Der Roman »Kill Your Friends« von John Niven über die Musikindustrie

Psycho Killer

»Kill Your Friends« von John Niven ist ein monströser Roman über das Musikbusiness.

Die Musikindustrie war einmal eine echte Macht. Sie fabrizierte Stars, die Platten verkauften, viele Platten, zig Millionen Platten, wenn alles gut lief. Unfassbar viel Geld wurde da gemacht, aber man wollte noch mehr.
Die CD wurde durchgedrückt und löste die Schallplatte ab, es handelte sich dabei um eine kleine Silberscheibe in einem zerbrechlichen Plastik-Irgendwas, die trotzdem das Doppelte kostete wie eine LP. Es funktionierte, man verdiente Geld wie verrückt, alles schien möglich, selbst eine Band aus Seattle mit einem ungewaschenen Sänger mit langen blonden Haaren wurde samt aufgewärmtem Schmuddelrock zu einem Top-Act.
Bevor besagter Schmuddelrock völlig durch war, beförderte sich der Sänger dankenswerterweise mit einer Schrotflinte aus dem Leben, was ewigen Kultstatus bedeutete und damit Plat­ten­verkäufe dieser Band bis in alle Ewigkeit. Später kamen Oasis, die Spice Girls, All Saints, all diese Gelddruckmaschinen. Das waren die Neunziger, ein goldenes Jahrzehnt für die Musik­industrie, MTV war noch funktions­fähig, und Popstars waren, anders als heute, noch mehr wert als ein schlechter Fußballer mit Schweinsteiger-Frisur.
Heute ist das vorbei. Die Branche ist stehend k.o., man wartet nur noch darauf, dass sie endgültig vom Internet geschluckt wird, von der Volldigitalisierung, die sie selbst einst eingeleitet hat. Doch davon, wie es einmal kommen wird, weiß Steven Stelfox noch nichts. Dessen Geschichte, die John Niven in seinem Roman »Kill Your Friends« erzählt, spielt 1997 in England, zu der Zeit, als auch die Popkomm in Köln noch ein rauschendes Fest war und keine Trauer­veranstaltung wie heute. Stelfox ist A & R bei einer großen Plattenfirma, er ist also zuständig für das Entdecken und Fördern von Bands, von Stars, von Produkten, die die Firma noch reicher machen sollen. Stelfox ist ein misanthropisches, sexistisches, rassistisches und paranoides Arsch­loch, nein, das wäre untertrieben: Er ist das arschlochigste Arschloch, der King of Arschlöcher. Kurz: Er bringt die besten Voraussetzungen für seinen Job mit, in dem gezielte Erniedri­gung und Menschenverachtung entscheidende Profilanforderungen sind.
Von Musik muss man nichts verstehen in diesem Job, guter Geschmack wäre nur hinderlich. »Er ist ein stinkfauler, gehirnamputierter Kokainjunkie mit der Auffassungsgabe einer Stech­mücke, der seit Jahren keinen Hit mehr gelandet hat.« – »Also könnte er den Job kriegen?« – »Definitiv.« So unterhält man sich in der Branche, wie John Niven sie beschreibt. Er muss es ja wissen, er hat selbst als A & R bei einer großen Firma gearbeitet. Er hat Travis ge­signt, die mit »Why does it always rain on me?« einen riesigen Hit hatten und von denen man danach nie wieder etwas hörte. Und er hat Coldplay mit der Begründung abgelehnt, das sei »Radiohead für Arme«. Womit er Recht hatte, aber trotzdem sind Coldplay heute beinahe so berühmt wie die Beatles.
Pech für Niven.
Der A & R einer großen Plattenfirma hat immer ein Problem. Er muss so tun, als wüsste er, was die Leute hören wollen, schließlich ist das sein Job, für den er bezahlt wird. Dabei macht von zehn Bands gerade mal eine einzige wirklich Cash, die übrigen bringen Miese, und man muss zusehen, dass man sie schnell wieder los wird. Der A & R spielt also professionell Lotto, mal gewinnt er, meist verliert er. Hat er dann aber seine profitable Band, ist er zufällig auf eine Goldader gestoßen, muss er sie plündern, bis gar nichts mehr geht. Dann überlässt er die geplünderte Goldader wieder sich selbst, Sentimentalitäten sind hier nicht gefragt.
Das ist der Job eines A & R, dafür wird er fürst­lich bezahlt. Bei Steven Stelfox läuft das so, dass er sich mit einer Nummer große Chancen ausrechnet, die ursprünglich permanent den Refrain »Why don’t you suck my fucking dick!« wie­derholte, bevor der zwecks verbesserter Airplay-Tauglichkeit in »Why don’t you slap me on the ass« umgeschrieben wurde. Stelfox weiß, »die Platte ist kranker, billiger, verblödeter, geschmack­loser, absolut obszöner Dreck. Aber, und vergesst das nie, ganz genau das ist es, was 99 Prozent der gottverdammten Öffentlichkeit – diesen Tieren – gefällt.« Die Nummer fällt trotzdem durch, wie gesagt: So etwas passiert ständig. Dafür hat Stelfox am Endes des Romans Erfolg mit ein paar ehemaligen »Plattenbau-Schlampen«, die bei Vertragsunterzeich­nung nicht einmal geradeaus gehen, geschweige denn tanzen oder gar singen konnten, die irgendwie aber in Richtung Sexgöttinnen getrimmt wurden und damit unfassbaren Erfolg haben. Die Spice Girls total sexualisiert, so lautet hier die Erfolgsformel. Warum auch nicht?
Man darf sich »Kill Your Friends« nun jedoch nicht als den berühmten »Blick hinter die Kulissen« vorstellen oder als etwas ähnlich feuille­tonistisch Wertvolles. Der Roman ist echter Dreck, wirklicher Pulp, sein einziges Stilmittel ist: Drastik. Er erinnert an »Drecksau« von Ir­vine Welsh und an Matthias Feldbakken. Und Frederic Beigbeder hat mit seinem Roman »99 Cent« bereits in ähnlicher Weise eine ganze Branche – die Werbeindustrie – schlecht aussehen lassen. Doch gegenüber dem bisschen Kokserei in »99 Cent« verhält sich »Kill Your ­Friends« wie Led Zep­pelin zu Cliff Richard: Das Buch ist von vorne bis hinten ein einziges vulgäres, machistisches Dauergedröhne, völlig über­zogen, komplett irre und ziemlich spaßig. Frauen sind für Stelfox konsequent »Votzen«, »Schlampen« oder beides, Schwule »Virenschleudern«, und jeder Kollege in der Branche ein potenzieller Feind oder we­nigs­tens ein kompletter Versager, der denunziert und gegebenenfalls vernichtet werden muss. Eigentlich ist jeder Mensch da draußen ein Idiot, so oder so, wenn er den Mist kauft, den Stelfox auf den Markt wirft, genauso, wie wenn er den Mist nicht kauft.
Es geht hier nicht um Ausgewogenheit in der Schilderung der Gegebenheiten und Ereignisse, und es findet sich kein Plot, der sich nicht mit den Worten »Yuppie-Wahnsinniger aus der Musikbranche geht auf dem Weg nach oben über Leichen« bequem zusammenfassen ließe. Wir haben es vielmehr mit dem simplen vulgärmar­xistischen Versuch zu tun, einen Zyniker in einem zynischen Business zu portraitieren, der seinen Zynismus auslebt.
Stelfox ist ja vor allem so, wie er ist, weil es von ihm so verlangt wird. Nicht ohne Grund wird er dabei als pornosüchtig beschrieben. So wird der Vergleich mit der Pornoindustrie gezogen, in der auch die Regieanweisung gegeben wird, Men­schen mit Tieren kopulieren zu lassen, solange sich das Gefilmte an den Mann bringen lässt.
Die Figur Stelfox ist dabei eindeutig an Pa­trick Bateman angelehnt, den Serienkiller aus Bret Easton Ellis’ Roman »American Psycho«, der von Musik übrigens auch nichts versteht. Easton Ellis lässt seinen Helden gerne seitenlang über die Qualitäten von Phil Collins oder Huey Lewis schwadronieren. Stelfox würde diesem Helden und seinen geistesarmen Analysen wohl beipflichten, schließlich haben Phil Collins und Huey Lewis aberwitzig viele Platten absetzen können: Das ist eine Qualität, die wirklich zählt. Niven versucht sich jedoch nicht wie Easton Ellis an einem Vexierspiel, in dem der Held sich zunehmend in einem Irrgarten aus Wahnvorstellungen und Realität verirrt und der Leser mit ihm. Mit den literarischen Qualitäten, die Easton Ellis aufzubringen weiß, hält sich Niven erst gar nicht auf, das würde den Drive seines wie auf Speed geschriebenen Romans nur behindern. Sein Patrick Bateman aus der Chef­etage eines Plattenkonzerns geht vielmehr strikt geradeaus wie Richard Ashcroft in diesem Videoclip, in dem er alles umhaut, was sich ihm in den Weg stellt. Stelfox hangelt sich von einer Koksparty zur nächsten, von einer Nutte zur anderen, das ist seine Lebensaufgabe, das ist die Erzählung von Niven, der ganze Rest, das Morden und das Herumschlagen mit talentfreien Bands, geschieht beinahe nebenbei.
Beim Lesen des Romans, der in konsequent durchgezogener Fäkalsprache und in hundertprozentig politisch unkorrekter Diktion verfasst ist, fühlt man sich beschmutzt wie nach dem Hören einer 2-Live-Crew-Platte auf Repeat. Man fühlt sich von Stelfox abgestoßen, findet diesen nietzscheanischen Menschen aber auch – Stelfox selbst würde jetzt sagen: »Leider darf man es bloß nicht zugeben« – faszinierend. Hier nimmt einer mit, was er kriegen kann, schmeißt sich jede erdenkliche Droge zu jeder erdenklichen Zeit ein, vögelt, was das Zeug hält, und pflegt einen Hedonismus wie Hugh Hefner in seinem Wasserbett.
Zu Recht wurde Niven vorgeworfen, dass er es mit den Fakten nicht so genau nehme. Viagra habe damals noch keine Rolle gespielt, genauso wenig wie der Umgang mit Handycams. Doch einerseits geht es Niven sowieso nicht um Fakten, schließlich streut er unter all die echten Bandnamen, die in dem Buch auftauchen, auch immer wieder Namen von Bands, die es gar nicht gibt; und andererseits will der Autor so wohl verdeutlichen, dass der Roman zwar zu einer bestimmten Zeit spielt, die Musikindus­trie deswegen aber heute nicht weniger widerlich ist als damals, als Tony Blair »New Labour« formte und mit Hilfe williger Britpopper sein pop-patriotisches »Cool Britannia« inszenierte. Damals war die Musikindus­trie ein ekelhafter Verein, aber wenigstens noch halbwegs glamou­rös, so lässt sich feststellen, heute ist sie ein Club von Bettelmönchen, die an dein Gewissen appellieren. Es ist so peinlich, es ist eine verdammte hirnverfickte Scheiße!

John Niven: Kill Your Friends. Heyne, München 2008, 379 Seiten, 12 Euro