Evo Morales wird in Bolivien immer unbeliebter

Evo und der autonome Halbmond

Viele der Reformen, die Evo Morales den Bolivianern versprochen hat, kommen kaum voran. Auch unter seinen Anhängern verbreitet sich Unruhe.

Mürrisch blickt Raúl Flores auf den kleinen Papp­karton mit den Bremsklötzen. »55 Bolivianos (um­gerechnet 5,50 Euro) kosten die jetzt, und vor eini­gen Wochen waren es noch 40 Bolivianos, die ich dafür bezahlt habe«, knurrt der 36jährige Taxifahrer. Alle drei Wochen muss der Familienvater die Bremsbeläge erneuern, denn die Steigun­gen in La Paz, wo die Regierung ihren Sitz hat, und im darüber liegenden El Alto sind aberwitzig und der Abrieb ist entsprechend hoch. »In den letzten Wochen sind die Preise rapide gestiegen. Die Inflation frisst das bisschen, was wir mehr haben, wieder auf«, ärgert sich der schlaksige Mann und quält seinen klapprigen Datsun wieder eine dieser extremen Steigungen nach El Alto hoch.
Die Oberstadt von La Paz wächst jedes Jahr um rund 80 000 Menschen, die aus anderen Regio­nen des Landes zuwandern, und gilt als Hochburg von Präsident Evo Morales. Hier lebt auf 4 100 Metern Höhe auch Raúl Flores mit seiner Familie. Er ist überzeugt, dass es unter Evo auch für die arme Bevölkerung endlich aufwärts geht.

Doch während die Preise nach dem Regierungsantritt 2006 eher sanken, wird derzeit alles ­teurer. Verantwortlich dafür machen die Anhänger von Evo, wie der Präsident in El Alto zumeist genannt wird, die großen Unternehmer im Tiefland. »Dort sitzen die großen Produzenten, und die sind für die Verknappung und die steigenden Preise verantwortlich«, ereifert sich Raúl Flores. Ohnehin sitzt ihm zufolge der Kern allen Übels im Tiefland. »Dort regieren die Präfekten, und eine ganze Reihe von ihnen waren schon früher als Minister unter Goni in der Regierungsverantwortung«, erklärt er.
Goni wird der ehemalige Präsident Gonzalo Sán­chez de Lozada genannt, der eine wirtschafts­libe­rale Politik durchsetzte und sich nach Protesten in die USA abgesetzt hat. Die Präfekten, in etwa vergleichbar mit den Ministerpräsidenten der Bun­desländer in Deutschland, bilden einen Gegenpol zur Regierung in La Paz. »Sie lassen Evo gar nicht erst regieren, deshalb kommen wir nicht weiter«, meint Flores.
Dieser Einschätzung stimmen viele Bolivianer zu, so auch die Schmuckverkäuferin Emilia Valen­cia in Cochabamba. Sie sympathisiert zwar mit Evo Morales, hält aber wenig von der konfrontativen Politik beider Seiten. »Regierung und Opposition sind annährend gleich stark und stehen sich wie zwei Boxer im Ring gegenüber«, sagt die Frau, die einen winzigen Laden am Rande des Platzes des 14. September unterhält. Der große Wurf, von dem viele der Wähler träumen, die im Dezember 2005 zu 54 Prozent Evo Morales ihre Stimme gaben, ist so kaum möglich.
Vier der neun Regierungen der Departamentos fordern Autonomie, sie setzen sich von der Zentralregierung ab. Diese Departamentos, die geographisch einen Halbmond bilden und deshalb »Media Luna« genannt werden, heißen Beni, Pan­do, Santa Cruz und Tarija. Sie verfügen über das Gros der Reichtümer des Landes – vor allem über Erdgas. Ihre Bevölkerung ist deutlich westlicher geprägt als die der Departamentos des vergleichs­weise armen Hochlandes, wo die Basis von Evo Morales’ Bewegung zum Sozialismus (Mas) ange­siedelt ist.
Der Mas und die mit ihm verbündeten sozialen und indigenen Bewegungen wollen ein »neues Bolivien« schaffen, der im Dezember fertigge­stellte Verfassungsentwurf soll dafür als juristische Grundlage dienen. Im Mai steht er in einem Referendum zur Abstimmung. Doch lange nicht alle Hoffnungen, die mit dem Entwurf verbunden waren, haben sich erfüllt. So finden sich bedeutende Teile der Bevölkerung, so zum Beispiel die Kreolen und Mestizen, die oftmals zur Mittelschicht im Tiefland zählen, im Entwurf kaum wieder. Allerdings haben auch viele von ihnen dem Präsidenten ihre Stimme gegeben. »Zudem weiß kaum jemand in Bolivien, wie die neue Verfassung eigentlich aussieht, denn es gibt keine Informationen, keine Broschüren, die erklären, worüber ich eigentlich im Detail abstimmen soll«, klagt Emilia Valencia.

Diese Versäumnisse könnten der Regierung beim Referendum schaden, ebenso wie die ökonomischen Probleme. Arme und marginalisierte Bevöl­kerungsgruppen erwarten neben besserer politischer Repräsentation auch einen ökonomischen Aufschwung, von dem die meisten Bolivianer jedoch noch zu wenig spüren. Die Erwartungen sind hoch, dem Slogan »Bolivien wandelt sich, Evo hält Wort«, der in La Paz und weiten Teilen des Landes an die Hauswände gepinselt wurde, sollen Taten folgen. Verhalten ist die Kritik am Präsidenten, aber Bauern wie Pedro Condon lassen keine Zweifel daran, dass sie von der Regierung Programme erwarten, die ihre Perspektiven verbessern: »Wir brauchen Kredite und Beratung, um wachsen zu können, denn nur so können wir von unserer Arbeit auch würdevoll leben«, argumentiert der 47jährige Kakaobauer aus der Nähe von Sapecho, der Kakaoregion des Landes.
Die Perspektiven der Genossenschaften in der Region sind exzellent. Die Weltmarktpreise für Kakao und Kakaobutter sind hoch und die Nachfrage enorm. Mühelos könnten die kleinen Genossenschaften ihre Produktion verdoppeln und verdreifachen, denn rund um Sapecho wird ökologisch produziert. Programme für die Förderung der Kleinbauern, die zumeist zwischen fünf und 20 Hektar bewirtschaften, hat die Regierung Morales aber noch nicht vorgelegt.
Gleiches gilt für die Kaffeebauern, die einige Fahrtstunden entfernt im ebenfalls tropisch heißen Caranavi leben. Auch der Kaffee erfreut sich steigender Nachfrage, doch Kapital und Investitio­nen in die extrem schlechte Infrastruktur sind bisher ausgeblieben. Dabei fehlt es der bolivianischen Regierung nicht am Kapital, denn die Über­nahme des Erdgassektors und die Durchsetzung neuer, erstmals auch für die Regierung lukrativer Förderverträge haben die einst leere Regierungs­kasse gefüllt. Allein die Devisenreserven belaufen sich auf rund fünf Milliarden US-Dollar – für bolivianische Verhältnisse ein Schatz, der bisher jedoch nicht für Investitionen in den produktiven Sektor genutzt wurde.

Es fehlt an Programmen und Konzepten, und das führt der Minister für Dienstleistungen und öffentliche Bauten, Oscar Coca Antezano, darauf zu­rück, dass die Regierung kaum zum Arbeiten kommt. »Hier im Ministerium mussten wir uns in den letzten Monaten um den Wiederaufbau der Infrastruktur in den von Überschwemmungen betroffenen Regionen des Tieflands kümmern. Zudem fehlen uns Fachkräfte«, gibt der 53jährige Minister unumwunden zu. Die werden benötigt, um Programme zu erarbeiten, doch seitdem der Präsident sein Gehalt öffentlichkeits­wirksam auf 2 500 US-Dollar reduziert hat, darf niemand mehr verdienen. Fachleute, die unter Minister Coca Antezano arbeiten sollen, lassen sich nicht mit 1 500 US-Dollar oder weniger ködern.
Auch die oppositionellen Präfekten der Media Luna halten die Regierung ständig auf Trab. So ist wegen der Stimmverteilung im Parlament kaum ein Gesetz durchzubringen, so dass die Regierung mit Dekreten regiert. Ein Mitte März erlassenes Dekret untersagt den Export von Speise­öl ins Ausland. Die Sojaölproduzenten des Tieflands hatten große Mengen exportiert, um das Angebot im Inland zu verknappen. Mit Erfolg, denn der Preis für Speiseöl hatte sich in den vergangenen Monaten um fast 50 Prozent erhöht. Früher wäre das schon ein Grund zum Umsturz gewesen.