Neonazis stilisieren Getöteten zum Märtyrer

Märtyrer dringend gesucht

Anfang April wurde in Stolberg ein 19jähriger erstochen. Neonazis versuchen, ihn zum Märtyrer zu stilisieren. Denn der mutmaßliche Täter ist ein Migrant.

Der Streit begann im Internet. In einschlägigen Foren bekriegten sich zwei Gruppen von Jugendlichen aus Stolberg in Nordrhein-Westfalen: Jemand aus der einen soll eine Frau aus der anderen »angemacht« haben. Der Staatsanwaltschaft Aachen zufolge konnte der Konflikt zwar beigelegt werden –, aber als sich die Beteiligten am 4. April plötzlich in der Stadt gegenüberstanden, eskalierte die Situation: Jemand stach mit einem Messer auf den 19jährigen Kevin ein, der im Krankenhaus starb. Am folgenden Tag nahm die Polizei den mutmaßlichen Täter fest. Es ist ein 18jähriger, der in Stolberg geboren wurde, aber staatenlos ist. Die Eltern kommen wahrscheinlich aus dem arabischen Raum. Der mutmaßliche Messerstecher ist also eine Person mit Migrationshintergrund.
Schnell verbreitete sich das Gerücht, das Opfer sei ein Neonazi gewesen, der Täter ein »Ausländer«. Fast schon im Wochentakt laufen nun Neonazis in Stolberg auf. Auf rechtsextremen Veranstaltungen im gesamten Bundesgebiet werden Schweigeminuten »für unseren Kameraden« abgehalten, wie der Vorsitzende der NPD, Udo Voigt, auf einer Demonstration der Partei in Weimar sagte. Kevin wird zum Märtyrer stilisiert, um Hetze gegen Migranten betreiben zu können.

Schon einen Tag nach der Tat marschierten etwa 160 Neonazis am Ort des Geschehens auf. Eine Woche später, am 12. April, fielen ungefähr 800 Rechtsextremisten in Stolberg ein. In Zügen und vier Sonderbussen reisten sie aus der gesamten Bundesrepublik an. Aufgerufen hatten »parteifreie Nationalisten« um Christian Worch, der die Demonstration auch angemeldet hatte. »Kein Vergeben – kein Vergessen« war das Motto der Kundgebung. Neonazis reimen darauf übrigens: »Türken haben Namen und Adressen.« Die »wahre Ursache« der Tat von Stolberg, hieß es im Aufruf, sei die »multikulturelle Gesellschaft, welche Völker ihrer Tradition beraubt, Zwietracht schürt und natürliche Grenzen vernichtet«.
Am 26. April veranstaltet die NPD einen Aufmarsch »gegen Ausländerkriminalität und Inländerfeindlichkeit« in Stolberg unter dem Motto: »Wut wird Widerstand. Sicher leben ohne Multikulti!« Der NPD-Vorsitzende Voigt ist als Redner angekündigt. Antifaschisten befürchten, dass künftig jährlich am 4. April mit solchen Aufzügen zu rechnen sein wird. Denn der Termin soll zum Gedenktag der Szene werden. Entsprechen­de Internetadressen sind bereits eingerichtet, als Vorbild gilt Salem in Schweden. In dem Vorort von Stockholm wurde im Jahr 2000 ein Rechtsextremist bei einer Auseinandersetzung mit Migranten getötet. Seitdem demonstrieren dort jährlich Tausende Neonazis aus ganz Europa.

Aber war Kevin überhaupt ein Neonazi? Im rechtsextremen Internetportal Altermedia wird auf sein Profil im Online-Netzwerk StudiVZ verwiesen. Dort habe er »rechts« als politische Richtung angegeben. In der Gruppe, mit der er am Abend des 4. April unterwegs war, soll auch ein Mitglied der NPD gewesen sein. Auch die Polizei teilte am 5. April mit, dass der Getötete »nach bisherigem polizeilichen Kenntnisstand eine Affinität zur rechten Szene hatte«. Schon in dieser Mitteilung betonte die Polizei aber, dass das Tatmotiv »im persönlichen Umfeld« liege. Das sieht auch die Staatsanwaltschaft so. Noch seien die Ermittlungen zwar nicht abgeschlossen. »Ein politischer Grund ist aber definitiv ausgeschlossen«, sagt Oberstaatsanwalt Robert Deller der Jungle World.
Die Eltern des Erstochenen wehren sich gegen die Behauptung, ihr Sohn sei ein Neonazi gewesen. »Hört auf, über unseren Sohn zu lügen!«, fordern sie auf einem Plakat, das sie am Tatort hinterlassen haben. Sie verweisen auf den Freundeskreis ihres Sohnes, zu dem auch Migranten gehört hätten. Selbst der Stolberger NPD-Ratsherr Willibert Kunkel hat der Aachener Zeitung gesagt, Kevin habe mit der rechten Szene nichts zu tun gehabt. Das hindert die NPD freilich nicht daran, den Tod des 19jährigen zur »Stolberger Blutnacht« zu erklären.
Doch selbst wenn Kevin kein organisierter Neo­nazi war und die Messerstecherei in ähnlicher Form überall hätte passieren können: Es ist kein Zufall, dass sofort örtliche Rechtsextremisten zur Stelle waren, um die Tat propagandistisch auszuschlachten. Denn Stolberg ist schon lange ein wichtiger Ort für Neonazis. Etwa 25 Jahre lang hatte dort die Wiking-Jugend ihren Sitz. Das Treiben der Rechten wurde in der Stadt, die ungefähr 60 000 Einwohner hat, jedoch verschwiegen. So konnten sich die Rechtsextremisten lange ungehindert betätigen. Vor einigen Jahren beteiligten sich etliche an einer ehrenamtlichen Müllsammelaktion – und wurden prompt zusammen mit anderen Bürgern vom damaligen CDU-Bürgermeister für ihre Teilnahme ausgezeichnet.

So konnten sich die Rechtsextremisten in der Stadt etablieren. Im Jahr 1999 zog Willibert Kunkel, damals noch für die Deutsche Volksunion (DVU), in den Stadtrat ein. 2004 konnten die Rechten die Zahl der Sitze verdreifachen. Der zur NPD gewechselte Kunkel, ein weiteres Mitglied der Partei und ein DVU-Mann kamen in den Rat. Es verwundert nicht, dass die NPD 2005 nachträglich ihr 40jähriges Bestehen in Stolberg feierte.
Nach der Wahl eines SPD-Bürgermeisters im Jahr 2005 änderte sich die Passivität in der Stadt. »Stolberg gegen Nazis« ist derzeit auf der offiziellen Homepage zu lesen, »Stolberg hat keinen Platz für Rassismus« auf Schildern am Orts­ein­gang. Und es gibt ein »Bündnis gegen Radikalismus«, das von der CDU bis zu Gewerkschaftern reicht. Es verurteilt alle Versuche, »die schrecklichen Ereignisse« vom 4. April zu politischen Zwecken zu missbrauchen, freilich nicht, ohne sich gegen »Radikalismus jeglicher Form« zu verwahren.
Das Bündnis hat auch eine Demonstration gegen den geplanten NPD-Aufmarsch angekündigt. Sie findet jedoch nicht, wie die Kundgebung des Antifaschistischen Aktionsbündnisses Aachen, am 26. April statt, dem Tag der rechtsextremen Demonstration, sondern am Vorabend. »Wir haben uns entschieden, uns unsere Termine von niemandem diktieren zu lassen«, sagte Bürgermeister Ferdinand Gatzweiler der Jungle World zur Begründung. Die Neonazis dürfte eine solche Gegendemonstration allerdings nicht stören.