Die Geschichte der Landwirtschaft und die Revolution

Nicht jeder will den Kornsack tragen

Die landwirtschaftliche Produktivität steigt, die Zahl der Bauern sinkt. Der Streit um den Milchpreis wird von kapitalistischen Produzenten geführt, doch argumentiert wird in einer mittelalterlichen Begrifflichkeit.

Helmbrecht will kein Bauer sein. »Deine Kornsäcke sollen niemals wieder auf meinem Nacken reiten«, sagt er seinem Vater. Die Haare lang, gelockt und in eine Haube gefasst nach Art der Ritter, zieht er in die Welt, um selbst ein Ritter zu werden. Doch er findet nur Anschluss an eine Räuberbande, wird ergriffen, verstümmelt, von seinem Vater verstoßen und schließlich von den Nachbarn mit dem Ruf gehenkt: »Gib acht auf deine Haube, Helmbrecht.« Wernher der Gartenaere schrieb diese Geschichte Ende des 13. Jahrhunderts auf, eine von zahlreichen Warnungen an aufstrebende Jünglinge, sich mit ihrem Stand zu begnügen, der als gottgegeben betrachtet wur­de.
Ein aufstrebender junger Bauer wie Helmbrecht, von einer Zeitmaschine in die Gegenwart versetzt, wäre nicht nur über die technischen Wunderwerke unserer Zeit erstaunt. Vom gelobten Land, »darin Milch und Honig fließt«, hat ihm sein Dorfpfarrer erzählt; dass Milch auf Äcker oder in den Abfluss gegossen wird, würde er wohl als eine Sünde betrachten. Ihn würde verblüffen, dass ein Jüngling niederen Standes nun gescholten wird, wenn er es an Interesse für den sozialen Aufstieg mangeln lässt.
Er könnte feststellen, dass sein Stand, damals ein »mühsälig Volck« und »jedermanns Fußhader« (Fußabtreter), es weit gebracht hat, nicht nur was den Wohlstand, sondern auch was den so­zialen Status betrifft. Protestieren die Bauern und blockieren die Anwesen der hohen Herren, so kommen weder Vogt noch Landsknecht, um mit Feuer und Schwert die Ordnung zu wahren. Es erscheinen nur zurückhaltende Uniformierte, um Mahnungen auszusprechen.
Immerhin könnte Helmbrecht verstehen, worum es geht, denn die Milchbauern argumentieren in Kategorien, die ihm vertraut sind. Was im Mittelalter der »gerechte Preis« geheißen wurde, ein Preis, der den für die Herstellung einer Ware benötigten Arbeitsaufwand ebenso berücksichtigt wie den standesgemäßen Bedarf des Produzenten, nennt man immer noch den gerechten, manch­mal auch den fairen Preis. Seine neuzeit­lichen Kollegen fordern, was man im Mittelalter das »alte Recht« genannt hätte, die Erhaltung der althergebrachten ökonomischen Verhältnisse unabhängig von der Entwicklung in Markt und Gesellschaft.

Die Milchbauern, je nach Umsatz ihres Betriebes Kleinproduzenten oder Agrarkapitalisten, streiten mit den finanzkräftigeren Verarbeitungsbetrieben und Einzelhandelsketten. Die Besitzer der Kleinbetriebe wehren sich gegen die Monopolisierung. Würden die Zulieferer eines anderen Wirtschaftszweigs, etwa die dem VW-Konzern angegliederten Felgenproduzenten, in ähnlicher Weise protestieren, könnten sie wohl nicht mit soviel Sympathie rechnen. Für die Produk­tion und Verteilung von Nahrungsmitteln wurden jedoch schon immer moralische Regeln gefordert, auch im Mittelalter fehlte es nicht an Autoren, die mahnten, dass die Bauern, obwohl idiotae (Analphabeten) und Rohlinge, Respekt verdien­ten.
Helmbrecht könnte, sobald er lesen gelernt hat, auch mal bei Karl Marx nachschauen: »Es liegt in der Natur der kapitalistischen Produk­tionsweise, dass sie die ackerbauende Bevölkerung fortwährend vermindert im Verhältnis zur nicht ackerbauenden.« Das bäuerliche Mehrprodukt ernährt alle anderen Schichten der Gesellschaft, wie es ihm bereits sein Vater erläutete: »Du brauchtest, mein lieber Sohn, nur mit dem Pflug das Feld zu bestellen (…) Mit Sicherheit nützt du dem Armen und dem Reichen.« Doch er konnte nur den dreifachen Ertrag des eingesetzten Saatguts erwarten, und eine der zeitgenössischen Hochleistungkühe, die 20 oder sogar 50 Liter Milch am Tag geben, wäre ihm wie eine Kreatur aus dem Schlaraffenland erschienen.
Die immensen Fortschritte der landwirtschaftlichen Produktivität haben die moderne kapitalistische Zivilisation erst ermöglicht. Nicht mehr 90 Prozent, wie zu Helmbrechts Zeiten, sondern nur noch drei Prozent der Bevölkerung arbeiten in Deutschland in der Landwirtschaft. Die so genannte ursprüngliche Akkumulation erfolgte auf Kosten der Bauern. Ihre Anfänge liegen bereits im Mittelalter, als manche Bürger so reich wurden, dass sie sich der Forderungen des Adels erwehren konnten. Auch in den Dörfern gab es eine stärkere soziale Differenzierung. Egalitäre Kommunen waren sie nie, es gab Dorfarme und wohl­habende, sogar reiche Bauern. Sich der patriarchalen Autorität zu entziehen, wie Helmbrecht es tat, war eine lebensgefährliche Entscheidung, und seine Geschichte zeigt auch, wie rabiat abweichendes Verhalten bestraft wurde.

Die dörflichen Familienoberhäupter fanden sich jedoch auch manchmal zu einer Verschwörung zusammen. Alle Anwesenden schworen, bis zur Erfüllung ihrer Forderungen dem Grundherren bestimmte Leistungen zu verweigern oder auch gleich zu den Waffen zu greifen. Fast immer ging es um die Wiederherstellung des »alten Rechts«, die Abwehr neuer Forderungen des Grundherrn.
Das änderte sich erst in der frühen Neuzeit wäh­rend des Bauernkrieges. In den Forderungen der Aufständischen, etwa in den »Zwölf Artikeln«, die von Bauernführern im März 1525 in Memmingen verfasst wurden, taucht die Vorstellung des »alten Rechts« auf, doch wird auch eine neue Sicht der Welt erkennbar. Nun glaubten die Bauern, »dass uns Christus alle mit seinem kostbarlichen Blutvergießen erlöst und erkauft hat, den Hirten gleich wie den Höchsten, keinen ausgenom­men. Darum erfindet sich mit der Schrift, dass wir frei sind und sein wollen.« Im Mittelalter gab es keine Freiheit, sondern nur Freiheiten, exakt festgelegte Rechte für berufsständische Gruppen. Hier wird der Begriff Freiheit bereits in seinem modernen, emphatischen Sinn gebraucht.
Der Aufstand war eher eine Angelegenheit der bäuerlichen Oberschicht als der Dorfarmen. Die sich ausbreitende Geldwirtschaft und die steigenden Nahrungsmittelpreise hätten ihr nutzen können, doch der Adel weitete seine Macht aus und erhöhte seine Forderungen. Und auch der reichste Bauer blieb immer ein Bauer, dem das – oft übertretene – Standesgesetz vorschrieb, welche Kleidung zu tragen und was zu essen ihm gestattet war. Die Bibel wurde zur ideologischen Grundlage der Forderung nach Freiheit und Gleich­heit.
In Anlehnung an den »deutschen Bauernkrieg« von Friedrich Engels wurde der Aufstand vor ­allem von der DDR-Forschung zur »frühbürgerlichen Revolution« erhoben. Obwohl »bürgerliche« Ideen in religiöser Formulierung eine Rolle spielten und die häufig erhobene Forderung nach Selbstverwaltung der Gemeinden und dem Recht, den Pfarrer wählen und absetzen zu dürfen, ein Schritt auf dem Weg zu demokratischen Vorstellungen waren, rebellierten die Bauern nicht nur zu früh. Ihre soziale Stellung erlaubte es ihnen nicht, eine neue Gesellschaftsordnung durchzusetzen. Seit über 6 000 Jahren gibt es Klassengesellschaften. Manch ein Herrscher wurde von Bauernaufständen gestürzt, doch ordneten sich die Verhältnisse dann immer wieder nach dem alten Muster. Nach einer Niederlage im Bauernkrieg wäre recht schnell ein neuer Adel entstanden.

Die Unfähigkeit der Bauern, zu einer revolutio­nären Klasse zu werden, ist keine Folge ihrer angeblichen Dummheit. Auf einem Hof, wie Helmbrecht ihn verließ, wurden nicht nur Kornsäcke getragen. Eine Bauernfamilie musste ihre Kleidung und die meisten Werkzeuge selbst herstellen, Holz bearbeiten, Häuser bauen, Bier brauen, Käse herstellen und anderes mehr. Lesen konnte auch der deutsche Adel noch in der Reforma­tions­zeit nicht, und manche Inquisitoren stellten zu ihrem Entsetzen fest, dass die Bauern rege und fantasievoll über religiöse Angelegenheiten debattierten. Doch die Lebensweise zwang zum Konservatismus. Brachte eine Neuerung nicht den gewünschten Erfolg, konnte das den Hungertod bedeuten.
Als Kleinproduzenten teilten die Bauern während der Entwicklung des Kapitalismus das Schick­sal der Handwerker. Die meisten wurden Lohnarbeiter, eine Minderheit konnte sich unter den neuen Verhältnissen behaupten. Sie konnte das personelle Reservoir der Konterrevolution sein, wie 1793 in der Vendée, oder sich bürgerlichen, später proletarischen Aufständen anschließen. Lenin bekannte offen, dass ihm ein entwurzelter Proletarier lieber ist als ein an der Scholle klebender Bauer. Andere Marxisten bemühten sich, die Rolle der Bauern als potenzielle Hilfstruppen der Revolution in freundlichere Worte zu fassen.
Auch der sozialistische Staat ist auf das Mehrprodukt der Bauern angewiesen. Die stalinistischen Staaten eigneten es sich mittels der Zwangs­kollektivierung an, zu deren Abschluss Walter Ulbricht 1960 den Betroffenen verkündete, sie hätten »selbst die Bauernbefreiung unter der Führung der Arbeiterklasse errungen. Hüte stets das Bündnis mit der Arbeiterklasse wie deinen ­eigenen Augapfel.« Beim Blättern in den Blauen Bänden allerdings wäre Ulbricht auf die Warnung von Marx gestoßen, »dass, wenn wir im Be­sitz der Staatsmacht sind, wir nicht daran denken können, die Kleinbauern gewaltsam zu enteignen«, eine genossenschaftliche Produktion sei »nicht mit Gewalt, sondern durch Beispiel und Darbietung von gesellschaftlicher Hilfe« zu erreichen.
Die Landwirtschaftspolitik gehört zu den bislang ungelösten Problemen revolutionärer Theorie und Praxis. Die Assoziation freier Produzenten wird von jenen, die ihre Produktionsmittel besitzen, selbst wenn es nur ein paar Kühe sind, weniger bereitwillig akzeptiert als von Lohn­abhängigen. Derzeit dominiert in der Linken die Romantisierung des Kleinbauerntums. »Wir müssen endlich wieder Respekt für die Arbeit von Bauern entwickeln, hier wie auch in der so ­genannten Dritten Welt. Wer qualitativ hochwer­tige Lebensmittel will, muss auch bereit sein, ­einen annähernd fairen Preis zu zahlen«, meint etwa Barbara Hilgers von der Aktion 3. Welt Saar.
Der Rückgriff auf mittelalterliche Kategorien ist jedoch nicht hilfreich für emanzipatorische Politik. Die sozialen Interessen von Kleinproduzenten zu verteidigen, kann notwendig sein, ersetzt jedoch nicht das Nachdenken über eine rationale Organisierung der landwirtschaftlichen Produktion in einer Welt, in der in vielen Ländern noch immer 80 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig sind. Wer seine Kartoffeln selbst anbauen will, sollte die Möglichkeit dazu haben. Letztlich ist es jedoch ein Fortschritt, wenn immer mehr Menschen den Kornsack abwerfen und in die Welt ziehen können.