Sex & Headshops & Design

Für viele Touristen ist das Rotlichtviertel die Attraktion Amsterdams. Die Stadt­verwaltung hingegen sieht dort ein kriminelles Agglomerat aus Menschenhandel, Geldwäsche und erzwungener Prostitu­tion. Diesen Zustand will sie ändern – ein neuer Nutzungsplan liegt auch schon in der Schublade.

Auf dem kleinen Steg über die Gracht ist kein Durch­kommen mehr. Reporter belagern Mick Har­ren, Fernsehcrews richten die Kameras auf den Schlagersänger, Passanten klopfen ihm anerkennend auf die Schulter. Ein älterer Tourist bahnt sich den Weg durch die Menge, sieht Harren an und sagt empathisch: »I’m from England. Don’t let this die.« Dann ist der Moment gekommen, in dem der Sänger selbst zum Mikrophon greift. »Sie wollen die Wallen kaputt machen. Dagegen sing’ ich jetzt ein Protestlied«, ruft er in den frühen Abend, der auffallend dunkel ist: alle Leuchtreklamen sind ausgeschaltet, auch das Rotlicht brennt nicht – die Wallen, Ams­terdams altes Hafenviertel, das als »Red Light District« weltweite Berühmtheit erlangte, sind im Aufstand. Links und rechts der Gracht bewegen sich überdimensionierte rosa Luftballons im Wind, mit denen Kiezbewohner, Prostituierte, Sympathisanten und Touristen ihrem Unmut Luft machen: Dutzende der Fensterbordelle und Sexshops sollen nach dem Willen der Stadtverwaltung in den nächsten Jahren geschlossen werden. »Ein Mann, von dem ich nie gehört habe, macht aus meiner Stadt ein Dorf«, singt Mick Harren mit Inbrunst und Pathos, um schließlich klagend festzustellen: »Was ist Amsterdam ohne rotes Licht?«

Der Mann, von dem Harren noch nie etwas gehört hat, heißt Lodewijk Asscher und ist der Amsterdamer Stadtrat für Finanzen. Der junge Sozialdemokrat, der wie ein unschuldiger adoleszenter Streber aussieht, hat sich keine Freunde gemacht im Rotlichtviertel, als er im Winter ein großflächi­ges Sanierungsprojekt ankündigte. Statt Sexkinos, Headshops und billigen Imbissklitschen, die ihr Angebot am Fresskick der Drogentouristen ausrichten, will die Stadt mittelfristig Kunstgalerien, schicke Boutiquen und Gastronomie der gehobenen Klasse ansiedeln. Der Grund ist: Die bisherige Geschäftsstruktur sei durchzogen von Frauenhandel, erzwungener Prostitu­tion und Geldwäsche. »Die Zeit, in der wir den schönsten Teil der alten Innenstadt von Gesindel übernehmen ließen, ist vorbei,« sagt Asscher. Allein um den Schutz von Prostituierten geht es der Gemein­de dabei jedoch nicht. Schließlich soll das geplan­te Großreinemachen, nach der Postleitzahl des Vier­tels »Coalitieprojekt 1 012« benannt, die legendäre Schmuddelgegend Amsterdams in einen Hoch­glanzbezirk verwandeln. Die vage im dreistelligen Millionenbereich veranschlagten Kosten will die Stadt gemeinsam mit einem Luxushotel, Kaufhäusern und Banken bestreiten.
Nur ein paar Blocks entfernt von den Wallen sitzt Els Iping in ihrem Büro im Stadthaus an der Amstel. Schon seit Jahren, erzählt die Vorsitzende des Stadtteils Centrum, zu dem das betroffene Gebiet gehört, sei man mit der »physischen Infrastruktur« des Rotlichtviertels beschäftigt, habe den Verkehr beruhigt, die Mauern der Grachten ausgebessert und Überwachungskameras aufgehängt. Doch das »Gleichgewicht zwischen Wohnen, Arbeiten und Ausgehen«, wie sie das nennt, sei noch immer nicht hergestellt. Stattdessen beklagt sie eine »Monokultur von 40 Coffeeshops in zwei Straßen« und eine hohe Anfälligkeit für Kriminalität in der lokalen Geschäftswelt. Zudem sei der Kreis der Unternehmer auf den Wallen geschlossen, da die Häuser »untereinander« verkauft würden. Ihr Fazit lautet: »Also musste im Bereich der Immobilien etwas passieren.« Die Maß­nahme, die die Stadt ergreift, trägt einen bemerkenswerten Namen. Das »Gesetz zur Beförderung von Integritätsbeurteilungen durch die öf­fent­liche Verwaltung«, kurz Bibob genannt, wurde vor fünf Jahren eingeführt, um städtischen Behör­den mehr Einfluss auf die Genehmigungen von Gastronomiebetrieben und solchen der Sexbranche zu geben. Besteht die »ernste Vermutung«, dass jemand sein Geld mit illegalen Aktivi­täten verdient oder daran in Zukunft Gefallen finden könnte, kann die Genehmigung entzogen oder ver­weigert werden. »Kriminogen« ist das Schlagwort für diese Verbrecher im Stand-by-Modus.
In den vergangenen Jahren wurde das Gesetz verstärkt auf Sex-Unternehmer und Hausbesitzer angewandt, die auf den Wallen Zimmer an Pros­tituierte vermieten. Beispielhaft ist der Fall der Kiezlegende Charles Geerts, besser bekannt als »Dikke Charles«, dem ungefähr 35 Prozent der Räu­me im Rotlichtviertel gehörten. Vor zwei Jahren enzog ihm die Gemeinde auf der Grundlage des Bibob-Gesetzes seine Genehmigung. ­Geerts setzte zunächst per einstweiliger Verfügung durch, sein Geschäft weiter betreiben zu können. Kurz darauf wandte sich jedoch eine Projektentwicklungs­firma an ihn, die in Zusammenarbeit mit der Gemeinde regelmäßig Restaurierungen im historischen Zentrum Amsterdams durchführt. Man bot ihm 25 Millionen Euro, wenn er seine 17 Gebäude abtrete, ein Preis, der sich nur rechnet, wenn die Häuser zur Prostitution genutzt werden. Geerts ließ sich auf den Deal ein. Für den entstandenen Wertverlust entschädigte die Gemeinde ihren Partner mit 15 Millionen Euro. Seitdem haben weitere Wohnungsbaugesellschaften mit Besitzern von Prostitutionsimmobilien Verhandlungen aufgenommen. Gleichzeitig droht die Stadt mehreren Geschäftsleuten, ihre Genehmigungen nicht zu verlängern.

Viel Zuversicht gibt es daher auf den Wallen derzeit nicht. Schon gar nicht bei Wim Boef, dem Sprecher der Platform 1 012, in der sich rund 80 Geschäftsleute zusammenfanden, um das Quartier so zu erhalten, wie es ist – »und zwar mit Pros­titution, mit Coffeeshops und mit billigen Esslokalen«. Boefs Nachname bedeutet »Dieb«, ansonsten aber passt er nicht in das Klischeebild eines Rotlichtunternehmers: »Ich rauche nicht, trinke keinen Tropfen Alkohol, und mit Gras habe ich nichts am Hut. Auch die Damen werden an mir nicht reich, denn ich betreibe die Herren­liebe«, beginnt er. Doch sein charmanter Plauder­ton kommt ihm schnell abhanden, wenn er über die Pläne der Gemeinde auf den Wallen spricht. »Alle Unternehmer haben Angst«, sagt er, und mit der Unsicherheit einher gehe die Wut. Wut über das Aufkaufen der Häuser, darüber, dass Hausbesitzer wie Geerts zwar nie verurteilt, aber dennoch öffentlich als Verbrecher vorgeführt würden, und vor allem über das Bild, das die Stadt vom Rotlichtviertel entwirft: »Der Bürgermeister stellt dies hier als ein großes Sodom und Gomorrha dar. Wenn es Kriminalität gibt, sagen wir: Dann packt sie an! Aber sie stigmatisieren ein ganzes Viertel!« Das Bibob-Gesetz, das die lokale Geschäftswelt eigentlich begrüßt habe, habe sich zum Instrument einer pauschalen Verdächtigung entwickelt. »Jeder hängt an einem Draht, den die Gemeinde nur zu kappen braucht. Sie müs­sen nicht einmal begründen, auf welcher Grundlage jemand als kriminell bezeichnet wird. Das ist Kafka an der Amstel.«
Mit seiner Genehmigung hat Jan Broers keine Probleme. »Alles ist kontrolliert in meinem Betrieb. Die Mädchen, die in meinen Räumen arbeiten, sind alle selbständig«, erklärt der Sekretär des Kooperationsorgans der Fensterbordell-Betrei­ber. Seit 30 Jahren vermietet er Räume an Pros­ti­tuierte. Dazu hat er ein Hotel mitten auf der über­laufenen Hauptstraße. »Mit Herz und Seele« hän­ge er an seinem Viertel, »und darum ärgert es mich fürchterlich, dass sie der ganzen Gegend die­ses ›Kriminell‹-Schild umhängen. Gegen eine Sanierung habe ich nichts, wenn sie die Süchtigen und die Dealer rausschmeißen wollen, bitteschön. Auch das Bibob-Gesetz ist kein Problem, wenn sie es richtig einsetzen. Immerhin wurde noch kein einziger Laden wegen Frauenhandel ge­schlossen oder weil Minderjährige beschäftigt werden, und auch noch keiner wegen Geldwäsche. Was die Stadt macht, ist Entmutigungspolitik. Dieses Jahr wollen sie mit der Prostitution fertig sein, danach nehmen sie sich die Coffeeshops vor. Dabei kommen die Leute doch genau darum nach Amsterdam. Die schicken Einkaufsstraßen sind doch nach sechs Uhr abends tot.« Dass es der Gemeinde um den Schutz der Prostituierten geht, glaubt Jan Broers nie und nimmer: »Die 17 Gebäude, die sie schon aufgekauft haben, haben rund 50 Fenster. Inklusive der Tag- und Nachtschicht sind das 100 Prostituierte, die ihren Arbeitsplatz verlieren. Aber das kümmert sie nicht.« Broers zeigt auf ein Poster, das einige Unternehmer gestaltet haben. Eine Frau im Minirock beugt sich auf dem Straßenstrich ins Auto eines Freiers. »Vielen Dank, Asscher«, ist darunter zu lesen. »Ist es das, was du willst?«

An diesem Punkt setzt auch Metje Blaak von der Prostituierten-Vertretung De Rode Draad an: »Bürgermeister Cohen sagt schon seit Jahren, dass gegen Zuhälter vorgegangen werden muss, und da hat er völlig Recht. Aber jetzt nehmen sie sich die Bordellbetreiber vor und schütten das Kind mit dem Bade aus. Sie wollen die Branche beherrschbar machen, aber sie erreichen das Gegenteil, denn die Mädchen werden untertauchen, und die Prostitution geht im Untergrund weiter.« Aus ihren Gesprächen mit rund 100 Frauen weiß sie, dass trotz der unsicheren Zukunft keine von ihnen ans Aufhören denke. »Nicht die Selbständigen und noch weniger die Gezwungenen, denn sie haben große Angst, dass sie irgendwo landen, wo sie völlig außer Sicht sind.« Hinter den rot be­leuchteten Fenstern der Wallen dagegen seien die Prostituierten sicher, sagt Blaak, die auch aus dem Fach kommt. »In jedem Raum gibt es einen Alarmknopf, und wenn sie den drücken, stehen innerhalb von zwei Minuten alle Bordellbetreiber mitsamt der Polizei vor der Tür, denn im ganzen Viertel geht der Alarm an.«
Auch Mariska Majoor macht sich keine Illusionen über die Zukunft: »Natürlich gibt es hier illegale, erzwungene Prostitution. Durch die Pläne der Gemeinde wird das Problem aber nicht gelöst, denn für einen Zuhälter bedeuten weniger Fenster nicht, dass er aufhört. Für die Prostituierten dagegen nimmt der Druck schon jetzt zu. Wenn es weniger Fensterbordelle gibt, erhöhen sich die Preise. In dieser Branche lässt sich das aber nicht so einfach auf den Kunden abwälzen. Doch Prostituierte beschweren sich nicht, weil sie sich immer danach richten, was die Nachbarin verdient.« Mariska weiß, wovon sie spricht, im­mer­hin hat sie fünf Jahre lang selbst auf den Wallen gearbeitet, ehe sie 1994 das Prostitutions-Informationszentrum PIC eröffnete. »Als ich selbst im Fach war, vermisste ich einen Ort, an dem Menschen, die ein- oder aussteigen wollen, sich informieren können, der aber auch Studenten, Besuchern und Kunden als Anlaufstelle dient.«
Sexarbeit ist in den Niederlanden seit acht Jahren legal. Mariska findet dennoch, dass Prostitution noch immer als ein gesellschaftliches Problem gelte. »Die Stadt geht davon aus, dass sie Seelchen retten, wenn sie die Fenster schließen.« Auch in ihrer Nachbarschaft wird sie bald verwais­te Vitrinen sehen können, denn der pflastersteingesäumte Platz um die mittelalterliche Oude Kerk herum, an dem das PIC liegt, spielt in den Plänen der Stadt eine wichtige Rolle. Noch ziehen sich die roten Lichter rund um die Kirche. Doch einer der beiden großen Vermieter hat seine Häuser bereits verkauft, und im April sollen die ersten 18 Vitrinen geschlossen werden. Was danach passiert, liegt im Dunkeln. Mariska hat allerdings eine Befürchtung: »Werden sie da auch diese komischen Modebetriebe reinsetzen?«

Ihre widersprüchliche Betrachtungsweise ist Mariette Hoitink durchaus bewusst. Einerseits zieht ihr Projekt Red Light Fashion, das Ausstellen von Designermode in von der Gemeinde aufgekauften ehemaligen Prostitutionsfenstern, weltweites Medieninteresse auf sich. Andererseits ist es als ein sichtbares Zeichen der Veränderung im Quartier nicht allzu beliebt. »Ich verstehe die Angst der Leute hier. Mich würde es auch verrückt machen, wenn ich nicht wüsste, ob ich mein Geschäft nächstes Jahr noch hätte.« Ihre Agentur HTNK, die Designer und Produktmanager ver­mittelt, sitzt schon seit Jahren auf den Wallen. Die Initiative für Red Light Fashion entstand, als im vorigen Frühjahr zwei Vertreter der Stadt Hoitink von dem Plan erzählten, auf dem Kiez Immo­bilien zu erwerben. »Da es in Amsterdam einen großen Bedarf an bezahlbaren Ausstellungsräumen gibt, schlug ich ihnen vor, etwas mit Modedesign zu machen. Ein halbes Jahr später kamen sie zurück: Sie erzählten, sie hätten die Häuser von Charles Geerts gekauft und ob ich 15 Designer wüsste, die darin arbeiten und leben wollten?« Kurz nach dem Jahreswechsel begann das Projekt. Alle zwei Wochen müssen die ausgewählten Künstler nun ihre Auslagen ändern. Dafür stellt ihnen die Stadt ein Jahr lang die ehemaligen Bordelle als Wohnateliers zur Verfügung – zum Nebenkostenpreis. Mariette Hoitink ist begeistert von dem Ambiente. »Zum ersten Mal werden niederländische Designer einem großen Publikum sichtbar gemacht – und das auf eine typische Amsterdamer Art, nämlich sehr kontrovers.«

Designermode neben Prostituierten – diese Kom­bination ist zweifellos der Blickfänger des Wandels auf den Wallen. Im Gesamtkonzept des Coalitieprojekt 1 012 spielt beides jedoch nur eine Nebenrolle. »Wir haben einen breiten Ansatz, doch alles interessiert sich nur für die Huren«, sagt Els Iping in ihrem Büro über der Amstel. Dass der Kampf gegen illegale Prostitution ebenso ein Nebenschauplatz ist, gibt die Stadtteilvorsitzende freimütig zu. »Uns geht es um Entwicklung, die nur möglich ist, wenn die Kriminalität zurückgedrängt wird.« Das Bibob-Gesetz dient dem stadtplanerischen Anspruch, mit der Funktion des Vier­tels auch das Publikum zu verändern: »Wir wollen nicht Touristen mit etwas anziehen, auf das wir nicht stolz sind.« Umgekehrt sei die heutige Klientel auch nicht die umworbene Zielgruppe. Wen die Stadt dagegen sehr wohl durch ihr künftiges Vorzeigequartier flanieren sehen will, weiß Els Iping auch: »Touristen, die eine bildhübsche Stadt mit einer toleranten Atmosphäre und sehr viel Kultur wollen.«