Das französische »Gewaltvideo« von Justice

Cinéma Schwarz-Weiß

Das Video der französischen Elektronikband Justice nährt das Phantasma von den Barbaren, die aus den Banlieues kommen, um in die Stadt einzufallen.

Auf den ersten Blick wirken ihre Gesichter ausgesprochen knabenhaft. Aber sie mimen die knallharten Männer. Ausgerüstet mit Schlag- und Stechwerkzeugen, ziehen sie marodierend durch ihre Cité, ihr Hochhausviertel – die Filmaufnahmen dürften in zwei Stadtteilen der Pariser Vorstadt Clichy-sous-Bois entstanden sein. Sie belästigen eine rauchende Frau im Minirock, werfen ihre Zigarette weg und begrapschen die Frau, verprügeln einen Mann, der sich einzumischen versucht. Dazu hört man rhythmische elektronische Musik, die manche als »schneidend« bezeichnen, die jedoch bald monoton wirkt.
Dann fahren die Jugendlichen mit öffentlichen Verkehrsmitteln in die Innenstadt von Paris, wobei mehrere von ihnen intensiv in die Kamera gucken und die Augen in ihren Jungsgesichtern aus der Nähe gefilmt werden. Die nächste Szene spielt auf dem Hügel von Montmartre, wo unterhalb der berühmten Kirche von Sacré-Cœur die Touristen aus aller Welt herumstehen. Die Jugendlichen stehlen einer über­rumpelten asiatischen Touristin ihren Foto­apparat und werfen ihn zu Boden, dann zertrümmern sie die Gitarre eines langhaarigen Musikers und die Trommel seines Begleiters. Und weiter geht’s mit einem Streifzug durch den umliegenden 18. Bezirk, bei dem Autos zerkratzt und Rückspiegel abgerissen werden, einer Oma die Handtasche entrissen und das Mobiliar einer Bar zertrümmert wird, deren Gäste belästigt werden und der Mann am Tresen zu Boden geschlagen wird.Einen Augenblick später kommt es zum Zusammenstoß mit der überraschend eintreffenden Polizei.
Zunächst hält ein Polizist die Hand vor die Kamera, die offenkundig aus nächster Nähe dabei ist, und befiehlt: »Hört auf zu filmen!« Die Beamten werden niedergeprügelt, nachdem die Jugendlichen deren Schlagstöcke erbeutet haben, wobei diese Szene wenig realistisch wirkt. Dann hechten die Jugendlichen eine Treppe hoch, einen Kameramann direkt in ihrem Gefolge.
Das Ganze endet mit der Fahrt in einem gestoh­lenen Auto über ein unbekanntes Gelände, nicht ohne dass beim Aufbrechen des Wagens ein Kameramann in den Blickwinkel des Objektivs gekommen wäre, der von den jugendlichen Gewalt­tätern zum Einsteigen aufgefordert wird. Das Auto wird abgestellt und beschädigt. Einer der Randalierer trägt einen Molotow-Cocktail herbei und wirft ihn in das Fahrzeug, das ausbrennt – wobei ein direkt neben dem Auto stehender Kameramann von den Flammen erfasst wird. Nachdem man diesen einen kurzen Augen­blick lang brennen gesehen hat, gerät er vollends aus dem Bild, das um 90 Grad kippt. Nun sieht man das in der Horizontale stehende Ver­tikalbild des ausbrennenden Autos und seiner Rauchwolke, und die Jugendlichen blicken in die sie aufnehmenden Kameras, wobei sie pathetisch wirkende Gesten und Grimassen machen.
Der unmittelbar vor der Kamera stehende Junge hat dabei seine Augen mit seinem Kapuzenpulli verhüllt, nur seine untere Gesichtshälfte ist frei. Dadurch wirkt seine Grimasse noch zusätzlich verzerrt, während er unhör­bare, aber anscheinend groteske Rufe ausstößt. Dazu erklingt eine schwermütige, tragende Musik. Dann wird es auf dem Monitor dunkel. Offenkundig hat die Kamera Schaden genommen, und man hört dazu Stimmengewirr, Geschrei und den (akustisch schwer identifizierbaren) Ausruf: »Na, das geilt dich wohl auf, das zu filmen?« Der Betrachter nimmt an dieser Stelle vielleicht an, dass der Kameramann nun eins auf die Mütze bekommen hat.
Dies ist der Inhalt des Musik- und Action­videos unter dem bezeichnenden Titel »Stress«, das die Elektronikband Justice (Gerechtigkeit) mit Hilfe des jungen Regisseurs Romain Gavras Anfang Mai produziert und ins Netz gestellt hat. Innerhalb von wenigen Tagen ist es allein auf den viel besuchten Webpages Youtube und Dailymotion über 1,2 Millionen Mal angeklickt worden. Mit einem solchen Publikumserfolg hätte die aus zwei Personen – Caspar Augé und Xavier de Rosnay – bestehende Band nicht gerechnet.
Auch mit der einsetzenden Polemik rechneten sie nach eigener Aussage nicht. Denn an ent­setzten Reaktionen mangelt es nicht, wobei in der anfänglich vor allem in Internetforen geführten – und später von der Presse referierten – Diskussion schon schnell zwei Extrem­posi­tio­nen laut wurden: Wo die einen eine Anpreisung und Glorifizierung von Gewalt, ja nahezu eine Aufforderung zur Nachahmung erblicken moch­ten, vermuteten andere eine verhüllte und dennoch deutlich rassistische Botschaft. Denn auffällig sei, so wurde in der Debatte schnell moniert, dass alle fünf Jugendlichen entweder schwarz oder arabischstämmig seien. Ihre mehr oder minder dunkle Hautfarbe wird im Übrigen zudem noch dadurch unterstrichen, dass sie schwarze Kapuzenpullis mit einem auf dem Rü­cken prangenden schwarzen, ungefähr kreuzförmigen Logo – dem der Band Justice – tragen.
Die Opfer hingegen, so dieselben Kritiker, seien weiß. Dadurch wollten die Urheber die Aufsehen erregende, aber falsche Botschaft vom an­geblichen »antiweißen Rassismus« befördern, die während einer Debatte im Jahr 2005 die Gemüter kurzzeitig erregt hat (Jungle World 14/2005). Allerdings hält die Behauptung, die Opfer seien »alle weiß«, einer näheren Über­prüfung nicht stand. Zwar scheinen die Bestohlenen oder Verprügelten mehrheitlich »Herkunftsfranzosen« zu sein. Aber schon in der ers­ten Szene sieht man eine Person, die selbst schwarz ist und mit der Gang im Konflikt zu stehen scheint: In einer Hochhaussiedlung sieht man einen afrikanischstämmigen Mann mit nacktem Oberkörper auf dem Balkon stehen. Als er die Jugendlichen von dort aus erblickt, zieht er ein Gesicht, zeigt ihnen einen Stinkefinger und bedeutet ihnen, sie sollten gefälligst abzischen. Zu den Angegriffenen zählt, neben einer japanischen Touristin auf Montmartre, auch ein junger Mann mit »franko-asia­ti­schem« Aussehen. Ihn treffen die Jugendlichen auf einer Brücke, die in der Nähe des Pariser Nordbahn­hofs über die Eisenbahngleise führt, und schlagen ihn nieder.
Eine lupenreine rassistische Botschaft ist also nicht einfach auszumachen. Sie lässt sich jedenfalls nicht an der Hautfarbe der Opfer festmachen. Es bleibt jedoch unbestreitbar, dass die gewalttätigen Jugendlichen in dem Film ihrer­seits alle migrantischer Herkunft zu sein scheinen. Wahrscheinlich wird hier nur ein Stereotyp bedient, wie es in Teilen der Gesellschaft unstrittig existiert – wonach fast alle straffälligen Jugendlichen aus Unterschichten in den »Problemvierteln« farbig seien, was mit der Realität nicht übereinstimmt. Ob die Urheber des Films so denken oder ob sie nur mit einem Stereotyp anderer Personenkreise hantieren wollten, bleibt offen.
Ebenso erscheint es nicht unbedingt plausibel, das Video als Werbung für solcherlei Gewalt zu betrachten. Gar zu sinnentleert erscheint der Amok-Streifzug der fünf Protagonisten durch den Pariser Raum in seiner vollen Länge, und gar zu verzerrt blicken sie am Ende in die Kame­ra, um noch irgendwie bei einem Teil der Betrachter als »Helden« erscheinen zu können. Zu­dem existieren mehrere Elemente ironischer Brechung in dem kurzen Film, etwa dort, wo man – mehrfach innerhalb der gut sechs Minuten – die Kameramänner dicht auf den Fersen der Krawallmacher beobachten kann. Darin liegt wohl zumindest ein, bewusstes oder unbewuss­tes, Moment der Infragestellung der Rolle des Betrachters und erst recht der Medien. Beschwö­ren die Medien doch allzu oft die besonders spektakulären Symptome von Gewalt – insbesondere die Bilder brennender Autos – erst herauf, indem sie durch ihre massive Präsenz und die massive Aufnahme solcher Bilder in den Medien den Jugendlichen in ghettoisierten Unterschichtsvierteln den Eindruck vermitteln, »so und nur so endlich mal ernst genommen und gefürchtet zu werden«.
Ob der Effekt, darüber einmal nachzudenken, bei den Urhebern des Kurzfilms erwünscht war, bleibt freilich eine offene Frage. In einem Presse­kommuniqué nahm das Künstlerduo Jus­tice Mitte vergangener Woche Stellung, nachdem die Polemik einige Tage zuvor losgebrochen war – und dementierte jegliche absichtlich transportierte Message. Auch der Regisseur, der die Kamera führte, Romain Gavras, der Sohn des politisch engagierten Filmemachers Constantin Costa-Gavras, argumentierte so: »Meine Filmbilder haben keinen Sinn, sie sind für die Sinne gemacht.«
Auch wenn dem Video kein klares Statement zu entnehmen ist, so bleibt doch festzustellen, dass die Bilder vorhandene Phantasmen eifrig bedienen. Insbesondere jenes von den »Barbaren«, die aus den Sozialghettos der Vorstädte eines nahen oder fernen Tages in die Stadt einfallen und diese verwüsten. Natürlich gibt es die Gewalt gegen Sachen und Personen in den Sozialghettos; eine Amokexpedition quer durch den Pariser Raum und auf den Touristenhügel von Montmartre, wie »Stress« sie zeigt, dürfte in der Realität allerdings ziemlich schnell mit klickenden Handschellen und mehrjährigen Haftstrafen enden.