Weltweite Hungerrevolten

A Hungry Mob Is An Angry Mob

Was bereits Bob Marley (»Them Belly Full, But We Hungry«, 1974) wusste, erfahren nun Regierungschefs in aller Welt. Bangladesh, Haiti, Ägypten – in zahlreichen Ländern revoltieren die Menschen gegen steigende Nahrungsmittelpreise.

Das Volk hat keinen Reis? Dann soll es Kartoffeln essen! Diese Lösung schlug Moeen U. Ahmed, Generalstabschef in Bangladesh, vor: »Die Gewohn­heit, Kartoffeln zu essen, sollte sich entwickeln.« Die Preise für Reis, Getreide und Planzenöl haben sich in Bangladesh seit April 2007 fast verdoppelt. Für jene 80 Prozent der Bevölkerung, die von weniger als zwei Dollar am Tag leben müssen, sind Grundnahrungsmittel kaum noch erschwing­lich.
Subventionierten Reis gibt es nun in Läden, die von den Bangladesh Rifles eröffnet wurden, einer eigentlich für die Sicherung der Grenze zuständigen Truppe. An 16 Millionen Menschen sollen Nah­rungsmittel umsonst verteilt werden, und die Regierung will fast eine Million Tonnen Reis zusätzlich importieren. Auch die Kartoffeln könnten hilfreich sein, wenn die Erwartungen der Regierung sich erfüllen und die diesjährige Ernte tatsächlich um 35 Prozent steigt. Ob das ausreichen wird, um eine Krise abzuwenden, ist unklar, in der Hauptstadt Dhaka kam es am Samstag zu Kämpfen zwischen der Polizei und 10 000 Textilarbeitern, die gegen die Preissteigerungen protestierten.
Mehr noch als Moeen U. Ahmed hätte der haitianische Präsident René Préval den Marie-Antoinette-Preis für erhabene Ignoranz verdient. Préval hätte fast den Kopf verloren, als am Dienstag der vergangenen Woche wütende Demons­tranten seinen Palast belagerten. Die UN-Soldaten eilten ihm rechtzeitig zu Hilfe, der Präsident sagte den Haitianern anschließend: »Ich befehle euch, damit aufzuhören.«
Weil die Protestierenden nicht gehorchten, entließ der Senat am Samstag Prévals Premierminister Jacques-Edouard Alexis. Sein Nachfolger soll »fähig sein, das Rufen des Volkes zu hören«, forderte der Senator Jean Judnel. Wenn die so genann­ten Geberstaaten ihr Versprechen halten, werden ihm für eine Antwort 12 Millionen Dollar Nothilfe zur Verfügung stehen, weniger als zwei Dollar für jeden der knapp sieben Millionen Haitianer, die in extremer Armut leben, und gewiss nicht genug, um die Revolte zu beenden.
»Die Auswirkungen auf die Sicherheit sollten nicht unterschätzt werden, überall auf der Welt werden Hungeraufstände gemeldet«, warnte der UN-Nothilfekoordinator John Holmes. Auch die Uno selbst ist betroffen. In der vergangenen Woche traten ihre Angestellten in Jordanien in den Streik, sie fordern eine Gehaltserhöhung, um die Preissteigerungen von 50 Prozent zu kompensieren. Der IWF-Direktor Dominique Strauss-Kahn meint, die Hungerkrise »könnte ein Konfliktherd für die Zukunft werden«.

Wie immer, wenn Wirtschaftsliberale mit den unerwünschten Folgen des Marktgeschehens konfrontiert werden, reagieren sie hilflos. Geplant war ja alles ganz anders. Die Millenium Development Goals, auf die sich 189 Staats- und Regie­rungs­chefs zu Beginn des neuen Jahrtausends geeinigt hatten, sahen vor, die Zahl der hungernden und in extremer Armut lebenden Menschen bis zum Jahr 2015 um 50 Prozent zu reduzieren. Geschehen sollte dies vornehmlich durch die Förderung des Freihandels, steigende Preise für Nahrungsmittel waren sogar erwünscht, sie sollten den Produzenten in der »Dritten Welt« höhere Einnahmen verschaffen.
Doch die westlichen Staaten weigern sich standhaft, ihre Agrarsubventionen zu beenden. Eine Gruppe von Schwellen- und Entwicklungsländern akzeptiert diese Haltung nicht, deshalb stagnieren die Verhandlungen über den globalen Freihandel seit fünf Jahren. Stattdessen werden bilaterale Verträge geschlossen, bei deren Aushandlung es den westlichen Staaten meist gelingt, die Interessen ihrer Agrarindustrie zu wahren.
Mittlerweile verfügen auch Länder wie Brasilien und Indien über eine konkurrenzfähige Agrar­industrie. Die meisten Kleinbauern armer Staaten hingegen haben keinen Zugang zu Krediten, die ihnen eine Modernisierung ermöglichen würden. Ihre Produkte sind nicht konkurrenzfähig, es sei denn, die Regierung unterstützt sie durch Subventionen oder hohe Importzölle. Dafür fehlt es jedoch meist an Kapital und an Verhandlungsmacht in den internationalen Institutionen. Wer etwa in einem Hotel in Gambia ein Ei serviert bekommt, kann sich deshalb ziemlich sicher sein, dass er ein Produkt aus dem fernen Europa verspeist, mögen sich auch noch so viele Hühner in der Nachbarschaft tummeln.
Auch die Schwellenländer, die ja selbst Märkte für ihre Agrarprodukte suchen, sind da keine Hilfe. Am wenigstens auf dem Sektor der Biotreibstoffproduktion, zu deren eifrigsten Propagandisten Brasilien gehört. Die Preissteigerungen bei Mais, Getreide, Zucker und Ölpflanzen sind vor allem eine Folge der Entscheidung, die Produktion von Biosprit zu steigern und zu subventionieren. Allein die USA verbrauchen mehr als zehn Prozent der globalen Maisproduktion für die Herstellung von Biotreibstoff. Die »Tortilla-Krise« in Mexiko vor einem Jahr war der erste größere Protest gegen die dadurch verursachten Preissteigerungen. Da der Anbau von Rohstoffen für die Biotreibstoffproduktion andere Pflanzungen verdrängt, beeinflusst er auch den Preis anderer Nahrungsmittel.
Der höhere Preis für Reis ist jedoch vor allem eine Folge des wachsenden Wohlstands eines Teils der asiatischen Bevölkerung. Mittlerweile hat etwa ein Drittel der Bevölkerung Indiens und Chinas eine gewisse Kaufkraft erlangt. Dass über 700 Millionen Menschen mehr Fleisch und Milchprodukte konsumieren, steigert die Nachfrage erheblich. Um Revolten der etwa 1,7 Milliarden Menschen in beiden Ländern zu verhindern, die sich das weiterhin nicht leisten können, haben die Regierungen den Reisexport eingestellt.

Nahrungsmittel sind nun wieder eine profitable Anlagemöglichkeit geworden. Die Preise steigen daher in weit größerem Ausmaß als die Nachfrage, in den von Hungerrevolten betroffenen Ländern im Vergleich zum Vorjahr um 50 bis 100 Prozent. Bereits der im vergangenen Jahr veröffentlichte Zwischenbericht über die Millenium Development Goals stellte fest, dass es zwar eine geringfügige Reduzierung der extremen Armut gab, die Ziele jedoch ohne weitere Maßnahmen verfehlt werden würden. Nun sind Hunderte Millionen Menschen vom Hunger bedroht.
Ohne die Revolten wäre dies ein nur ein von Linken und Entwicklungsexperten diskutiertes Thema geblieben. Nur wer die »Sicherheit« bedroht, kann hoffen, wenigstens in den Genuss von Nothilfemaßnahmen zu kommen. Dann sind selbst die Kader von IWF und Weltbank geneigt, die gängigen Dogmen der Wirtschaftspolitik zurückzustellen. 500 Millionen Dollar für Nahrungsmittelhilfe soll die »internationale Gemeinschaft« bereitstellen, forderte Robert Zoellick, Präsident der Weltbank. Die verhassten Subventionen abzuschaffen, ist ihnen ohnehin nie ganz gelungen. Denn bereits in den siebziger und achtziger Jahren, in der ersten Phase der Privatisierung überwiegend staatskapitalistischer Ökonomien der »Dritten Welt«, gab es Brotrevolten, die die Regierungen zwangen, die Ernährung dauerhaft durch Subventionen zu sichern.
Der wohl bedeutendste Aufstand fand 1977 in Ägypten statt. Als die Regierung ankündigte, die Subventionen für Nahrungsmittel zu streichen, gingen Millionen Menschen auf die Straße. Präsident Anwar al-Sadat fürchtete, die Wehrpflichtigen könnten sich mit dem Protest solidarisieren, und flüchtete aus Kairo. Am Ende hielt die militärische Disziplin, etwa 800 Menschen wurden erschossen. Doch bis heute lässt sich die Regierung die Subventionierung von Lebensmitteln über zehn Milliarden Dollar pro Jahr kosten.
Wegen der Preissteigerungen reicht dieses Budget nicht mehr aus. Bislang äußerte sich die Wut der Ägypter vornehmlich in Kämpfen um die Plätze in den Warteschlangen vor den Brotläden und Streitigkeiten mit den Bäckern. Die Regierung hat jedoch guten Grund, soziale Proteste zu fürchten. Anfang April kam es in Mahalla al-Kubra zu Straßenschlachten, ein Jugendlicher wurde von der Polizei erschossen. Zivilpolizisten hatten zuvor die Textilfabrik der Stadt besetzt, um einen angekündigten Streik und eine Betriebsbesetzung zu verhindern. Die Arbeiter gingen auf die Straße, andere Einwohner der Stadt schlossen sich dem Protest gegen das repressive Regime und die Preissteigerungen an.
Streiks und unabhängige Gewerkschaften sind in Ägypten illegal, dennoch dauert die Welle der Arbeitskämpfe seit Ende 2006 an (Jungle World 9/07). Sie werden meist geführt von einer neuen Generation 20- bis 30jähriger Arbeiter, einer potenziellen Führungschicht auch breiterer Proteste. Um den Unmut zu mildern, lässt Mubarak nun seine Soldaten Brot backen und verkaufen, die Regierung will zusätzlich 3,1 Milliarden Dollar für Subventionen bereitstellen.
Den meisten afrikanischen Staaten fehlt das Geld für Subventionen in dieser Größenordnung. Sie behelfen sich eher mit einer Senkung der Importzölle. Den Kleinbauern fällt es dann zwar noch schwerer, ihre Produkte profitabel zu verkaufen. Doch obwohl ihr Bevölkerungsanteil in den meisten afrikanischen Staaten zwischen 60 und 80 Prozent liegt, sind sie weniger gefährlich für die Regierungen, da sie vereinzelt leben und sich meist nicht einmal die Fahrt zu einer Demonstration in der Haupstadt leisten können. Überdies versorgen sie sich im Eigenanbau mit Lebenmitteln.
Die Stadtbevölkerung hingegen ist auf die Lebensmittelmärkte angewiesen. Ein ägyptischer Textilarbeiter verdient kaum mehr als umgerechnet 50 Euro im Monat, in vielen subsaharischen afrikanischen Staaten sind die Löhne noch niedriger, und ein Großteil der städtischen Armen hat überhaupt kein regelmäßiges Einkommen. Für viele geht es um das Überleben.

Die Aufstände verbinden sich häufig mit Protesten gegen autoritäre Herrscher und die in Ägypten als »fette Katzen« bezeichneten Reichen. Möglicherweise wird sich, wie es in Guinea bereits geschehen ist, in manchen Ländern ein Bündnis von Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und Jugendlichen bilden, das eine dauerhafte Gegenmacht darstellt. Bereits jetzt haben die Aufstände die Regierungen und die transnationale Bürokratie schockiert und aufgescheucht. Das ist ein guter Anfang, selbst wenn das Ergebnis vorläufig nur sein wird, dass auch die Armen etwas häufiger »them belly full« haben.