Olympia, Tibet und der chinesische Nationalismus

Mauer aus Fleisch und Blut

Chinesische Demonstranten waren in Hong­kong weit zahlreicher als Protestierende gegen den Fackellauf. Die chinesische Regierung fördert nationalistische Proteste, will sie jedoch auch kanalisieren.

Seit drei Stunden steht die Gruppe chinesischer Studenten nun schon auf dem Treppenabsatz im Central District Hongkongs; sie verteilen Aufkleber (»Go, Go China!«) an vorbeieilende Geschäftsleute und singen die chinesische Nationalhymne, den »Marsch der Freiwilligen«. Die Studenten sind gekommen, um die Fackel »zu be­schützen«. Ihre Stimmen kämpfen gegen den Straßenlärm an: »Lasst uns aus unserem Fleisch und Blut die neue Mauer bauen.« Noch wirken sie mit ihren Fahnen und ihrem Gesang verloren in dem hektischen Fi­nanzdistrikt, es wird noch wei­tere drei Stunden dauern, bis die Fackel an dem Treppenabsatz vor­beigetragen wird. Erst eine Stun­de vorher wird die Polizei die Straße absperren und den Verkehr umleiten. Wenn es soweit ist, wird eine Menschenmenge aus »tausend Leibern, einem Herz« die Straße säumen. Die Fackel wird sicher sein.
In Hongkong haben die olympischen Fackelträger Anfang Mai wieder Fuß auf chinesischen Boden gesetzt. Nach den Aufständen in Lhasa und den Protesten in London, Paris und San Fran­cisco wurden die Diskussionen in Hongkong von Tag zu Tag hitziger oder auch überhitzt, wie manche Beobachter in der chinesischen Sonderverwaltungszone befürchteten. »Asia’s World City«, wie die Metropole in den Prospekten der Tourismusbehörde angepriesen wird, verbindet China mit dem Westen, auch in politischer Hinsicht. Seit der Übergabe des Gebiets im Jahr 1997 will Hongkong beides, teilhaben am chinesischen Wirtschaftswunder und zugleich den Beweis dafür antreten, dass in China auch Platz für die Men­schenrechte ist.
Besonders stolz sind die Hongkonger deshalb auch auf ihre Presse- und Meinungsfreiheit und das Demonstrationsrecht. Festgeschrieben sind die demokratischen Grundrechte im Basic Law, der zwischen Großbritannien und China ausgehandelten Verfassung. Und zumindest im Prinzip schätzen die Hongkonger auch ihr Demons­tra­tionsrecht. Doch die vorangegangenen Demons­trationen während des Fackellaufs halten einer Umfrage der South China Morning Post zufolge neun von zehn Hongkongern für unangebracht und respektlos gegenüber China.

Das Orange der Demokratiebewegung ging am Tag des olympischen Fackellaufs dann auch im Rot der Olympia-Patrioten unter. Ein ursprünglich geplanter alternativer Fackellauf musste abgesagt werden, weil die Polizei den Demonstranten keine Sicherheitsgarantie geben konnte oder wollte. Die wenigen Protestierenden, die es am Tag des Fackellaufs an die Strecke schafften, sahen sich dann auch schnell mit der Wut der feiernden Massen konfrontiert, wurden angefeindet und bedrängt. Wer dem Druck nicht standhielt, ließ sich von der Polizei in Sicherheit bringen, wer dem Druck standhielt, wurde »zur eigenen Sicherheit« weggebracht.
Christina Chan gleich zweimal. Die Philosophie­­studentin hatte sich bereits in der Vorwoche einen Namen in der Lokalpresse gemacht, weil sie die Flagge Tibets aus dem Fenster des Studentenwohnheims hängen ließ. Sie erhielt zahlreiche E-Mails, in denen sie mit wüsten Drohungen (»Wenn Worte dich nicht stoppen, dann werden Taten es tun«), unter anderem als »Verräterin am Han-Chinesentum«, beschimpft wurde. Nicht wenige der Olympia-Patrioten trugen während des Fackellaufs Schilder mit der Aufschrift »All Chinese love Peace« vor sich her.
Von den Olympia-Organisatoren wurden Re­prä­sentanten der chinesischen Minderheiten mit nach Hongkong gebracht, pro Minderheit eine Per­son in der entsprechenden Tracht. Sie stellten sich an einer Wand auf, direkt neben einem Cartier-Schaufenster, umringt von einer Traube Foto­grafen und Touristen, abgeschirmt von Männern in blau-weißen Trainingsanzügen. Auf Kommando wurde gesungen, vier verschiedene Hand­zeichen, vier verschiedene Songs.
Zeng Weibin, oder »Wayne«, wie er sich auf Eng­lisch nennt, studiert erst seit einem Jahr in Hong­kong, aufgewachsen ist er in der Provinz Shandong. Wayne hat durchaus Sympathie für die Demokratiebewegung, Menschenrechte und mehr Freiheit seien wichtig, und natürlich mache die Regierung auch Fehler, aber alles brauche seine Zeit. Besonders ärgert ihn aber, dass die Tibeter sich beschweren, obwohl sie als Angehörige einer Minderheit für die Universtitätszulassung einen geringeren Notendurchschnitt benötigen als Han-Chinesen und obwohl für sie von der Regierung Straßen, Eisenbahnen, Schulen und Krankenhäu­ser gebaut werden. Aus seiner Sicht haben die Tibeter viele Vorteile gegenüber Han-Chinesen wie ihm und wissen diese nur nicht zu schätzen. »Vielleicht«, und dabei lacht er, »sollte die Regierung einfach mehr Männer nach Tibet schicken, die deren Frauen schwängern. Dann hätten wir Harmonie.«

Die Diskussion um Chinas Verhältnis zu seinen Minderheiten hat sich insbesondere an der Art und Weise entfacht, in der die Zentralregierung die Modernisierung der territorialen Randgebiete vorantreibt. Der Aufbau einer Infrastruktur, ge­paart mit dem geförderten Zuzug von Han-Chinesen, erscheint dabei aus chinesischer Sicht als Entwicklungshilfe, die touristische Vermarktung der Minderheiten (meist von Han-Chinesen für Han-Chinesen) als Wirtschaftsförderung. Dem­entsprechend reagieren die chinesische Regierung und die Öffentlichkeit auch mit Unverständ­nis darauf, wenn Kritiker der Regierung die ökonomische Marginalisierung der Minderheiten vor­werfen. Dass Angehörige der Minderheiten nicht als pittoreske Trachtengruppen leben wollen, die den Han-Chinesen zu Dank verpflichtet sind, ist für viele Chinesen unverständlich.
Den vom Dalai Lama geäußerten Vorwurf des »kulturellen Genozids« konterte die chinesische Regierung mit dem Vorwurf des »Schürens von Rassenhass«. Dass große Teile der chinesischen Öffentlichkeit die Ansichten ihrer Regierung teilen, ist nicht allein eine Folge der Parteipropagan­da, es hängt eng mit dem ethnischen Staatsbürgerbegriff in China zusammen. In seiner rassistischen Form bildet dieser den Kern eines Han-Chauvinismus, der sich in den vergangenen Wochen zuweilen so rabiat äußerte, dass die Regierung sich gezwungen sah, den Übereifrigen größere Zurückhaltung nahezulegen.
Dabei hat der politische Begriff der »Rasse«, wie ihn die chinesische Führung gebraucht, erst mit den europäischen Kolonialmächten Einzug gehalten. Nach traditioneller chinesischer Staatsauffassung war prinzipiell jeder ein Chinese, der dem »einen Gesetz unter dem Himmel gehorcht«. Entscheidend war die Zugehörigkeit zu einer inklusiven chinesischen Zivilisation. Erst mit der Republikgründung nach dem Vorbild des europäischen Nationalstaats hat dann auch die »Rasse« Einzug in den chinesischen Staats- und Staats­­bürgerschaftsbegriff gefunden. So wird beispielsweise der chinesische Republikgründer Sun Yatsen mit den Worten zitiert: »Das größte Problem der chinesischen Rasse ist es, dass sie sich nicht als Rasse wahrnimmt.«
Die Übernahme des westlichen Rassebegriffs wurde durch die Niederlagen gegen die Kolonialmächte im 19. Jahrhundert befördert. Als Ursache der Niederlage wird bis heute in der chinesischen Öffentlichkeit die Uneinigkeit unter einer schwachen Quing-Dynastie angesehen. Für die Wiederherstellung der Einheit und die Entwicklung eines neuen Selbstverständnisses wurde die »Rasse« als nützlich erachtet, primär zur Abgrenzung nach außen, doch förderte diese Form der »Einheit« auch den Han-Chauvinismus gegenüber den Minderheiten. Jede Forderung nach Selbstbestimmung oder größerer Autonomie von Tibetern und Uiguren wird in der chauvinistischen Logik als ein direkter Angriff auf die Einheit Chinas verstanden, meist verbunden mit der Vorstellung, der Westen fördere eine Zersplitterung Chinas.

Proteste, insbesondere auf chinesischem Territorium, werden daher als Gefahr für die Einheit Chinas betrachtet. Um sie zu verhindern, verweigerte die Hongkonger Immigrationsbehörde etwa dem dänischen Künstler Jens Galschiot die Einreise. Er hatte geplant, die von ihm 1997 in Hong­kong zum 18. Jahrestag des Tiananmen-Massakers errichtete Skulptur »Pillar of Shame« im Orange der Demokratiebewegung anzustreichen. Die meisten Zeitungen der Stadt kritisierten das Einreiseverbot. Selbstverständlich heizen die Zeitungen das Olympia-Fieber an, sobald sie jedoch die Meinungsfreiheit bedroht sehen, werden einige von ihnen bockig. Vor allem Apple Daily, eine Art Hongkonger Bild-Zeitung, sowohl was die Auflage als auch was das Niveau betrifft. Demokratie und Sex verkaufen sich eben besser als Verlautbarungen der chinesischen KP.
In einem Gastkommentar in der South China Morning Post, der englischsprachigen Zeitung der internationalen Community in Hongkong, rechtfertigte daraufhin Lau Nai-keung, Mitglied des Basic Law Committee des chinesischen Volkskon­gresses, das Verhalten der Behörde. Es handele sich bei dem Fall Galschiot eben »nicht um eine Frage der Meinungsfreiheit«, vielmehr falle er in »den Bereich der nationalen Sicherheit«. Die bedrohe der dänische Künstler, weil die »Harmonie zwischen den Rassen von überragender Wichtigkeit« und »überlebensnotwendiger Bestandteil territorialer Integrität« Chinas sei.
Dass bereits ein neuer Anstrich für ein Denkmal als Gefährdung für Harmonie und Sicherheit gilt, offenbart große Nervosität. Nichts soll die Inszenierug der Olympischen Spiele stören, deren außenpolitisches Ziel es allerdings ist, China als moderne Weltmacht zu präsentieren und nicht als ein Land voller aggressiver Nationalisten. Als im Internet der Aufruf kursierte, die französische Supermarktkette Carrefour zu boykottieren, forderten die staatlichen Medien die Chinesen auf, ihren »Patriotismus« in »ruhiger und vernünftiger« Weise zum Ausdruck zu bringen, beispielsweise durch größere Anstrengungen beim Studium. Antiwestliche Proteste sollen nicht aus dem Ruder laufen, denn das könnte die Geschäftsbeziehungen stören.