Das Buch »Der Schuldkomplex« von Pascal Bruckner

Glückliche Schuldner

In seinem Buch »Der Schuldkomplex« kritisiert Pascal Bruckner die Nachgiebigkeit der Europäer gegenüber dem Islamismus. Von Uli Krug, dem die Kritik noch nicht weit genug geht
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Es ist in keiner Weise abwertend gemeint, wenn man Pascal Bruckners jüngste Veröffentlichung »Der Schuld­komplex« (»La tyrannie de la pénitence«) als Fortsetzung seiner berühmt gewordenen Streitschrift »Das Schluchzen des weißen Mannes« (1984) begreift. Der »Schuldkomplex« attackiert die gleiche Geis­teshaltung; allerdings nicht etwa, weil Bruck­ner seit einem Vierteljahrhundert nichts Neues einfallen würde, sondern weil die mitt­lerweile domi­nierende Mehrheit europäischer »Kulturschaffen­der« immer noch die gleichen Positionen vertritt: ein larmoyantes Bekenntnis zu Etatismus, Antiamerikanismus und Islamophilie. Das Böse ist stets der Westen, der mit seinem Kolonialismus die ganze Welt verdorben habe und deshalb die Urschuld selbst an jenen Massakern trage, die noch die Nachkommen der ehemals Kolonisierten anrichten. Die sind ihrerseits jeder Verantwortlichkeit für ihr Tun enthoben – von der Westbank bis in die Ban­lieue.
Bruckner wollte diese Ideologie von Selbstbezichtigung und Entmündigung noch nie hinnehmen, wie er immer wieder in Interviews betonte. »In meinem Essay ›Das Schluchzen des weißen Mannes‹ habe ich versucht, die Dritte-Welt-Schwärmerei und den ihr innewohnenden latenten Rassismus zu analysieren und bloßzulegen. Heute hat sich die Thematik geweitet, aber die Arbeit des Denkens ist immer Wühlarbeit, sie besteht darin, verfestigte Normen zu attackieren«, sagte er 1997 der Zeitschrift Kommune. Und kaum etwas ist so verfestigt wie der »Rassismus der Antirassisten« (Bruckner): Was einst einer diffus antiimperialistisch gesinnten Subkultur vorbehalten schien, ist heute längst gesellschaftlicher Mainstream. Das musste nicht zuletzt die ehemalige niederlän­dische Parlamentsabgeordnete Ayaan Hirsi Ali erfahren, als sie in Europa so schmählich im Stich gelassen wurde wie sonst nur dänische Mohammed-Karikaturisten.
Einer, der dieses Zurückweichen vor dem Isla­mismus als liberale Selbstmäßigung auszugeben versucht, ist der britische Historiker Timothy Garton Ash. Hirsi Ali ist ihm zufolge eine »Fundamentalistin der Aufklärung«, ausgerechnet Tariq Ramadan der bessere Gesprächspartner für europäische Regierungen, die Unterdrückung der Palästinenser bzw. Bosnier durch Israelis bzw. Serben schuld an der muslimischen Radikalität und die Verfügbarkeit von Sex und Alkohol ohnehin eine Zumutung für den Gläubigen. »Wir müssen uns darüber klar werden, was an unserem westlichen Lebensstil verhandelbar ist«, schrieb Ash im Oktober 2006 in der New York Review of Books und meinte damit: welche Bereiche der säkularen Gesellschaft um des lieben Friedens willen aufzugeben seien.
In der Debatte, die dieser Text provozierte, war es an Bruckner, Ash und andere Vertreter des innergesellschaftlichen Appeasement bloßzustellen (die zentralen Beiträge zu dieser Debatte sind im Suhrkamp-Taschenbuch »Islam in Euro­pa« enthalten). Bruckners stärkstes Argument dabei ist zugleich eines gegen den kulturalistischen Kollektivismus überhaupt. »Die Kriterien von Recht und Unrecht, von Verbrechen und Bar­barei treten zurück vor dem absoluten Krite­rium des Respekts vor dem Anderen«, kritisierte er. Im gleichen Maße nämlich, wie alle Gemeinschaften und »Kulturen« Immunität gegen Kritik zuerkannt bekommen, wird die Emanzipation des Einzelnen – und im Falle des Islam vor allem: der Einzelnen – unmöglich gemacht; in der Konsequenz ersetzt die Gleichheit der Kollek­tive die Gleichheit der Einzelnen.
Im Kontext dieser Debatte steht auch »Der Schuldkomplex«. Bruckner greift darin alle Motive seiner Kritik am Multikulturalismus und gängigen Antirassismus nochmals auf. Er zeigt, wie aus der einst kritisch gemeinten Denun­ziation des Kolonialismus eine blanke Denun­zia­tion der Aufklärung geworden ist, die sich nicht scheut, jeglicher Tyrannei und jeglicher barbarischen Ideologie Verständnis entgegenzubringen – sofern sie nur mit dem Glorienschein des ehemals Kolonisierten versehen sind. Er wendet sich gegen die angesichts der europäischen Geschichte herrschende »falsche Scham«, die dem politischen Islam den Vormarsch ermöglicht, und den mitleidlosen Antiindividualismus der Kulturrelativisten. Ganz besonders kritisiert er die antikoloniale Sorte Revisionismus, die die Judenvernichtung des 20. Jahrhunderts mit dem europäischen Sklavenhandel der frühen Neuzeit verrechnen möchte. »Der Nationalso­zia­lismus habe an dem Tag begonnen, als der weiße Mann seinen Fuß auf die afrikanische oder amerikanische Erde setzte, um Mord, Chaos und Zerstörung zu säen«, spottet Bruckner. Dass beispielsweise Mauretanien den Sklavenhandel erst 1980 offiziell untersagte, wird dabei gerne unterschlagen. Überhaupt sei »Kolonialismus zu einem Schlagwort geworden, das nicht mehr einen konkreten historischen Prozess, sondern die Gesamtheit all dessen bezeichnet, was man ablehnt, das republikanische Ideal, das französische Modell, den Säkularismus, die Macht der multinationalen Konzerne und noch vieles andere mehr«.
Überzeugend sind zudem die Passagen, in de­nen Bruckner zeigt, wie ausgerechnet diese neue europäische Ideologie in Frankreich staatliche Würden erhält – mit verheerenden Folgen für dasjenige Drittel der Gesellschaft, das in der kartellierten und verbeamteten Arbeitswelt keinen Platz findet. Die Situation ist bizarr: In den Vorstädten herrschen Islamismus und Rackets, während die Etablierten subversiv klingende Phrasen dreschen: »Wenn die Franzosen nach einer ›Erhebung‹ rufen, muss man das als Lobrede auf die etablierte Ordnung und als Hass auf jede Veränderung deuten.«
Und doch ist die manchmal ein bisschen eitle, aber über weite Strecken gelungene Streitschrift in einer Hinsicht zu blauäugig, und zwar in Hin­sicht auf die Motive des europäischen Defätismus. Wo Bruckner letztlich echte Scham vermu­tet, gepaart mit Denkfaulheit und Verantwortungsabwehr, sollte man doch eher an eine Kom­plizenschaft durch Passivität denken. Schon die Wahl des Buchtitels deutet darauf hin, dass der Autor eine zu hohe Meinung von den eigent­lich doch Kritisierten hegt. Mit »Schuld­komplex« nämlich meinte Freud eine übertriebene Bußfertigkeit (französisch pénitence), die aus einem zu strengen Gewissen resultiert. In Europa, insbesondere in Deutschland, herrscht aber doch eher ein berechnender Umgang mit Schuld. Auf sie wird gern verwiesen, wenn man durchaus wissentlich am eigenen antiwestlichen Ressentiment festhalten möchte, nur dessen Ausagieren den vermeintlich »Verdammten dieser Erde« (Fanon) überlässt. Um ihnen die moralische Absolution erteilen zu können, ohne sich die Hände schmutzig machen zu müssen, tritt die europäische Ideologie im Gewande des reuigen Sünders auf: eines solchen nämlich, der stets Israel, wenn es sich verteidigt, mit den Lehren der Geschichte ermahnt. Als »felix culpa«, als glückliche Schuld, hatte Hannah Arendt diese heute noch ebenso verbreitete Haltung bereits 1964 kritisiert.

Pascal Bruckner: Der Schuldkomplex. Vom Nutzen und Nachteil der Geschichte für Europa. Pantheon, München 2008, 12,80 Euro