Gespräch mit Karsten Voigt, SPD-Politiker

»Alles änderte sich im Juni 1967«

Karsten Voigt (67) ist Koordinator der Bundesregierung für die deutsch-amerikanische Zusammenarbeit. Er war von 1969 bis 1972 Bundesvorsitzender der Jusos. Bis 1973 war er Vizepräsident der International Union of Socialist Youth.
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Wenn heute Linke ihre Solidarität mit Israel bekunden, wie kürzlich Gregor Gysi, gilt das schon fast als Sensation. Insgesamt hat man es in der Linken mit Kritik an Israel und Anti­zio­nismus zu tun. Das war nicht immer so. Wann hat sich das verändert?

Man kann das Datum der Wandlung genau benennen: Juni 1967. Bis zum Sechs-Tage-Krieg ist Israel innerhalb der Linken überwiegend als ein bedrohtes Land wahrgenommen worden. Bis dahin war klar, was nach wie vor gilt, dass man den Selbstbehauptungswillen Israels nicht verstehen kann ohne die traumatische Erfahrung des Holocaust, und dass Deutschland eine nicht nur moralische, sondern auch politische Verpflichtung hat, sich für das Existenzrecht Israels einzusetzen. Auch war danach klar, dass es insbesondere die Linken sind, die diese Konsequenz aus der Geschichte ziehen. Bis 1967 bestanden – subkutan – eher auf der konservativen Seite Vorbehalte gegen Israel, während die Linke sich mit Israel, der dortigen Kibbuzim- und Gewerkschaftsbewegung, identifizierte.

Worin zeigte sich das praktisch?

Ich erinnere mich sehr genau, dass es, als der Krieg ausbrach, in Frankfurt, wo ich lebte und wo auch der Bundesvorstand des SDS war, noch einmal möglich war, eine Solidaritätserklärung und Demonstration für Israel zu organisieren, da war der SDS noch dabei. Der SDS hatte zwar erst gezögert, weil er Israel als Verbündeten der Hauptvormacht des Imperialismus, der USA, sah, konnte sich dann aber noch einmal zur Unterstützung Israels durchringen. Das war allerdings das letzte Mal. Der Krieg fand ja fast zeitgleich mit der Erschießung Benno Ohne­sorgs statt, das hat sich auch bei den Demons­trationen überlappt. Die Mehrheit der außerparlamentarischen Linken, genauer der Sprecher der Bewegung, fing dann an, sich mit der PLO zu identifizieren, und fühlte sich später auch zum bewaffneten Kampf in Deutschland hingezogen. Einige aus der Frankfurter Szene sind in Ausbildungslager der PLO im Nahen Osten gefahren.

Gab es auch eine Gegenbewegung?

Es gab in Frankfurt einen Diskussionskreis zwischen linken Juden, zu denen Dan Diner und Micha Brumlik gehörten, und Palästinensern. Die traten ein für einen säkularen Staat, in dem Palästinenser und Juden friedlich zusammen leben sollten. Ich habe mich damals heftig mit denen auseinandergesetzt, weil ich der Meinung war, das wird nicht klappen, dass das faktisch dazu führen würde, dass die Juden im Nahen Osten in ihrer Existenz gefährdet werden. Einige der Leute, die damals für dieses Konzept waren, mussten später feststellen, dass ein Teil der Leute, mit denen sie diskutiert hatten, als Motiv nicht ein friedliches Zusammenleben zwischen Juden und Arabern hatten, sondern letztlich die Abschaffung des jüdisch geprägten Staates Is­rael.

Wie standen denn die Jusos damals zu Israel?

Wir waren in dieser Frage ziemlich klar. Wir waren die einzige Jugendorganisation einer Partei, die ständige Beziehungen zu Israel hatte, zur Jugendorganisation der Arbeiterpartei und zu der linkeren Mapam. Es gab regelmäßige Delegationsbesuche. Die Konservativen hatten damals keine direkten Parteibeziehungen, weil die konservativen Parteien in Israel den Kontakt zu Parteien in Deutsch­land ablehnten. Ich selbst war 1970 erstmals in Israel. Ich bin auch in der Westbank gewesen und habe dort Kontakt zu arabischen Linken gehabt. Das galt bei uns als normal und wurde auch von unseren israelischen Partnern mitorganisiert. Wenn wir über den Nahen Osten sprachen, waren die Israelis mit dabei.

1973 gab es aber Zerwürfnisse bei den Jusos.

1973 hat sich das geändert. Ich als Bundesvorsitzender und später Stellvertreter hatte eine informelle Absprache mit den israelischen Partnern, dass wir keine Resolution verabschieden, ohne sie vorher über den Inhalt zu informieren und mit ihnen darüber zu reden. Im Zuge des wachsenden Einflusses von israelkritischen Strömungen auch bei den Jusos, dazu gehörten der heutige Abgeordnete Rudolf Bindig und Heidemarie Wieczo­rek-Zeul, wurde eine Resolution verabschiedet, bei der es um die damals ja noch umstrittene Zwei-Staaten-Lösung ging. Die war vom Inhalt akzeptabel, aber die Form, die vorherige Information und Absprache mit den israelischen Partnern, wurde missachtet. Zu Recht haben die Israelis daran Kritik geübt. Dass das Verfahren nicht beachtet wurde, war natürlich kein Zufall, sondern zeigte eine Veränderung der Stimmungslage gegenüber Israel auch bei den Jusos. Alles in allem haben die engen Kontakte nach Israel die Jusos aber davor bewahrt, auf den antizionistischen Zug aufzuspringen, der große Teile der Linken erfasst hat und in der DDR ja sowieso dominant war.

Wie erklären Sie den Schwenk der Linken beim Sechs-Tage-Krieg?

Das hatte verschiedene Gründe, antiamerikanische, und dass man bewaffnete Befreiungsbewegungen der Dritten Welt romantisierte. Eine Rolle spielte auch, dass die Springer-Presse sich hinter Israel stellte, und zwar gerade mit Argumenten, die die Linken nicht so gerne sahen, nämlich dass sich Israel auch militärisch verteidigen müsse. Und Springer war innenpolitisch nun mal der Feind der Linken. Da fing man an zu sagen: Wenn Springer und die Amerikaner für Israel sind, dann muss man dagegen sein. Dazu kam eine Umkehrung der Täter-Opfer-Rollen. Die Kritik an Israel und die Identifikation mit den Palästinensern bot, zynisch gesprochen, die schöne Gelegenheit, Juden als Täter und Palästinenser als Opfer zu definieren und sich damit indirekt von der deutschen Verantwortung zu entlasten.

Das war für Ihre israelischen Partner sicher schwierig nachzuvollziehen.

Ich habe mal einen Vortrag in Israel gehalten und erklärt, dass sich Deutsche und Israelis leicht missverstehen. Beide beziehen sich auf den Holocaust, aber aus unterschiedlichen Sichtweisen. Die Deutschen wollen seitdem nie mehr Täter sein, immer friedlich und multilateral, die Israelis wollen nie wieder Opfer sein und wollen sich deshalb nur auf ihre eigene militärische Stär­ke verlassen und sind skeptisch gegenüber multilateralen Vereinbarungen. Man kann aus der gleichen Geschichte offenbar unterschied­liche Lehren ziehen. Ich habe viele Diskussionen erlebt, wo Deutsche mit großem Pathos versuchten, Israelis darüber zu belehren, was man aus dem Holocaust lernen solle, und gesehen, wie dabei nur eine spezifisch deutsche Sichtweise reproduziert wurde.
Jemand, der – schon als er Parteivorsitzender der SPD war – ein typisch deutsches Element der Diskussion verkörpert, ist Oskar Lafontaine. Das zeigt etwa seine Äußerung, man müsse verstehen, dass der Iran Atombomben will, wenn Is­rael auch welche habe. Wobei er den Unterschied außer Acht lässt, dass Israel nicht das Existenzrecht des Iran in Frage stellt, sondern umgekehrt. Oder seine Äußerung, die in die Richtung ging, dass man, wenn man deutsche Schiffe vor die Küste Libanons schickt, die deutsche Neutralität zwischen Hizbollah und Israel aufgäbe.

Wer waren in den siebziger Jahren die treibenden Kräfte in Sachen Antizionismus?

Eindeutig immer jene, die DKP-nahen Gruppen nahe standen. Das war zwar eine Minderheit bei den Jusos, aber die waren sich immer einig: Der Hauptfeind ist der Imperialismus, und wer mit ihm verbündet ist, ist selbst Teil des Problems. Außerhalb der Jusos waren es jene Kräfte, die später selbst Teil des bewaffneten Kampfs wurden.

In Frankfurt kam es auch unabhängig von Israel während des Häuserkampfs zu antisemitischen Ausfällen in der Linken.

Ich war Ortsvereinsvorsitzender der SPD im West­end. Die erste Hausbesetzung wurde nicht vom Revolutionären Kampf, sondern von Juso-nahen Gruppen organisiert. Ich habe damals dafür plädiert, die Grund- und Bodenprobleme, die zur Spekulation führten, zu thematisieren, die gesell­schaftlichen Ursachen. Denn wenn man das nicht täte, würde man beginnen zu personalisieren, was schnell zum Antisemitismus neigt. Die Hauptgrundbesitzer waren deutsche Banken, da konnte man nicht personalisieren. Personalisieren konnte man nur bei den weniger großen Investoren, und darunter waren in Frankfurt viele Juden. Ein Teil der Sozialdemokraten, aber auch der außerparlamentarischen Opposition meinte jedoch, man müsse Bündnisse mit den Bürger­lichen eingehen, und das ging nur in personalisierten Kampagnen gegen die Spekulanten, nicht mit Kapitalismuskritik. Endergebnis war dann zum Beispiel das antisemitische Theaterstück des sich selbst als links verstehenden Rainer Werner Fassbinder, »Der Müll, die Stadt und der Tod«, das dann ja zu Recht mit einem Go-in gestört wurde. An dem Go-in war ich selbst beteiligt.

Ihre Nachfolgerin, die gegenwärtige Bundesvorsitzende der Jusos, Franziska Drohsel, hat sich neulich in einem Welt-Artikel sehr engagiert gegen Antizionismus in der Linken ausgesprochen. Könnte sie damit auch die Sozialdemokratie gemeint haben?

Das glaube ich nicht. In der SPD gibt es Einzelne, die antizionistische Positionen vertreten, aber insgesamt ist die SPD immer noch sehr eng mit der israelischen Sozialdemokratie verzahnt. Und sie ist ja auch von Juden gegründet worden und hat auf dem vergangenen Parteitag auch erklärt, dass die jüdische Identität Teil ihrer Geschichte ist. Aber es ist offensichtlich, dass Leute, die früher bei den Jusos DKP-nahe Positionen eingenommen haben, ihren Antizionismus heute noch vertreten, wie etwa Norman Paech, der das aber jetzt bei der Linkspartei tut. Mein Eindruck ist ohnehin, dass jene, die in der Linkspartei aus dem Westen kommen, anti­zionistischer sind als die aus dem Osten. Letztere haben damit begonnen, das historische Erbe der SED kritisch aufzuarbeiten. Deswegen ist es nicht ganz zufällig, dass Gregor Gysi sich kritisch zu diesen antizionistischen Einflüssen äußert – und dass Oskar Lafontaine dazu schweigt.