Unsichtbar gemacht

Ankommen in Deutschland! Arbeiten in Deutschland? Was bedeutet es für Migrantinnen, in den deutschen Arbeitsmarkt »integriert« zu werden? Vier Frauen erzäh­len über ihre Erfahrungen bei der Job­suche in Berlin. von birgit schmidt

Seit dem 1. Januar 2005 gilt in Deutschland die so genannte Integrationsverordnung. Sie nimmt zugewanderte Ausländer und Ausländerinnen in die Pflicht und erwartet von ihnen, dass sie in einem vernünftig bemessenen Zeitraum die deut­sche Sprache erlernen. Am Ende eines dieser so genannten Integrationskurse steht eine Prüfung, woraufhin die Neuankömmlinge in ihren weiteren »Integrationsprozess« entlassen werden. Dass sie so schnell wie möglich selbst für ihren Lebens­­unterhalt aufkommen, gehört dazu. So sieht es die Bundesregierung, so sehen es aber auch die meisten Migrantinnen selbst, denn sie wollen ja so schnell wie möglich auf eigenen Füßen stehen.

Dieser Wunsch kollidiert jedoch mit der Rea­lität eines Landes, dessen Regierung sich nach wie vor gegen die Einführung eines gesetzlich garantierten Mindestlohns sperrt. Auch inländische Män­ner und Frauen unterliegen der härter werdenden Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, aber frisch Eingewanderte wissen noch nicht, wo­gegen man sich erfolgreich wehren kann und was man – scheinbar – hinnehmen muss. Oder unter Umständen auch hinnehmen will.

Nicki* ist ein Neuzugang, über den sowohl die Innenministerkonferenz als auch die Deutsche Rentenversicherungsanstalt Bund ins Schwärmen geraten müssten: Die Lateinamerikanerin ist jung, hat ihren Integrationskurs mit der Note eins bestanden und würde gerne, noch bevor sie ein Studium aufnimmt, gemeinsam mit ihrem deutschen Ehemann ein Kind bekommen. Der Bio­­loge hat aber vor einigen Monaten seinen Job an einer Universität verloren. »Wir haben das mit dem Baby auf unbestimmte Zeit verschoben. Und ich habe mir einen Job gesucht, irgendeinen, weil ich meinen Mann unterstützen möchte.«

Irgendein Job heißt: Nicki arbeitet seit einiger Zeit in einem Hotel. Sie ist ein so genanntes Zimmermädchen, wie erwachsene Frauen hier noch immer genannt werden, wo man die Emanzipation auf eine ganz eigene Art und Weise vorantreibt: Männer dürfen sich jetzt auch bewerben, um nach ihrer Einstellung Betten zu machen, Staub zu saugen und Haare aus der Dusche zu klauben. Dann heißen sie »Roomboys«.

»Was ich im Hotel verdiene, hängt davon ab, wie viele Zimmer ich mache«, erzählt Nicki. »Sie bezahlen mir 2,30 Euro pro Zimmer, ich muss mindestens elf Zimmer pro Tag machen, aber ich mache mehr. Mein Gehalt liegt ungefähr zwischen 600 und 700 Euro pro Monat.«

Xenia hätte das großartig gefunden. Als junge Ehe­frau kam sie 2001 aus Bulgarien nach Berlin und brachte ihren Sohn zur Welt. Nachdem sie sich von ihrem Mann getrennt hatte, brachte sie das Kind in einem Kindergarten unter und suchte nach einem Job. Auch sie hat in einem Hotel der gehobenen Kategorie gearbeitet: »Vier oder fünf Sterne! Das weiß ich aber nicht mehr so genau.« Was sie aber noch sehr genau weiß: »Ich habe für eine Reinigungsfirma gearbeitet«, denn das Hotel hat outgesourct. Die Frauen bekamen von der Firma eine Liste mit Regeln in die Hand gedrückt. Unter der Überschrift »Unterweisung für Neueinstel­lung« und inklusive Rechtschreib­fehlern hieß es darin: »Der Aufenthalt in der Hotelhalle ist ausschließlich aus dienstlichen Gründen gestattet. (…) Für die Gäste stehen 3 Lifte zur Verfügung. Die Mitarbeiter benutzen ausschließlich die Personalaufzüge. (…) Alle Mitarbeiter haben auf saube­res und gepflegtes Äußeres zu achten, das bedeutet: täglich ein sauberes Uniformkleid anziehen, lange Haare sind zusammen gebunden oder hoch gesteckt, Schmuck und Schminke wird auf ein weniges reduziert, Hautfarbene Feinstrumpfhosen oder weiße Söckchen (ohne bunten Rand) sind Pflicht, auf schwarze Leggins wird verzichtet. (…) Hoteleigene Wäsche Bett- und Frotteewäsche sind KEINE Putzlappen. Wenn Sie bei der Benutzung der Hotelwäsche für Putzzwecke erwischt werden, wird ein Bußgeld in Höhe von 25,00 Euro von Ihrem Lohn ein­behalten.«

Ob es legal ist, für ein als Lappen zweckentfremdetes Handtuch 25 Euro einzubehalten, ist eine interessante Frage, die Xenia aber damals nicht auf den Nägeln brannte, denn sie hatte andere Sorgen. Ihre Arbeitszeit begann morgens um acht Uhr: »Dann ging es weiter. Eigentlich ohne richtiges Ende, denn wenn sie nicht zufrieden wa­­ren, dann konnten sie einen auch nach 17 Uhr wieder hinaufschicken, damit man ein Zimmer nochmal macht. Wenn man noch Tropfen in einem Waschbecken sehen konnte zum Beispiel. Ich musste mein Kind vom Kindergarten abholen, aber die ließen mich nicht raus. Wir waren da wie Gefangene.«

Jeden Tag hat Xenia mindestens acht Stunden ge­­arbeitet. »Um zehn hatten wir eine Zigaret­ten­pause und mittags eine Stunde frei. Für ein nor­ma­­­les Zimmer mit zwei Betten gab es 1,80 Euro. Für ein Einbettzimmer 1,50. Und wenn das Zimmer ei­nen Whirlpool hatte, waren es zwei Euro. Man muss­te aufschreiben, welche Zimmer man ge­macht hatte. Eine Vorarbeiterin schrieb das auch auf. Und am Ende musste man ins Büro gehen und das vergleichen. Die Vorarbeiterin hat aber nicht alles aufgeschrieben. Es war furchtbar. Ich ha­be in einem Monat mehrere Kilo abgenom­men.« Knapp einen Monat hat Xenia es dort ausgehalten. »Dann konnte ich nicht mehr. Ich war vollkommen fertig, richtig krank.« Insgesamt ha­be sie nicht einmal 300 Euro verdient. »Es gab aber Frauen im Hotel, die für eine andere Putzfirma gearbeitet haben«, erzählt sie weiter. Das bedeutet, dass die Bedingungen für die Frauen, die im selben Hotel dieselbe Arbeit tun, genauso dif­fe­­rieren können wie die Bezahlung. Letztgenannte aber nur geringfügig, denn wie die Putzfirmen auch immer heißen mögen, sie kalkulieren immer mit dem absoluten Minimum. Mit dem, was eine Frau gerade noch so akzeptiert in einer Notlage. Und zwar für einige Wochen oder Monate, be­vor sie entnervt aufgibt und sich eine andere Arbeit sucht.

Nach weiteren Versuchen fand Xenia einen Job als Bäckereiverkäuferin. Doch egal, wie viele Stun­den am Tag sie Brötchen aus dem Ofen holte, Kuchen über die Ladentheke schob und Sandwiches machte, sie kam über 400 Euro nicht hinaus. Beschweren konnte sie sich nicht, denn schließlich war die Stelle von vornherein als 400-Euro-Job ausgeschrieben gewesen.

Brötchen zu verkaufen, putzen zu gehen oder Betten zu machen, haben längst aufgehört, Mög­lich­keiten zu sein, mit denen Frauen sich hierzulande ihren Lebensunterhalt verdienen oder auch mal schlechte Tage überbrücken können. Für Migrantinnen hat dieser Umstand insbesondere dann dramatische Auswirkungen, wenn die Ausländer­behörde den Nachweis einer sozialversicherten Tätigkeit verlangt.

Melek war ein Fall für die Berliner Härtefall­kom­mission, denn zurückschicken in die Türkei kann man die junge Frau mit ihrem kleinen Kind nicht. Ihr Vater hat dort glaubhaft mit ihrer Ermordung gedroht, weil sie vor den Schlägen ihres Man­nes, mit dem sie in Berlin zusammenlebte, in ein Frau­enhaus geflüchtet ist. Neun Jahre lang lebte sie ein­gesperrt in einer Wohnung in Spandau. Da ihr Mann sie nicht polizeilich an­gemeldet hatte, kann sie nicht beweisen, wie lange sie schon in Deutsch­land lebt, und auch kein eigenständiges Aufenthaltsrecht erhalten. Das macht Melek abhängig vom Wohlwollen einer Behörde, die erwar­tet, dass sie finanziell so schnell wie möglich auf eigenen Füßen steht.

»Ich habe verzweifelt nach einer Arbeit gesucht«, erzählt sie, »denn das ist die Voraussetzung dafür, dass mein Aufenthalt verlängert wird, das haben sie mir auf der Ausländerbehörde gesagt. Und das einzige, was ich gefunden habe, ist ein Job in einem Hotel.« Aber da sie jeden Tag ihr Kind abholen muss, kann sie nicht so lange arbeiten wie die anderen Frauen. »Die ar­beiten auch an Wochenenden und an Feiertagen. Das kann ich aber nicht, weil der Kindergarten dann geschlossen ist. Die anderen verdienen so zwischen 600 und 700 Euro im Monat. Bei mir reicht es für nichts.« Pro Zimmer bekommt sie drei Euro brutto. »Das sind dann im Monat zwischen 300 und 400 Euro. Damit komme ich hier auch nicht raus.«

Mit »hier« meint Melek das Frauenhaus, in dem sie nicht für immer bleiben kann und will, »aber wie soll ich eine eigene Wohnung bezahlen?« Sie kämpfte im vergangenen Herbst immer noch darum, den Job im Hotel mit ihren Verpflich­tungen als Mutter zu vereinbaren. Nicht nur, weil sie der Ausländerbehörde etwas vorweisen will, sondern weil sie ihr Leben in die eigene Hand nehmen möchte.

Elena hat in Russland als Architektin gearbeitet. »Ich bin ein Workaholic! Ich liebe es, ein Projekt fertig zu machen und bis in den Abend hinein mit den Kollegen zu diskutieren und zu arbeiten«, erzählt sie.

Elena hat ihre Arbeit in Russland schweren Her­zens gekündigt, als sich endlich die Möglichkeit bot, zu ihrem Mann nach Berlin zu ziehen. Jahrelang schon hatten die beiden eine Fernbeziehung geführt. »Wir haben uns in Moskau kennen gelernt. Aber er lebte damals schon in Berlin und wollte auf gar keinen Fall nach Russland zurück. Wir haben trotzdem geheiratet und gedacht: Irgendwann findet sich schon eine Lösung. Dann kam unsere Tochter, und er stellte einen Antrag auf Familienzusammenführung. Es hat drei Jahre gedauert, bis die deutschen Behörden ihn bewilligt haben. Und dann musste ich mich entscheiden: Arbeit oder Familie! Ich habe mich für meine Familie entschieden. Allerdings dachte ich, dass ich auch in Deutschland arbeiten kann.«

Dass es in Deutschland nicht so einfach ist, eine Arbeit zu finden, habe sie schon gewusst, »aber ich war dumm. Ich dachte, wer Arbeit will, findet auch welche.« Nun, Arbeit hat sie gefunden. Allerdings fast ohne Bezahlung. Vor einigen Monaten beendete sie gerade ihr drittes Praktikum, bezahlt wurden der Architektin und Ingenieurin mit langjähriger Berufserfahrung 300 Euro monatlich. Von 14 weiteren Mitarbeitern mit ähnlichen Qualifikationen war kein einziger angestellt. Doch Elena war zufrieden, denn bei dem Praktikum, das sie zuvor absolviert hatte, hatte es über­haupt kein Geld gegeben, und die Räume waren nicht einmal beheizt. Sie hat trotzdem durchgehalten, weil man ihr in einem »Coachingprogramm«, das sich explizit an osteuropäische und russische Akademiker richtet, erklärte, wie wichtig Praktika in Deutschland ­seien.

Nach einigen Monaten in einem renommierten Architektenbüro in Berlin meldete sie stolz: »Ich mache jetzt das Innendesign für ein Hotel in der Ukraine. Meine Chefin sagt, dass ich einen Vertrag als Minijob mit ihr machen soll. Für mich ist das gut. Das Geld ist nicht viel, aber besser als nichts.« Architektin auf Minijobbasis. Das war das Beste, was sie finden konnte, erklärt Elena. »Schließlich sammle ich Erfahrung. Und wer weiß? Vielleicht lerne ich ja Leute kennen, werde weiterempfohlen, wenn ich gut bin.«

Mit ihrem Lohn muss sie derweil ihre Tochter und ihren Mann ernähren, der unterdessen auch arbeitslos geworden ist. »Natürlich kommen wir mit dem, was wir haben, nicht aus. Meine Eltern und meine Geschwister unterstützen uns, obwohl sie auch nicht viel haben. Aber sie tun das unserer kleinen Tochter zuliebe. ›Es ist unglaublich‹, sagen sie immer. ›Du lebst in Deutschland, und wir schicken dir Geld.‹«

Einige Wochen später hat Xenia wieder einen Job, in einer anderen Bäckerei. »Vorerst bin ich aber in der Probezeit«, sagt sie. Auf die Frage, wie viel ihr bezahlt wird, lautet die Antwort: »Nein, sag’ ich doch. Ich bin noch in der Probezeit! Aber ich kann Brot und Eier mit nach Hause nehmen, wenn sie übrig sind.« In Naturalien bezahlt zu werden, daran findet sie offenbar nichts Skandalöses.

Auch bei Nicki hat sich derweil einiges getan. Begeistert berichtet sie von einer Lohnerhöhung in ihrem Hoteljob: »Jetzt bezahlen sie uns pro Stunde«, erzählt sie, »7,87 Euro. Aber sie haben ein System, dass man in fünfeinhalb Stunden mindestens 15 Zimmer machen muss. Obwohl man in diesen 15 Zimmern acht Stunden gearbeitet hat, bezahlen sie uns nur 5,5 Stunden. Verstehst du das? Es ist ein bisschen kompliziert.« Im Gegenteil, es ist ganz einfach: Die Reinigungsfirma hat eine Form gefunden, die beschäftigten Frauen mit einer Lohnerhöhung zu locken und sie gleichzeitig zu betrügen. Eine verbreitete Praxis nicht nur bei Reinigungsfirmen und im Hotelsektor.

Bei der Bäckerei, wo Xenia mit Brot und Eiern bezahlt wird, ist sie nicht lange beschäftigt. »Das, was ich erlebt habe, glaubt mir niemand«, erzählt sie nach einigen Tagen. In der »Probezeit« musste sie morgens zwischen 2.30 und 5.30 Uhr Brötchen verkaufen. Als die Probezeit vorbei war, meinte ihr Chef, sie solle schon um 2 Uhr da sein. »Und dann zögerte er den Vertragsabschluss immer wieder raus. Einmal hatte er angeblich keinen Stempel dabei, ein anderes Mal war sein Steu­erberater nicht da. Ich wollte nicht schwarz arbeiten. Als ich merkte, dass er mich anlügt, hörte ich auf. Er gab mir 300 Euro für die gesamte Zeit. Rechnet man das aus, habe ich für zwei Euro die Stunde gearbeitet.«

Also hat sie es weiter probiert. »Eine Freundin brachte mich in ein Café in der Sonnenallee in Neukölln. Der Chef ist auch Ausländer, aber als er merkte, dass ich aus Bulgarien bin, sagte er nur: ›Das hat sich erledigt! Euch kann ich nicht leiden!‹ Danach hatte ich wieder einen Putzjob. Das erste Mal haben sie mich falsch einbestellt, die Tür war verschlossen. Dann habe ich vier Tage geputzt. Auf das Geld warte ich heute noch. Das letzte war ein Job als Küchenhilfe in einer Klinik. Da musste ich nur vier Stunden Probezeit absolvieren, und eigentlich war es ganz gut. Aber dann hat der Koch gekündigt, und ich musste auch gehen.«

Einige Wochen waren vergangen, als eine begeis­terte Mail von Elena kam, die unterdessen einen Job gefunden hat. Als Architektin. Auf Honorar­basis.

Für alle anderen fing das neue Jahr genauso schlecht an, wie das alte geendet hatte: Nicki ist noch immer im Hotel. Xenia macht jetzt irgendwo Cocktails. Von Melek hat keine mehr etwas gehört.

* Alle Namen wurden geändert