Deutsche Solidarität mit Tibet

Siebzig Jahre mit Tibet

Weil der Dalai Lama als das Gute, Weise und Gerechte schlechthin gilt, sind die Deutschen nahezu geschlossen solidarisch mit dem Aufstand in Tibet. Der Fimmel für das Land hat eine Tradition, die älter ist als seine Besetzung.

Olympische Spiele sind ein Politikum. Spätestens seit 1936, als sich das nationalsozialistische Deutschland der Welt als freundliche Volksdiktatur präsentierte, ist ihr propagandistisches Potenzial bekannt. Dass man die olympische Öffentlichkeit auch nutzen kann, um auf staatliche Repression aufmerksam zu machen, bewies 1968 eine Studentenbewegung, als sie vor den Sommerspielen in Mexiko-Stadt gegen die Herrschaft der Staatspartei Pri demonstrierte. Das Beispiel Mexiko zeigt allerdings auch die Grenzen dieses Vorgehens: Am 2. Oktober 1968 ließ die Regierung die Bewegung zusammenschießen, beinahe 500 Menschen starben. Die öffentliche Empörung war zunächst groß, und es war für eine kurze Zeit ungewiss, ob die Olympischen Spiele stattfinden würden. Als sie aber nur zehn Tage nach dem Massaker eröffnet wurden, sprachen die Medien schon nicht mehr über die toten Demonstranten, sondern über die sauerstoffarme Höhenluft und deren Wirkung auf die Leistungen der Athleten.
Was sich derzeit in China bzw. in Tibet abspielt, passt in dieses Muster. Die chinesische Führung versucht, die Volksrepublik als ein modernes und offenes Land darzustellen, was es angesichts der politischen Verhältnisse nicht sein kann; und die tibetische Nationalbewegung nutzt die Aufmerksamkeit vor den Spielen, um die Weltöffentlichkeit für ihre Unabhängigkeitsbestrebungen einzunehmen – seit Anfang März probt sie den Aufstand. China reagierte darauf bekanntlich wie aus dem Lehrbuch für Diktatoren: mit einer Nachrichtensperre, der Abriegelung von Landesteilen und dem Einsatz von Polizei und Armee, weshalb es bislang mindestens 100 Tote gegeben haben soll. Statt jedoch den Aufstand unter Kontrolle zu bekommen, sorgte das chinesische Regime für die größte Welle der Tibet-Solidarität seit langem.

In Deutschland ist das Bekenntnis zur Free-Tibet-Bewegung inzwischen nahezu Konsens, ihre Anhänger finden sich, trotz diplomatischer Verwicklungen mit China, in allen Bundestagsfrak­tionen. Jedes Jahr am 10. März hissen hunderte Kommunen die tibetische Flagge vor ihren Rathäusern, um an den gewaltsam niedergeschlagenen Aufstand der Tibeter von 1959 zu erinnern. Wegen der aktuellen Ereignisse entwickelte sich, das Hissen der Flaggen betreffend, sogar eine Art Gruppenzwang. Über 900 Städte und Gemeinden beteiligten sich, und wer nicht mitmachte, musste sich rechtfertigen. So kritisierte Radio Bremen, dass vor dem Bremer Rathaus keine Flagge weht, aber berichtete begeistert, wenigstens die Finanzverwaltung sei dabei: Die Finanzsenatorin Karoline Linnert wolle, »dass Bremen sich endlich mit dem tibetischen Volk solidarisch erklärt«, berichtete der Sender.
Wie lässt sich dieses Engagement für Tibet erklären in einer Gesellschaft, der das Leiden Anderer sonst selten Anlass ist, sich in Solidaritätsbekundungen zu überschlagen? Das Massensterben in Darfur etwa löste, so es überhaupt wahrgenommen wurde, allenfalls Schulterzucken aus. Der Hauptgrund dürfte sein, dass der tibetische Unabhängigkeitskampf kein anonymer ist, sondern ein Gesicht und eine Stimme hat. Sein Anführer heißt Tenzin Gyatso, er ist der 14. Dalai Lama und wird wie kaum ein anderer Prominenter dieser Welt mit dem Guten, Weisen und Gerechten an sich assoziiert. Tenzin Gyatsos Besuche wie vergangenes Jahr in Hamburg lösen Massenhysterien aus, die man sonst nur kennt, wenn der Papst kommt.

Die Begeisterung beschränkt sich nicht auf Buddhisten, Esoteriker und alternative Sinnsucher: Eine gestandene Christin wie Angela Merkel riskierte den Disput mit China, um »Seiner Heiligkeit« die Hand zu schütteln, eine Hollywoodgröße wie Richard Gere trat seinetwegen zum Buddhismus über, und selbst die ansonsten reli­gions­kri­tischen Macher der »Simpsons« lassen Lisa, die Stimme der Vernunft in der Serie, einen Diener machen vor dem »Ozean der Weisheit«. Das näm­lich heißt »Tenzin Gyatso« übersetzt, und so heißt der Mann, seit er als Kleinkind vom damals herrschenden Gelbmützen-Orden als »Wiedergeburt« des 13. Dalai Lama anerkannt wurde.
Wer Tenzin Gyatso als geistigen Lehrer indes tatsächlich ernst nimmt, muss an das glauben, was auf tibetfocus.com so formuliert wird: Der Dalai Lama sei die »Wiedergeburt Tschenresis, des Buddhas des Erbarmens, der gleichzeitig der Schutzpatron Tibets ist. Tschenresi hat auf seine eigene Erlösung und den Eingang ins Nirwana verzichtet und wird solange wiedergeboren, bis alle Menschen erlöst sind.« Eine solche Verklärung des tibetischen Buddhismus beruht allerdings auf einer gewaltigen Verdrängungsleistung: Das alte Tibet erscheint als ein Land fried­licher Mönche, die vor eindrucksvoller Bergkulisse Tag und Nacht meditierten und sich offenbar von Luft, Liebe und Erkenntnis ernährten.
Ein ganz anderes Bild des Dalai Lama und seiner Gelbmützen zeichnet etwa der Autor Colin Goldner in dem Buch »Fall eines Gottkönigs«. Demnach war das alte Tibet beherrscht von einem klerikalen Feudalismus, dessen Klöster, »monastische Zwingburgen«, ihren Reichtum allein der Ausbeutung der Bevölkerung in einem rigiden Kastensystem verdankten. Delinquenten wurden die Gliedmaßen abgehackt oder die Haut bei lebendigem Leibe abgezogen. Goldner kritisiert, dass Tenzin Gyatso zu solchen Grausamkeiten heutzutage nicht viel mehr einfällt, als dass das feudale Tibet, dessen letzter Herrscher er war, »nicht vollkommen« gewesen
sei.

In Deutschland ist die Leidenschaft für Tibet älter als die moderne Free-Tibet-Bewegung, die in den achtziger Jahren aufkeimte. Sie geht zurück auf die Zeit des Nationalsozialismus, als einige Größen des Regimes einen wahren Tibet-Fimmel entwickelten. Der »Reichsführer-SS« Heinrich Himmler etwa wollte nachweisen, dass in Tibet die »Ur-Arier« lebten und in den tibetischen Klöstern das Wissen einer indo-arischen Ur-Religion verborgen liege. Der von der SS nach Tibet geschickte Bergsteiger Heinrich Harrer schloss dort mit dem jugendlichen Tenzin Gyatso eine lebenslange Freundschaft. Harrer schrieb später mit »Sieben Jahre in Tibet« einen geschichtsklitternden Bestseller und kann so als ein Gründervater der Tibet-Verherrlichung angesehen werden. Im gleichnamigen Hollywoodfilm wurde er von Brad Pitt verkörpert.
Dass der Dalai Lama mit einem SS-Mann befreundet war, fand sein Bruder indes nicht so schlimm: »Heinrich war weit weg und konnte nichts über die Verbrechen wissen. Aber einen Holocaust gibt es auch heute, und das ist der Völkermord der Chinesen an unserem Volk.« Derartiges Gerede von einem chinesischen Holocaust an den Tibetern ist der Klartext einer Ideologie, die auch Tenzin Gyatso vertritt, wenn er jetzt von einem »kulturellen Völkermord« spricht, den China in Tibet begehe. Von einem Völkermord kann allerdings keine Rede sein; die Tibeter haben es mit der gleichen Repression zu tun, mit der die Kommunistische Partei Chinas in ganz China herrscht. Die Frage, inwiefern der Dalai Lama also für ihre Befreiung steht oder nur für eine archaischere Form der Unterdrückung, stellt derzeit aber niemand.