Wählen und zählen

Georgien ist eine defekte Demokratie, so eine Einordnung der politikwissenschaftlichen Theorie. Dort wird zwar gewählt, doch wichtiger scheint die Frage zu sein, wer die Stimmen zählt. Mehr als 30 000 Personen gingen am Wochenende in der Hauptstadt Tbilissi auf die Straße, um gegen die Manipulation der Parlamentswahlen von voriger Woche zu demonstrieren. Die Vereinte Nationale Bewegung von Präsident Michail Saakaschwili konnte der offiziellen Zählung zufolge mit 59,3 Prozent der Stimmen die absolute Mehr­heit erreichen und stellt 120 der 150 Abgeordneten des Parlaments. Zweitstärkste Kraft ist die Vereinigte Opposition, ein Bündnis aus neun Parteien, mit gerade mal 17,7 Prozent. »Die Ergebnisse der Wahlen wurden gefälscht«, rief der Oppositionspolitiker David Gamkrelidse den Demonstranten zum Auftakt des Protestmarschs in Richtung Parlament zu. Saakaschwili äußerte sich ungeachtet der Proteste großmütig: »Das neue Parlament wird viel pluralistischer, mit mehr Parteien. Ich bin bereit, mit allen zusammenzuarbeiten.«
Saakaschwili kam an die Macht, nachdem Massenproteste im November 2003 seinen Vorgänger Eduard Schewardnadse zum Rücktritt gezwungen hatten. Die versprochene Demokratisierung blieb jedoch weitgehend aus, Saakaschwilis Regierung werden Korruption, Machtmissbrauch und Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. Die Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sprachen während der Wahl von »schweren und zahlreichen Unregelmäßigkeiten«. In der offiziellen Abschlussbewertung hingegen konnte die OSZE keine schwerwiegenden Manipulationen mehr feststellen, während die Opposition von Einschüchterung, Stimmenkauf und Wahlbetrug spricht. Saakaschwili befürwortet den Beitritt Georgiens zur Nato, seine Vereinte Nationale Bewegung ist proeuropä­isch und um gute Beziehungen mit den USA bemüht. rs