Die größte amerikanische Dienstleistungsgewerkschaft Seiu, sucht ihre Linie

A Perfect Union

In der größten amerikanischen Dienstleistungsgewerkschaft Seiu wird heftig über die derzeitige Linie diskutiert. Interne Konflikte stehen dem nächsten großen Ziel der Gewerkschaftsführung im Weg: Barack Obama zum Präsidenten der USA zu machen.

Eigentlich sollte der Bundeskongress in Puerto Rico eine Triumphfeier werden für die Service Employees International Union (Seiu). Mit einer großen Organisierungsoffensive hat die Gewerkschaft seit 1996 rund eine Million Mitglieder dazugewonnen. Präsident Andy Stern wollte feierlich verkünden, dass die Zwei-Millionen-Marke durchbrochen wurde, und dass die Seiu sich daran macht, die größte Gewerkschaft der Welt zu werden. Doch auf dem Kongress wurden vor allem die Konflikte deutlich, die die Gewerkschaft seit Anfang des Jahres belasten.

Schon seit einiger Zeit sorgt der Expansionskurs der Gewerkschaft für Aufregung. Kritiker weisen darauf hin, dass die Gewerkschaftsführung das Wachstum der Organisation zur obersten Priorität erklärt und dabei die demokratischen Mitbestimmungsmöglichkeiten der Mitglieder eingeschränkt habe.
Dies ist angesichts eines historischen Tiefs des allgemeinen gewerkschaftlichen Organisierungsgrads in den USA, der bei zwölf Prozent bzw. sieben Prozent in der Privatwirtschaft und rund zwei Prozent im privaten Dienstleistungssektor, dem Kernbereich der Seiu, liegt, nicht verwunderlich – doch ob der Zweck immer die Mittel heiligt, ist derzeit die brennende Frage innerhalb der Gewerk­schaft.
Insbesondere der mächtige Ortsverband United Healthcare Workers-West (UHW) hat es gewagt, Stern offen herauszufordern. Sal Roselli, Präsident von UHW, trat im Februar aus dem Vorstand der Seiu aus, mit der Begründung, er wolle die üblich gewordene Praxis der Gewerkschaftsführung nicht weiter unterstützen, über die lokalen Tarifkommissionen hinweg mit Unternehmen so genannte »Sweetheart-Deals« abzuschließen. Die Gewerkschaftsführung argumentierte, tarifliche Konzessionen im Tausch gegen das Recht, sich andernorts zu organisieren, dienten dem Organisationswachstum und nur eine große, wachsende Gewerkschaft sei in der Lage, Standards zu erkämpfen und zu verteidigen.
Seither tobt ein erbitterter Kampf innerhalb der Seiu, die vor allem dafür bekannt ist, Kampagnen, wie beispielsweise »Justice for Janitors« aggressiv zu führen. Der Ortsverband UHW mobilisiert seit einigen Monaten mithilfe der Website »Seiu Voice« unermüdlich gegen die Gewerkschaftsführung und kritisiert das Fehlen einer demokratischen Debatte. Die Seiu kontert mit einer beispiellosen Gegenkampagne und macht unmissverständlich deutlich, dass sie mit Kritik aus den eigenen Reihen nicht zimperlich umgeht. Sie überzog den UHW mit einer Reihe von Klagen, drohte, ihn unter Zwangsverwaltung zu stellen, und überflutete UHW-Mitglieder mit Hochglanzbroschüren und Massentelefonaten. Daraufhin überzeugte der UHW hundert teilweise prominente Akademiker, darunter Noam Chomsky und Immanuel Wallerstein, am 1. Mai einen offenen Brief an Andy Stern in der New York Times zu veröffentlichen, in dem dazu aufgerufen wurde, den UHW nicht unter Zwangsverwaltung zu stellen und eine offene Debatte zuzulassen.
Auf dem Kongress in Puerto Rico vor zwei Wochen kam es schließlich zum offenen Konflikt. Der UHW trat mit einer Reihe von Anträgen an, die mehr interne Demokratie und Mitspracherechte für Mitglieder forderten. Da der UHW es jedoch nicht geschafft hat, außerhalb seines Ortsverbands Mehrheiten zu organisieren, hatten diese Anträge lediglich eine symbolische Funktion. Beobachter vermuten, dass der UHW weitaus größere Unterstützung genießt, dass sich jedoch niemand traut, der Führung der Seiu offen entgegenzutreten. Erwartungsgemäß konnte sich die Führung der Seiu in allen Punkten durchsetzen und den UHW sogar mit der Abspaltung von 65 000 Mitgliedern abstrafen. Beobachter rechnen nun, sobald die große Aufregung abgeklungen ist, mit einer Absetzung von Roselli und mit der Zwangsverwaltung des Ortsverbandes.
Dies passt nun freilich wenig zum Kongressmotto »Gerechtigkeit für alle« – wie auch der Titel des Programms der Seiu lautet. Doch so uneinig sich die Organisation derzeit intern ist, so geschlossen und einig muss sie nun in den kommen­den Monaten auftreten. Eigentlich hatte die Gewerkschaftsführung geplant, mit dem Programm »Gerechtigkeit für alle« diese Geschlossenheit auf ihre neuen politischen Aktivitäten zu übertragen. Die Kernpunkte sehen unter anderem vor, finanzielle Mittel in der Bundesgewerkschaft zu Lasten von lokalen Budgets aufzustocken. Damit sollen vor allem politische Kampagnen unterstützt werden, insbesondere der Wahlkampf von Barack Obama. Der demokratische Präsidentschaftskandidat bedankte sich auch gleich per Videobotschaft bei dem Kongress für die unermüd­liche Unterstützung der Seiu und versprach, den gewerkschaftsfeindlichen Kurs der Bush-Administration umzukehren und gewerkschaftsfreundliche Reformen, wie den Employee Free Choice Act (EFCA) umzusetzen.

Bereits im Februar hatte die Seiu angekündigt, die Kandidatur von Obama zu unterstützen und hat seither nicht nur beträchtliche finanzielle Mittel aufgebracht, sondern auch tausende ihrer Angestellten und Mitglieder als Wahlkampfhelfer zur Verfügung gestellt – und wird dies auch bis zur Wahl im November weiterhin tun. Noch nie in ihrer Geschichte hat die Seiu über so viel Geld verfügt, um einen Wahlkampf zu unterstützen, und selten zuvor waren die Chancen, dass sich die Investitionen bezahlt machen könnten, besser.
In der Vergangenheit hatte die Seiu den Dachverband American Federation of Labor – Congress of Industrial Organizations (AFL-CIO) dafür kritisiert, dass er »planlos« zu viel Geld in aussichtslose politische Projekte, wie die Abwehr von Freihandelsabkommen, stecken würde. Auch aus diesem Grund verließ die Seiu den Dachverband 2005 und gründete die »Change to Win«-Koalition. Seither hat sie bekanntermaßen einen Großteil ihres Budgets für Organisierungskampagnen eingesetzt und ihre politischen Aktivitäten sowohl auf Bundesebene im Kongress als auch auf lokaler Ebene ausgeweitet. Dabei hat sie vor allem die Kandidaten unterstützt, die den Zielen ihrer Kampagnen am ehesten dienten – auch wenn diese Republikaner waren.
Die Spannung, mit der die Bekanntgabe des von der Seiu favorisierten Kandidaten erwartet wurde, belegt, wie wichtig die Unterstützung der Gewerkschaften nach wie vor für die Demokraten ist. Und die Seiu erwartet sich einiges vom demokratischen Kandidaten. Andy Stern kündigte an, dass die Gewerkschaft in den ersten 100 Tagen des neuen Kongresses die Hälfte ihrer personellen und finanziellen Ressourcen zur Verabschiedung des EFCA und einer allgemeinen Gesundheitsversorgung zur Verfügung stellen wird. »Das bedeutet, zehn Millionen Anrufe bei Kongressabgeordneten, das Engagement von 50 Prozent unserer Mitglieder und die Bereitstellung von weiteren zehn Millionen Dollar«, sagte Stern.
Die Verabschiedung des EFCA würde die Organisierungsbedingungen von Gewerkschaften erheblich erleichtern. Aufgrund der derzeitigen Arbeitsgesetzgebung müssen Gewerkschaften entweder in komplizierten Wahlverfahren gegen den massiven Widerstand der Unternehmen um eine tarifliche Anerkennung kämpfen – oder durch aggressive Kampagnen die Unternehmen zu einer Anerkennung zwingen. Anna Burger, Präsidentin von »Change to Win« prognostiziert, dass die Verabschiedung des EFCA sich in einem Zugewinn von jährlich einer Million neuen Gewerkschaftsmitgliedern auszahlen wird.
Doch nicht alle Gewerkschaften sind glücklich über den Bedeutungsgewinn der Seiu und die Aussicht auf Reformen in ihrem Sinne. Seit die Seiu die »Change to Win«-Koalition gegründet hat, buhlen zwei Fraktionen um Einfluss innerhalb der Demokraten. Die »alten« Industriegewerk­schaften wie beispielsweise die Automobilarbeiter­gewerk­schaft United Automobile Workers (UAW) legen Wert auf protektionistische Maßnahmen und auf die Bekämpfung von Freihandelsabkommen, die ihre Organisationsmacht in der Vergangenheit so stark geschwächt haben. Für die Seiu stehen hingegen die Verabschiedung des EFCA, die Verbesserung des Gesundheitssystems und eine Reform des Immi­grationsrechts im Vordergrund, um die Position ihrer Mitglieder zu verbessern. Diese arbeiten nämlich überwiegend im Niedriglohnsektor, ohne jegliche Krankenversicherung und meist ohne gesicherten Aufenthaltsstatus.
Auch wenn es der Seiu gelingen sollte, ihre internen Konflikte zu beseitigen und sich auf den kommenden Wahlkampf zu konzentrieren, ist weiterhin offen, ob sich die hohen Erwartungen erfüllen werden. Ken Paff, Chef der Teamster For a Democratic Union (TDU) und seit jeher kritischer Beobachter der Gewerkschaftsbewegung, ist skeptisch: »Wir haben seit 1947 eine anti­gewerkschaftliche Arbeitsgesetzgebung. Zahlreiche demokratische Präsidenten, aufgebaut und unterstützt mit gewerkschaftlichen Mitteln und Arbeitskraft, sind gekommen und gegangen, und sie alle haben versprochen, den Taft-Hartley-Act abzuschaffen. 2008 ist er immer noch da. Das gibt mir wenig Anlass, zu hoffen, dass es diesmal anders sein wird.«