Der Siemens-Konzern wird modernisiert

Der Konzern entlässt seine Kinder

Erst nach über 160 Jahren seines Bestehens und unzähligen Skandalen verliert der Global Player Siemens den Ruf, ein idyllisches Familienunternehmen zu sein.

»Es ist etwas besonderes, für Siemens zu arbeiten«, zitierte die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung kürzlich einen ehemaligen Manager des Konzerns. Auf einer ganzen Seite beschwor das Zentralorgan des deutschen Großkapitals die »Sie­mens-Familie«, deren Ansehen immer noch unter den Geschehnissen der vergangenen Jahre leidet und unter den Versuchen der neuen Konzernleitung, das ramponierte Image wieder aufzupolieren.
Der Skandal um die gelbe Gewerkschaft AUB, die BenQ-Affäre, die Korruption großen Stils und die angekündigten Massenentlassungen bei bester Rendite bilden bloß die vorläufig letzten Höhe­punkte in einer langen Reihe finsterer Machenschaften. Peinlich naiv wirkt es vor diesem Hinter­grund, wenn die IG Metall in ihrer Kritik an den Entlassungen bei Siemens die strapazierte Metapher erneut bemüht. Die Gewerkschaft klagte, ein »Familienvater« habe nicht in ökonomischen Kategorien zu denken.

Der Siemens-Konzern agiert so, wie ein kapitalistisches Unternehmen wirtschaften muss, um seiner Bestimmung nachzukommen. Denn, wie Karl Marx vor langer Zeit illusionslos anmerkte: »Das Kapital hat einen Horror vor Abwesenheit von Profit oder sehr kleinem Profit, wie die Natur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens.«
Schmiergelder, Korruption und gelbe Gewerkschaften sind Mittel, um die Maximierung des Profits abzusichern, genauso wie Massenentlassungen, Lohnkürzungen und Bilanztricksereien. Das kann man skandalisieren, darüber zu wundern aber braucht man sich nicht.
Der Siemens-Konzern ist in dieser Hinsicht so etwas wie ein Idealbild des kapitalistischen Unternehmens, mehr noch, der Prototyp des deutschen Vorzeigekonzerns schlechthin. Und so ist die Geschichte der »Siemens-Familie« eng verknüpft mit den Weltmachtplänen des deutschen Imperialismus. Schon der Firmengründer Werner Siemens etablierte sein Geschäft auf der Grundlage gut funktionierender Seilschaften in der preußischen Armee. Das Unternehmen boomte, angefangen mit dem Krim-Krieg und dem Krieg von 1870/71, insbesondere dort, wo es galt, militärische Technologien weiterzuentwickeln und zur Verfügung zu stellen.
Fred Schmid und Ernst Antoni schrieben zum 150. Firmenjubiläum: »Der Name Siemens steht in diesen Jahrzehnten unzweifelhaft für die Modernisierung, vor allem die Elektrifizierung des Kriegshandwerks – und ist doch wegen all der nützlichen Dinge, die daneben ja auch für den Hausgebrauch entstehen, wesentlich weniger mit einem martialischen Ruch behaftet als die berühmten Waffenschmieden an Rhein und Ruhr.« Früh schon wurden Konzepte erarbeitet, die den Erfolg des Unternehmens absicherten und diversifizierten. Im Jahr 1870 wurde die Deut­sche Bank als »Hausbank« gegründet, in deren Führungsgremien Vertreter von Siemens saßen, während die Deutsche Bank Führungskräfte in die Siemens-Gremien entsandte. Eine nützliche Verflechtung, die zusätzliches Kapital brachte und langfristige strategische Partnerschaften ermöglichte.

Ein Haus-Historiker, dessen Festschrift 1942 ­erschien, weist darauf hin, dass die im Konzern übliche »patriarchalische Fürsorge« bereits in den Anfängen vor allem dazu diente, die Arbeiter­bewegung klein zuhalten: »Wenn bis 1918 die Sozialdemokraten in den Siemensbetrieben immer auf recht schwachen Füßen standen, dann geht das auf die vorbildlichen sozialpolitischen Maßnahmen zurück, die Werner Siemens als einer der ersten noch vor der staatlichen Gesetzgebung durchführte.« Das Mittel war erfolgreich. Mit Pensionskassen und »Familiengeist« entwickelte sich ein Betriebsklima, das ein hohes Maß an Identifikation der Lohnsklaven mit »ihrem« Unternehmen sicherstellte, trotz Streikverboten.
Bis 1914 war bereits ein beachtliches Firmenimperium aufgebaut. Das Elektrokartell beschäftigte über 80 000 Arbeiter und konnte einen Jahresumsatz von mehr als 400 Millionen Reichs­mark verbuchen. Dann kam der Erste Weltkrieg, zum Glück für den Konzern: »Allein die Siemens-Aufträge für Zubehörteile und Ausrüstungen in U‑Booten, die sich 1914 auf 7,5 Millionen Mark be­liefen, stiegen enorm und betrugen in den ersten drei Kriegsjahren 83,5 Millionen Mark«, schreiben Schmid und Antoni.
Die Rolle des Konzerns im Nationalsozialismus wäre eine gesonderte Würdigung wert. Carl Friedrich Siemens, der während der Weimarer Republik zeitweilig für die Deutsche Demokra­tische Partei im Reichstag saß und Spenden seines Hauses geschickt an alle bürgerlichen Parteien verteilte, um sich Aufträge zu verschaffen und die Arbeiterbewegung in Schach zu halten, war wohl persönlich kein Anhänger der Nazis. Gleichwohl handelte er, wie es sein Interesse erforderte. Allen Beschönigungsversuchen in den diversen, auch von Siemens selbst in Auftrag gegebenen Kon­zerngeschichten zum Trotz, heißt es etwa lapidar in den Ermittlungsberichten der US-Militärregierung nach dem Zweiten Weltkrieg: »Die Siemens-Gruppe half Hitler durch beträchtliche Zuwendungen, hatte viele ihrer führenden Kräfte in Schlüsselstellungen der Nazi-Verwaltung, benutzte ihre Zweigwerke im Ausland zur Spionage­tätigkeit und beschäftigte eine beträchtliche Anzahl von Zwangsarbeitern.« Im US-Ermittlungsbericht zu Hermann-Werner von Siemens, der während des Faschismus die Konzernleitung über­nahm, wird ausgeführt: »Er beutete die Arbeitskraft von Zwangsarbeitern, Konzentrationslager­insassen und Kriegsgefangenen aus. Die Männer um Siemens besaßen ausgezeichnete Verbindungen zur Nazipartei, und der Siemenskonzern konn­te stets mit Unterstützung durch Nazipartei und Staatsapparat rechnen, während die Partei stets auf große Beiträge des Siemenskonzerns zählen konnte.«
Ab 1943 begann die Konzernleitung mit der systematischen Sicherung des Firmenvermögens. Nach Kriegsende brauchten die westlichen Besatzungsmächte für ihr »Bollwerk gegen den Kom­munismus« auch Industrie und sahen von der zunächst geplanten Entflechtung des Siemens-Konzerns weitgehend ab. Die Verbindungen zur Deutschen Bank und zur politischen Führung der Bundesrepublik ließen sich schnell wieder gewinnbringend herstellen.

Heutzutage beschäftigt der Global Player deutlich mehr Beschäftigte in den Niederlassungen in aller Welt als in Deutschland und ist bei nahezu allen zweifelhaften Geschäften der Branche auf dem Globus dabei. Exemplarisch sei die Stauung des Narmada-Flusses in Indien genannt, mit der nahezu eine Million Menschen ohne Aussicht auf eine angemessene Entschädigung ihr Land verlieren werden. Das gigantische Bauvorhaben ist derart umstritten, dass sich selbst die Weltbank inzwischen zurückgezogen hat. Der Siemens-Konzern ließ sich weder von Demons­tra­tio­nen und Sitzblockaden in Indien noch von in­dischen Bauern, die vor dem deutschen Konzern­sitz protestierten, beeindrucken.
Mit dem Abgang Heinrich von Pierers und Klaus Kleinfelds im vorigen Jahr hat sich, bei aller Kon­tinuität, eines geändert. Der firmeninterne Sozial­korporatismus, der, je nach Lage, mal als Fami­lienidyll, mal als Volks- und Betriebsgemeinschaft daherkam und mit dem über Generationen hinweg die Loyalität der Beschäftigten erkauft, Streiks verhindert und die gewerkschaftliche Organisierung klein gehalten wurde, ist unwichtiger für das Unternehmens geworden.
Unter den neuen Bedingungen des kapitalis­tischen Weltmarkts ist dergleichen unzeitgemäß geworden, wie die »Siemensianer« erfahren konnten, deren Jobs Modernisierungsstrategien zum Opfer fielen. Das könnte sich längerfristig auf den »Betriebsfrieden« auswirken.