Lang lebe Zuckerman!

Philip Roth schreibt mit »Exit Ghost« das Leben seiner Figur Nathan Zuckerman weiter und weiter und weiter. Und, als ob wir’s nicht schon geahnt hätten: Das Leben des US-amerikanischen Schriftstellers gleicht auf beängstigende Weise der Handlung seiner Romane. Von stefan rudnick

Fiktion heißt nicht Fiktion, weil sie ­Er­eignisse erfindet, sondern weil sie Bewusstsein erfindet«, sagt Philip Roth. Doch wie erfindet man eigentlich ein Bewusstsein? Glaubt Philip Roth vielleicht, dass er damit alles zu der leidigen Frage gesagt hat, die ihm immer wieder gestellt wird und die ein Schriftsteller nicht gerne beantwortet: Wie viel Autobiographie steckt in Ihren Romanen? Erzählt er via Nathan Zuckerman, dem langjährigen Protagonisten vieler seiner Romane, die Geschichte seines Lebens? Sicher tut er das. Schließlich könne man sehr viel wahrheitsgetreuer sein, wenn man Fiktion schreibt, wie die Romanfigur Nathan Zuckerman der Romanfigur Philip Roth (!) in »Tatsachen« (1988) erklärt. In diesem Buch nämlich begegnen sich die Figur und ihr Autor: Der fiktive Roth möchte, dass seine Biographie von Zuckerman verfasst wird.

Vermutlich will Philip Roth, dass ihm immer wieder die Frage nach dem autobiographischen Gehalt seiner Romane gestellt wird, um sie dann, wenn überhaupt, nur widerwillig zu beantworten. Denn wie in seinen Romanen, so will er auch in Interviews nie ganz den Eindruck zerstreuen, er sei das Alter Ego Nathan Zuckermans und schreibe in seinen Büchern über sich selbst.

Tatsächlich ist Zuckerman wie Roth 1933 in Newark, New Jersey, geboren, ein in gutbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsener amerikanischer Jude und Schriftsteller. Sein erster Roman »Carnovsky« ist ein Welterfolg, der jedoch von den Kritikern verrissen wird. Nicht anders erging es Roth selbst mit seinem ersten Erfolgs­roman »Portnoys Beschwerden« (1974): Er sei ein Sexist und Antisemit, lauteten die Vorwürfe, die Roth schwer getroffen haben. Im Roman »Die Anatomiestunde« (1983) dient ihm der Lite­raturkritiker Irving Howe, der Philip Roth, wie dieser es nennt, einmal »in einem Artikel demo­liert« hat, als Vorbild für die Figur des Journalisten Milton Appel, der wiederum mit seinen Artikeln dem Schriftsteller Nathan Zuckerman schwer zusetzt.

Unstrittig hat Roth die Figur Zuckerman erfunden, um seinen eigenen Ruhm und dessen Begleiterscheinungen zu verarbeiten. In neun Romanen ist sie bislang aufgetreten, erstmalig in »Der Ghost Writer« (1979), der, bevor er erschien, in vollständiger Länge im New Yorker ab­gedruckt wurde. Zuletzt konnte der Leser ihr in »Der menschliche Makel« (2000) begegnen.

Nun, fast 30 Jahre nach seinem ersten Auftritt, rückt Nathan Zuckerman wieder ins Rampenlicht. Roths Lieblingscharakter darf sich in »Exit Ghost« erneut auf die Suche nach seiner Iden­tität machen. Aber lässt Roth ihn jetzt wirklich verschwinden, ist es der letzte Zuckerman-­Roman, wie er in Interviews immer wieder be­haup­tet und wie der Titel nahelegt? Schließlich wirft er den schwer gealterten Zuckerman noch einmal ins Getümmel des Daseins. Eigentlich führt dieser ein gemächliches Leben in den hügeligen Berkshires 200 Kilometer nördlich von New York. Nach Jahren der Abgeschiedenheit begibt er sich nach Manhattan zu einem Urologen. Das wird notwendig, weil er seit einer Prostataoperation inkontinent ist (in einem früheren Roman, »Amerikanisches Idyll« von 1998, be­kommt er Krebs). Bei dem Arzt, den er aufsucht, soll es sich um einen Spezialisten handeln, der bei »etwa fünfzig Prozent seiner Patienten eine signifikante Besserung des Zustandes erreichte«, indem er ihnen »einen Katheter in die Harnröhre einführt und am Blasenmund Kollagen injiziert«. Das dürfte alles über den Zustand sagen, in dem sich Zuckerman im Alter von 71 Jahren befindet. Zufällig begegnet er Amy Bellette wieder, die er in »Der Ghost Writer« als 27-jährige im Haus seines großen Schriftstelleridols E. I. Lonoff kennen gelernt hat, dessen Geliebte sie ist. Lonoff ist inzwischen verstorben.

Mit ihm schuf Roth einen zynischen Charakter, der Zuckermans Alterszynismus, wie er sich in »Exit Ghost« zeigt, vorwegnimmt. Ein junger, ambitionierter Schriftsteller namens Kliman beabsichtigt, eine Biographie über Lonoff zu schreiben.

Amys Leben wurde von Lonoff stark beeinflusst. Es scheint, als existiere sein Geist nach seinem Tod in ihr weiter. So stellt sich auch Zuckerman die Welt nach seinem Abgang vor: Am Ende bleibt eine Frau, um sein Erbe zu verteidigen, um den Kampf fortzuführen, von dem er weiß, dass er ihn nie gewinnen wird. Dahinter stecke Roths Unwille, Frauen ein eigenes Leben zuzugestehen, schreibt Ruth Klüger in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Literaturen. Und in der Tat hat man es bei seinen weiblichen Figuren meist mit »unsympathischen Fanatikerinnen, Opfern oder blöden Weibern« zu tun, worin Klüger einen »ressentimentgeladenen Antifeminismus« zu erkennen meint. Amy ist da nicht anders. Dass Roth seiner Frauenfigur über­dies eine Vergangenheit als Nazi-Verfolgte andichtet, nennt Klüger, Überlebende der Shoah, ein »Stück Holocaust-Kitsch«, das sie von dem Schriftsteller nicht erwartet habe.

Die Begegnung zwischen Amy und Zuckerman, der vom Urologen kommt und sie nach Jahrzehnten erstmals wiedersieht, wirkt hochgradig konstruiert. Dem Leser drängt sich der Eindruck auf, Roth habe die Szene in seine Romanhandlung nur eingefügt, um auf Biegen und Brechen einen Zusammenhang zum Geschehen und zum Personal von »Der Ghost Writer« herzustellen.

Es folgt ein weiteres konstruiertes Ereignis, das die weitere Entwicklung vorbereiten soll: Zuckerman stößt auf eine Anzeige in einem Magazin, in der das junge Schriftstellerpärchen Jamie und Billy aus Manhattan für einen Wohnungstausch jemanden sucht, der auf dem Land lebt. Doch dann entfaltet Roth seine ganze erzählerische Kunst. Zuckerman ist alt, er lebt jetzt das Leben, das Lonoff früher gelebt hat. Kliman hingegen ähnelt dem jungen und wissenshung­rigen Zuckerman aus »Der Ghost Writer«. Jamie, die wohnungstauschwillige, attraktive Toch­ter aus reichem texanischen Hause, wird dem alten und inkontinenten Zuckerman zum Objekt der Begierde, welche er mangels eigener At­traktivität auslebt, indem er einen fiktiven Dialog mit Jamie führt.

Mit Amy wiederum verbindet ihn der körper­liche Verfall, beide haben ihre erotische Anziehungskraft verloren. Darüber hinaus scheint sie der Hass auf Biographen und »Kulturjourna­listen« zu einen. Der Hass, der aus Amy spricht, ist der Lonoffs, führt sie doch das geistige Erbe ihres verstorbenen Liebhabers fort.

Ein Bewusstsein scheint Philip Roth somit schon früh in seinem Werk erfunden zu haben: das des gealterten Schriftstellers. Dessen Wirklichkeit malte er sich bereits damals für den nun gealterten Nathan Zuckerman aus. »Ich sah mich um und dachte: genau so werde ich auch leben«, sagt dieser sich, als er zum ersten Mal Lonoffs Haus betritt.

Roth lebt heute zurückgezogen auf dem Land, mehrere seiner Beziehungen und seine Ehe mit der Schauspielerin Claire Bloom sind gescheitert. Bloom, die 1984 die Rolle der Hope (Lonoffs Ehe­frau, die ihn wegen seiner Affäre mit Amy verlässt) in der Fernsehverfilmung von »Ghost Wri­ter« spielte, schrieb nach der Scheidung ihre Autobiographie »Auszug aus dem Puppenheim«, die als eine Abrechnung ihrer Ehe mit Philip Roth betrachtet werden muss. Der wiederum hat die Ehe in seinem Roman »Mein Mann, der Kommunist« (1999) verarbeitet. Sein Leben ist offenbar hochgradig verflochten mit der Handlung seiner Bücher, was nicht wenige zu der naheliegenden Behauptung verleitet hat, er ha­be »Auszug aus dem Puppenheim« selbst geschrieben.

Der Geist, der uns in »Exit Ghost« verlässt, ist nicht der Geist Zuckermans. Roth verabschie­det sich in seinem neuen Buch von der Vorstellung, dass er selbst und sein Protagonist ihre je­weiligen Kämpfe gewinnen könnten, den Kampf gegen die Öffentlichkeit, gegen den »Kulturjour­nalismus«, gegen »selbsternannte Biographen«, gegen alles, was die Öffentlichkeit einem Schrift­steller antun kann.

So lässt Roth den Schriftsteller Lonoff, Zucker­mans großes Vorbild, sagen: »Wir Menschen, die lesen und schreiben, sind am Ende – wir sind Geister, die das Ende des Zeitalters der Literatur erleben.« Denn alles, was der Schriftsteller tut, sei Täuschung und Lüge, sein »Interesse, die Wirklichkeit abzubilden, geht gegen null. Sei­ne Motive sind immer persönlicher und grundsätzlich niederer Natur.« So schreibt es Amy Bel­lette in einem Leserbrief sarkastisch an die so genannten Kulturjournalisten der New York Times.

Nathan Zuckermans Ende hat nicht das Ende der Romanreihe zur Folge. Denn je klarer es wird, dass ihm seine Befriedigung versagt wird, desto unendlicher werden die Möglichkeiten der literarischen Fortführung der Figur. Das ein­zige, was Philip Roth aufhalten kann, ist sein Tod. Und gegen den schreibt er fleißig an. Wer weiß, vielleicht hat er auch nach seinem Tod noch eine Überraschung parat. Hat doch auch Lonoff in »Exit Ghost« der Welt noch Dinge mitzuteilen, obwohl er längst dahingeschieden ist.

Philip Roth: Exit Ghost, Carl Hanser Verlag, München 2007, 296 Seiten, 19,90 Euro