Aggressionen gegen Juden seien die Verarmung der polnischen Gesellschaft und die Vernichtung der polnischen Intelligenz gewesen, behauptete Marcin Zareba, ein Historiker der jüngeren Generation. Mehrere Autoren stellten auch die Frage, ob sich die polnische Gesellschaft beim deutschen Nationalsozialismus angesteckt habe.

Die erneute Auseinandersetzung ist auch deshalb wichtig, weil während der Zeit des Realsozialismus die Kritik des Antisemitismus kein Thema war und die Erinnerung an die Shoah keine Rolle spielte. In den neunzigen Jahren gab es hingegen ein großes Interesse an »jüdischen Themen«: Die Bücher von Isaac Bashevis Singer wurden Beststeller, wissenschaftliche Konferenzen und Dokumentarfilme über die polnischen Juden entstanden ebenso wie neue Denkmäler der Judenvernichtung.

Aber offensichtlich braucht es noch mehr, um gesellschaftliche Bewusstseinsveränderungen hervorzurufen. In den Meinungsumfragen, die in Polen nach 1989 durchgeführt wurden, behaupteten immer wieder fast 90 Prozent der Befragten, dass die Polen alles getan hätten, um die Juden zu retten. Fast 70 Prozent erklären, dass die Polen keinen Grund für Gewissensbisse hätten. Nur zehn Prozent gaben an, dass es Gründe dafür geben könnte, gleichzeitig befanden viele: »Die Polen litten genauso sehr wie die Juden oder mehr«. Gefragt nach dem heutigen Antisemitismus, antworten viele Polen gerne: »Antisemitismus ist in Polen nicht gesellschaftsfähig, sehen Sie, die Synagogen in Frankreich brennen, in Polen ist das undenkbar!« Fraglich ist, ob diese Rechtfertigung ausreichend ist.

Deshalb müssen Fragen wie »Was bedeutet Antisemitismus in Polen heute?«, oder »Ist der Antisemitismus in Polen gefährlich?«, beantwortet werden. Die gesamte Gesellschaft – nicht nur die Intellektuellen – muss sich von der bequemen Überzeugung befreien, dass sie nicht nur Opfer, sondern auch Täter war.