Der Boom der Computerspielindustrie

Gameboys und Konsolengirls

Die Computerspielindustrie boomt nicht zuletzt dank prekärer Arbeitsbedingungen sowohl in der Software- als auch in der Hardwareproduktion.

Kürzlich hat der Spielehersteller Ubisoft die Eröffnung eines neuen Entwicklungsstudios in Kiew bekannt gegeben. Die ukrainische Hauptstadt hat sich in den vergangenen Jahren zu einem Zentrum der IT-Industrie entwickelt, und auch in anderen Ländern Osteuropas wie etwa Rumänien, aber ebenso in Südostasien sind die großen Spielehersteller seit geraumer Zeit aktiv, um sich die billige Arbeitskraft junger motivierter Spiele-Entwickler zu sichern.
Die Computerspielindustrie ist inzwischen längst aus dem Schatten anderer traditionell wichtiger Sektoren der Medienindustrie herausgewachsen. Im ersten Halbjahr 2007 betrug der Umsatz der Branche allein in Deutschland 873 Millionen Euro, was im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Jahres 2006 einen Anstieg um 29 Prozent bedeutet. »Der Spielemarkt hat inzwischen eine beachtliche Größe erreicht. Er ist heute ähnlich bedeutend wie etwa die Film- oder Musikindustrie«, sagt Manfred Gerdes, Präsidiumsmitglied des Bundesverbands Informationswirtschaft, Telekommunikation und Neue Medien (Bitkom). Hauptverantwortlich für das Wachstum sind vor allem Konsolen und Konsolenspiele, während der Verkauf von PC-Spielen nicht ganz so rasant ansteigt.

Das Wachstum der Konzerne führt inzwischen zu verschärfter Konkurrenz und Übernahmeversuchen. So versuchte der weltweit größte Spielehersteller Electronic Arts (EA) Ende Fe­bruar, mit einem Angebot von zwei Milliarden Dollar den Konkurrenten Take Two, bekannt für seine »Grand Theft Auto«-Spiele, aufzukaufen. Doch Take Two benutzte das Interesse zweier weiterer Unternehmen, um den Preis seiner Aktien um 50 Prozent in die Höhe zu treiben.
Nintendo (Jahresumsatz 6,4 Milliarden Euro), Electronic Arts (2,4 Milliarden), Konami (1,8 Milliarden), Activision (1,2 Milliarden) und Square Enix (knapp 1,1 Milliarden) kämpfen erbittert um Marktanteile. Auch etwas kleinere Unternehmen wie THQ, Take Two, Ubisoft, Capcom und Infogrames, die jährlich zwischen 300 und 800 Mil­lionen Euro umsetzen, werden dabei potenziell zu Übernahmekandidaten.
Mit der wachsenden Bedeutung der Spiele-­Industrie rücken auch die Arbeitsbedingungen der dort Beschäftigten ins Blickfeld. Vor allem die überlangen Arbeitszeiten, prekären Beschäftigungsstrukturen und schlechten Löhne der Spiele-Entwickler und Programmierer werden thematisiert. So forderte die Bundestagsfraktion der Linkspartei kürzlich die Einführung eines »Fair-Work«-Siegels für Computerspiele, um sicherzustellen, dass nur noch Firmen staatliche Zuschüsse erhalten, die faire Arbeitsbedingungen nachweisen können. Enrico Rappsilber, Bil­dungs­manager der »Games Academy«, konnte angesichts des Antrags der Linkspartei letztlich nicht anders als zu bestätigen, dass der Erfolg der Spiele auf der Ausbeutung von Arbeits­kraft beruht. »Bei der Computerspiel-Branche handelt es sich um einen boomenden Markt, für den enorm viel Nachwuchs gesucht wird«, erklärte er. Der Einstieg erfolge häufig durch ein Praktikum. Einstiegsgehälter bewegten sich theoretisch zwar im Bereich von rund 2 000 Euro brutto monatlich, doch in der Praxis würden sie weit geringer ausfallen.
Wirklich neu ist die Klage über niedrige Löhne, nicht geregelte Arbeitszeiten und ungesicherte Beschäftigung in der Branche nicht. So wurden deswegen bereits 2004 in den USA Gerichtsprozesse etwa gegen Electronic Arts geführt. Ein ano­ny­mer Spiele-Entwickler bei EA beschrieb in seinem Weblog die Arbeitsbedingungen als »moderne Sklaverei«: Während der Anfangsphase der Entwicklung eines Spiels hätten seine Chefs von ihm und seinen Mitarbeitern verlangt, acht Stun­den pro Tag und sechs Tage in der Woche zu arbeiten. Als Begründung habe man ihm gesagt, das sei nur eine vorübergehende Maßnahme, um mit den Terminen nicht in Verzug zu kommen. Doch obwohl alle Termine eingehalten worden seien, hätten die Entwickler später zwölf Stunden an sechs und in der Endphase gar zwölf Stunden an sieben Wochentagen arbeiten sollen, was zur Folge gehabt habe, dass viele Mitarbeiter über Augenflimmern, Kopfschmerzen und Magenprobleme klagten. Zudem leide die Konzen­tration nach einigen Stunden Bildschirmarbeit, wodurch sich mehr und mehr Programmierfehler eingeschlichen hätten, berichtete der Ent­wick­ler.
In seiner Studie über die Video- und Computerspielindustrie analysiert Nick Dyer-Witheford den Kontext der Ausbeutungsverhältnisse in der Spiele-Entwicklung als »einer jungen Industrie, die ihre Mitarbeiter aus eben der Jugendkultur rekrutiert, die sie selbst geschaffen hat, in erster Linie aus einem Pool technikbegeisterter junger Männer, die durch permanentes Spielen mit Gamedesign vertraut sind. Dazu gehört die Organisation von sanftem Druck und mystifizierter Ausbeutung mit vielen Überstunden, physischem und psychischem Burnout, permanenter Unsicherheit, jenseits von gewerkschaftlicher Organisierung und gesetzlichem Arbeitsschutz.« Der Branchenverband »International Games Developers Association« (IGDA) versuchte vor drei Jahren, durch eine Studie ein genaueres Bild des neuen Softwareproletariats zu erhalten, und kam zumindest für den englischsprachigen Raum (USA, Kanada, Großbritannien, Australien) zu einem eindeutigen Ergebnis: Der durchschnittliche Spiele-Entwickler ist männlich (88,5 Prozent), weiß (83,3 Prozent) und etwa 31 Jahre alt. Fast alle befragten Entwickler haben eine College- oder Universitätsausbildung. Die Fluktuation ist hoch, und die durchschnittliche Verweildauer in der Branche liegt bei nur fünfeinhalb Jahren, was auch die Autoren der Studie mit extremen Arbeitsbedingungen und dem daher rührenden unvermeidlichen Burnout erklären.

Vor allem in Indien sehen die internationalen Marktführer ein Potenzial. Zumindest für einen Teil der Entwicklung wie das Art-Design bieten sich indische Firmen an. »Unser Hauptvorteil ist, dass wir niedrige Kosten mit einem Übermaß an kreativem Talent und Entwicklerfähigkeiten kombinieren«, sagt Rajesh Rao von Dhruva Interactive in Bangalore. 1998 erhielt das Unternehmen den Auftrag, einen Teil des Spiels »Mission: Impossible« zu entwickeln. Seitdem ist die Firma, wie auch andere in der sich entwickelnden Softwarebranche Bangalores, Hyderabads oder Delhis, mit den internationalen Spielekonzernen im Geschäft.
Aber auch dort, wo die Hardware, also die Spielkonsolen, zusammengeschraubt wird, vor allem von Frauen in China und Mexiko, auf den Philippinen oder in Indonesien, herrschen katastrophale Arbeitsbedingungen. Allerdings haben die Montagearbeiterinnen – anders als die Spiele-Entwickler – in einigen Fällen bereits begonnen, sich gegen die Arbeitsbedingungen zu wehren, beispielsweise in einem mexikanischen Subunternehmen von Nintendo. Dort montierten Frauen bis zwölf Stunden täglich Gameboy-Konsolen für Gehälter, die unterhalb der Armutsgrenze lagen. Im Sommer brachen etliche Arbeiterinnen in der Hitze zusammen. Auf Versuche gewerkschaftlicher Organisierung reagierte die Firma mit Schlägertrupps, massiver Einschüchterung und Entlassungen. Der Konzern gab erst nach, als mexikanische und US-amerikanische Gewerkschaften das Ereignis zum Negativbeispiel für die Arbeitsbedingungen innerhalb der nordamerikanischen Freihandelszone Nafta erklärten.
Dass die Produktion von Hardware und die Entwicklung von Software, materielle und immaterielle Arbeit, zwei Seiten einer Medaille sind, ist eine banale Erkenntnis. Doch die Arbeiterinnen in den Computer- und Konsolen-Sweatshops scheinen den Spiele-Entwicklern um einiges voraus zu sein, jedenfalls hinsichtlich der Organisierung in Gewerkschaften, um so bessere Arbeitsbedingungen zu erkämpfen.