Pipeline in den Knast

Nachdem in den vergangenen Jahrzehnten in den USA das Erwachsenenstrafrecht verstärkt auf jugendliche Straftäter angewandt wurde, zeichnet sich inzwischen ein Trend zu speziellen Jugendknästen ab. Von der ausschließlichen Law-and-Order-Politik sind überproportional viele nicht-weiße Jugendliche betroffen. Zum Abschluss der Serie Jugend und Strafe in Europa ein Blick in die USA. Von william hiscott

In den USA kann von einem Jugendstrafrecht nur bedingt gesprochen werden. Zwar gibt es in den meisten Bundesstaaten seit etwa 100 Jahre ein vom Erwachsenenstrafrecht unabhängiges System für Jugendliche und Kinder unter 18 Jahren, seit Mitte der siebziger Jahre hat sich aber der Trend dahin entwickelt, jugendliche Straftäter wie Erwachsene zu behandeln. In gut einem Dutzend Bundesstaaten landen 16- und 17jährige so gut wie automatisch im Strafrechtssystem für Erwachsene. Unerheblich ist oft dabei die Schwere der begangenen Straftat. Eine Altersgrenze, unter der das Jugendstrafrecht zwingend Anwendung findet, gibt es sowieso nur in knapp über der Hälfte der Bundesstaaten. In manchen Staaten endet die Kindheit im zarten Alter von zehn Jahren. Oberhalb dieser Grenze bis 18 Jahre entscheidet in manchen Fällen der Richter, in anderen der Staatsanwalt.

Jährlich werden damit um die 250 000 Kinder und Jugendliche strafrechtlich als Erwachsene behandelt. Über die Hälfte davon für Verbrechen, die der Campaign For Youth Justice zufolge nicht als gewalttätig eingestuft werden, darunter fallen Drogen-, Alkohol-, Eigentums- und Bagatelldelikte. Inzwischen sitzen über 7 000 unter 18jährige in den lokalen Erwachsenen-jails ein, die in der Regel. für Untersuchungshaft bzw. für Freiheitsstrafen von unter einem Jahr vorgesehen sind. Diese Zahl entspricht einer Steigerung von über 200 Prozent gegenüber 1990. In den vergangenen Jahren ist diese Zahl, ebenso wie die der Jugendlichen in den Erwachsenen-prisons (Strafanstalten für langfristige Freiheitsstrafen), allerdings rückläufig. Stattdessen werden wieder zunehmend jugendliche Straftäter, die wegen schwerer Delikte verurteilt wurden, zumindest bis zu ihrer Volljährigkeit in spezielle Jugendknäste gesteckt. Somit scheint der Trend zu immer härteren Strafen für Jugendliche in Teilen gebrochen: Mit einer im Jahr 2007 verabschiedeten Reform steht ausgerechnet der Bundesstaat Texas hier an vorderster Stelle, und eine Handvoll Bundesstaaten scheint diesem Beispiel folgen zu wollen.

Zwar erklärte das Oberste Gericht im Jahr 2005 die Todesstrafe für Minderjährige für verfassungswidrig, aber nach wie vor sitzen nach Einschätzung der NGO Human Rights Watch über 2 200 Häftlinge lebenslänglich, d.h. ohne die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung, für Straftaten ein, die sie als Minderjährige begangen haben. Insbesondere nach einem Bericht des Fernsehmagazins »Frontline« aus dem Jahr 2007, in dem einige dieser Insassen zu Wort kamen, gibt es seitens verschiedener NGO verstärkte Bemühungen, die Strafen dieser Menschen irgendwie abzumildern. Nebenbei gilt dieses Vorgehen als eklatanter Bruch des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, den die USA in den neunziger Jahren ratifiziert haben.

Einer Reihe einflussreicher Studien zufolge sind Jugendliche in den Erwachsenengefängnissen viel häufiger Opfer von körperlichen Übergriffen und Vergewaltigungen als in den Jugendknästen. Jugendliche in den Gefängnissen für Erwachsene haben auch eine deutlich höhere Selbst­mordrate. Im Erwachsenenknast gibt es darüber hinaus keine Rehabilitationsmaßnahmen für die minderjährigen Insassen. Demzufolge ist die Rückfälligkeits­rate dieser Jugendlichen um ein Vielfaches höher als die jener, die ihre Strafen im Jugendstrafgefängnis verbüßten. Da in den meisten der Bundesstaaten die Losung »einmal erwachsen, immer erwachsen« gilt, landen die rückfälligen Jugendlichen automatisch wieder im Erwachsenensystem.

Doch auch ohne Knast gilt das Erwachsenenstrafrecht als besonders hart für Minderjährige.Noch als Kind vorbestraft zu sein, ist kein guter Start ins Erwachsenenleben. Mit einer Vorstrafe fällt in vielen Bundesstaaten der Anspruch auf eine Reihe sozialstaatlicher Maßnahmen wie etwa subventioniertes Wohnen, Essensmarken, Studienkredite einfach weg. Auch der Zugang zu Ausbildung oder zum Arbeitsmarkt wird dadurch erschwert. Im Gegensatz zu einer Jugendstrafe werden die Verurteilten von der Erwachsenenstrafe, und teilweise auch von den Auflagen, lebenslänglich verfolgt. So müssen Erwachsene, die als Minderjährige für ein Sexualdelikt verurteilt wurden, sich in vielen Bundesstaaten als Sexualstraftäter anmelden und die damit verbundenen Härten wie die Vorstellungspflicht gegenüber den Nachbarn lebenslang ertragen. Nicht zuletzt droht vielen in Dutzenden Bundesstaaten damit auch der zeitweilige oder permanente Verlust des aktiven und passiven Wahlrechts – bevor sie dieses je hätten ausüben können.

Dass innerhalb der »Gefängnisnation USA« (New York Times) – inzwischen lebt mehr als ein Prozent der Bevölkerung hinter Gittern – der institutionelle Rassismus unübersehbar ist, sollte niemanden überraschen. Schwarze und Latino-Jugendliche landen deutlich überproportional häufig sowohl im Jugend- als auch dann im Erwachsenenstrafrechtssystem. Dem National Council on Crime and Delinquency zufolge ist gut die Hälfte aller im Erwachsenenstrafsystem angeklagten Minderjährigen schwarz, 25 Prozent sind Latinos und nur 15 Prozent Weiße. Obwohl das Gros davon Jungen sind, wird auch im Erwachsenenstrafrechtssystem überproportional im Vergleich zu weißen Mädchen häufig gegen schwarze und Latino-Mädchen prozessiert.

Auch die verhängten Strafen sind im Vergleich höher als bei den weißen jugendlichen Straftätern. Da die Schulen seit etwa zwei Jahrzehnten zunehmend eine Nulltoleranzpolitik fahren und die Polizei immer öfter auch bei Kleinigkeiten einschalten, spricht die American Civil Liberties Union von einem »Schule-zum-Gefängnis-Pipeline«. Der kriminelle Werdegang beginnt damit mit einer Prügelei oder Graffitomalereien auf dem Schulhof. Neben schwarzen und Latino- sind davon insbesondere Native-American-Jugendliche und Minderjährige aus zerrütteten Familien oder mit Lernbehinderungen betroffen.

In den achtziger und neunziger Jahren war es für die Politiker in den Bundesstaaten und den Schulbehörden einfach, auf eine konservative Law-and-Order-Politik zu setzen und dafür immer mehr Strafanstalten zu bauen. Aber die klammen Haushalte der vergangenen Jahre zwingen langsam zu einem Umdenken. Doch von einer großen Strafrechtsreform, nach der auch Jugendliche wieder wie Minderjährige behandelt werden und nicht wie kleine Erwachsene, ist man weit entfernt. Organisationen wie Campaign for Youth Justice haben eine gewaltige Aufgabe vor sich. Denn das Jugendstrafrecht in den USA zu reformieren, bedeutet, Mehrheiten dafür in allen 50 Bundesstaaten zu finden. Und um die Schule-zum-Gefängnis-Pipeline zu durchbrechen, müssten zudem Tausende unabhängiger Schulaufsichtskräfte davon absehen, hartes Durchgreifen als Allheilmittel zu propagieren.