Wirtschaftskrise und staatliche Intervention

Des Marktes Arzt oder Apotheker

In Krisen offenbart sich, dass der Kapitalismus mitnichten eine Marktwirtschaft ist.

Die Finanzkrise hat die Deutsche Bank erreicht. Dennoch besteht kein Grund zur Beunruhigung: »Mit den Ab­schrei­­bungen (von 2,3 Milliarden Euro im ersten Quartal 2008) kommt die Deutsche Bank im Vergleich zu anderen großen Banken noch relativ gut weg und braucht auch kein frisches Kapital zur Stützung.« So lautete eine Agenturnachricht. Eine »Stütze« für die Banken scheint derzeit eher die Regel als die Ausnahme zu sein.

In der Krise schlägt die Stunde der Politiker. Jahrelang von den Wirtschaftsbossen aufgefordert, sich bei Eingriffen in den Markt zurückzuhalten, sind Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) und seine Kollegen aus den Ländern plötzlich gefragt wie lange nicht mehr. Sie sind es, die derzeit damit zu tun haben, die Verwerfungen der Finanz­welt zu beseitigen: Die Bundesländer übernehmen große Teile der Verluste der Landesbanken, der Bund springt mit einer Milliarde Euro zur Rettung der Mittelstandsförderungsbank IKB ein.
Nicht anders ist es in anderen Ländern: Die britische Regierung verstaatlicht die Hypothekenbank Northern Rock, in den USA gibt die Notenbank Garantien bei der Übernahme der maroden Hypothekenbank Bear Stearns durch JP Morgan, und Präsident George W. Bush hat 160 Milliarden Dollar für ein Konjunkturprogramm bereitgestellt.
Jenseits solch kurzfristiger Rettungsaktionen zielen viele Vorschläge und Initiativen darauf ab, die Finanzaufsicht in den einzelnen Ländern zu verbessern, um Pleiten wie die derzeitigen verhindern zu können. Entgegen allen Mythen, die angelsächsischen Länder betrieben eine vollständige Liberalisierung des Finanzmarktes, legte als erster US-Finanzminister Henry Paulson einen umfangreichen Plan zur Reform der Finanzaufsicht vor. Danach erhält die amerikanische Notenbank Federal Reserve weitgehende Vollmachten, die Buchführung der Banken permanent zu kontrollieren. Auch in Deutschland wird gefordert, den Notenbanken oder dem Finanzministerium solche Befugnisse zu erteilen. Einig scheint man sich zu sein, die Erhöhung der Rücklagen bei zunehmendem Kreditvolumen den Geldinstituten verbindlich vorzuschreiben.
Begleitet werden die allwöchentlichen Verlustmeldungen von einer Mischung aus Erschrecken, Häme und Empörung, die manche nur zu gerne als »Linksruck« deuten wollen. Vor allem wird der bis vor kurzem von Wirtschaftspolitikern als inkompetent betrachtete Staat plötzlich wieder hochgeschätzt, während die Zustimmung zur »privatwirtschaftlichen Ordnung« so gering ist wie nie zuvor. Nach einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung empfinden derzeit nur noch 15 Prozent der befragten Bürger diese Ordnung als »gerecht«.
Die Empörung ist überall zu vernehmen. »No Risk, No Fun«, das Motto von Snowboardern und Freeclimbern, gerade erst gegen die »Besitzstandswahrer« als neues altes Motto des Kapitalismus allgegenwärtig propagiert, soll nun ausgerechnet für Unternehmer und Banken keine Gültigkeit mehr beanspruchen können. So spricht Steinbrück aus, was alle denken: »Mich ärgert besonders, dass jetzt wieder der Staat einspringen muss, um das Fehlverhalten von Bankern in einer privaten Bank auszubügeln. Diese Leute rufen immer alle nach mehr Markt; wenn es schief geht, rufen sie sofort nach dem Staat.«

Die vor dem jähen Sturz so selbstbewussten Unternehmer reagieren zumindest teilweise mit erschreckender Desorientierung auf die Krisenerscheinungen. Die mit Abstand albernste Figur machte dabei der sichtlich mitgenommene Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, Josef Ackermann, der angesichts der Milliardenverluste seines Instituts gestand, er »glaube nicht allein an die Selbstheilungskräfte der Märkte«. Einige seiner Kollegen glitten eher ins Metaphysische ab. Der Ökonom und Autor Paul Krugman sprach von einer »Glaubenskrise«, und David Rubinstein, Mitbegründer der Finanzgruppe Carlyle, sah gar eine »Ära der Buße« für den Kapitalismus herannahen. Nur das Manager-Magazin blieb auf Linie und machte im neuen Staatsinter­ven­tio­nismus eine Aushöhlung der »westlichen Markt­demokratien von innen« aus.
Man pflegt gern zu vergessen, dass nach jeder größeren Krise während der letzten hundert Jahre neue staatliche Regeln, gerade im Finanzbereich, festgelegt wurden. Der New Deal Franklin D. Roosevelts, der auf die Weltwirtschaftskrise 1929 folgte, begann mit einer harsch durchgesetzten, strengen Regulierung der Banken, und die US-Bilanzskandale der Jahrtausendwende hatten die strengen Börsenaufsichtsgesetze des Sarbanes-Oxley-Act zur Folge. Gleich mehrfach verwies die Bundesbank auf das abschreckende Beispiel der Pleite der Danat-Bank im Jahr 1931. Damals hatte die Reichsbank jede Hilfe verweigert. Die Folgen waren nicht nur Menschenschlangen vor den Bankhäusern, sondern auch verstärkte Krisenerscheinungen in der gesamten Nationalökonomie.
Hier wird deutlich, dass das Überleben des Kapitalismus entgegen den landläufigen Auffassungen gerade darauf beruht, keine Marktwirtschaft zu sein. Zwar zirkulieren die Waren auf Märkten. Deren Funktionieren und die Reproduktion des Kapitals hängen aber weitestgehend von den staatlichen Garantien und, noch mehr, von staatlichen Einschränkungen ab. Schon in Marx’ »Kapital« finden sich die Betrachtungen über die Notwendigkeit der englischen Fabrikgesetzgebung, ohne die der zeitweise freie Arbeitsmarkt innerhalb von drei Jahrzehnten den Nachschub an Lohnarbeitern fast zum Erliegen gebracht hätte. Und die stetigen Überakkumulationskrisen strafen alle Behauptungen, die »unsichtbare Hand« des Marktes werde alles ins Gleichgewicht bringen, Lügen. So bedeutete bereits die erste Wirtschaftskrise des modernen Kapitalismus ab 1873 das Ende des Zeitalters des Marktvertrauens, selbst im Heimatland des Kapitalismus. Der alte Witz, nach dem die Hand unsichtbar ist, weil sie nicht existiert, bestätigt sich in jeder Krise. Auch die für die Finanzmärkte aus der »unsichtbaren Hand« abgeleitete Theorie der effizienten Märkte, die besagt, dass die Kurse an den Börsen akkurat abbilden, was öffentlich über die jeweiligen Wertpapiere bekannt ist, wurde zum wiederholten Male widerlegt – diesmal durch die Bewertung der Hypothekenfonds.

Die klammheimliche Freude an einem neuen Keynesianismus, den derzeit »Die Linke« und viele Kommentatoren heraufziehen sehen, könnte allerdings nicht nur im Hinblick auf die sehr begrenzten Segnungen des »Goldenen Zeitalters« (Eric J. Hobsbawm) der auf hohen Staatsquoten und organisierter Nachfrage beruhenden Nachkriegswirtschaft schnell wieder vergehen. So wie die auf die wachsende Staatsverschuldung zurückzuführende Deregulierung der Märkte die Krisenanfälligkeit verstärkt hat, so werden die Kosten staatlicher Reorganisationen des Kapitalismus die öffentlichen Kassen weiter leeren und wiederum deregulierende Maßnahmen notwendig machen, um die produktiven Teile der Nationalökonomie auszudehnen.
Zwar muss die Politik handeln, aber im Gegensatz zur Nachkriegsära hat sie keinen überzeugenden Plan mehr anzubieten. So konnte Ackermann schnell wieder zur Besinnung kommen. Bei der Vorstellung des Zwischenberichts des Institute of International Finance vorige Woche sagte er, es sei »absolut falsch, verfrüht nach regulatorischen Maßnahmen zu rufen«. Und weiter: »Deshalb haben wir die Initiative ergriffen, um zu zeigen, dass wir in der Branche einen besseren Job machen können.« Hätte er Recht, wäre der Kapitalismus tatsächlich am Ende.