Der Staat überträgt Aufgaben an Unternehmen – zum Beispiel das Spitzeln

Unternehmer ihres Vertrauens

Wer spitzeln kann, tut es auch. Das hat die Telekom bewiesen. Weil der Staat sie dazu verpflichtet, sind immer mehr Unter­nehmen technisch dazu in der Lage.

»Die IP-Adresse 80.130.89.183 wurde durch den Internetprovider T-Online AG für den Tatzeitraum an Sie vergeben und konnte daher eindeutig zugeordnet wer­den.« So heißt es in einem Strafbefehl, den das Amtsgericht Münster im Jahr 2002 an Holger Voss verschickte. Der Strafbefehl wurde zwar später aufgehoben, doch der Fall erregte öffentliche Aufmerksamkeit.
Die Begründung lieferte Voss den Beweis, dass T-Online seine IP-Adresse länger als technisch notwendig und gesetzlich vorgesehen gespeichert hatte. Andernfalls hätte er nicht als Ur­heber eines Beitrags, den er in einem Internetforum unter einem Pseu­do­nym publiziert hatte, ermittelt werden können. Nur die Protokolle der Internet­anbieter ermöglichen den Rückschluss von der numerischen IP-Adresse auf eine Person und heben damit die A­no­ny­mität im Netz auf.
Voss klagte sich gegen T-Online durch die Instanzen und erhielt im Jahr 2006 vom Bundesgerichtshof Recht, weil Telekommunikationsanbieter zu diesem Zeitpunkt nur solche Kunden­daten aufbewahren durften, die zur Erstellung der Rechnung notwendig waren. Die IP-Adresse fiel nicht darunter, zumal der Flat­rate-Kunde Voss seine Internetnutzung mit einer monat­lichen Pauschale beglich. Der Fall zeigte bereits, dass auch so genannte Verkehrsdaten datenschutzrechtliche Relevanz bergen.
Mit Verkehrsdaten sind alle Informationen über einen Kommunikationsvorgang außer dessen Inhalt gemeint. Bei Telefonaten geben sie Auskunft über Gesprächsdauer und -partner, bei Handys auch über den Standort des Geräts. Inter­netverkehrsdaten legen offen, welche Seiten ein Benutzer besucht und zu wem er E-Mail-Kontakte unterhält. Kombiniert man diese Informationen, ergibt sich ein detailliertes Bild des sozialen Lebens einer Person, inklusive politischer, wirtschaft­licher und privater Beziehungen.

Wie sich kürzlich herausgestellt hat, spähte die Detektei Network Deutschland im Auftrag der Telekom in den Jahren 2005 und 2006 Journalisten und Telekom-Mitarbeiter vor allem mit Hilfe von Verkehrsdaten der Telekom und ihrer Tochter T-Mobile aus. Detektive, die zum Teil noch beim Ministerium für Staatssicherheit der DDR ausgebildet worden waren, überwachten die Kontakte verdächtigter Personen, um undichte Stellen in den oberen Etagen des Telekom-Managements aufzuspüren. Da sich das noch vor der Einführung der Vorratsdatenspeicherung abgespielt hat, war nicht nur die Verwendung der Daten, sondern auch deren Speicherung rechtswidrig.
Network Deutschland hat damit eine von Justiz­ministerin Brigitte Zypries (SPD) gerne geäußerte Behauptung widerlegt, Verkehrsdaten gäben nur wenig Einblick ins Privatleben von Personen, entsprechend etwa den Adressangaben auf einem Briefumschlag. Datenschützer sehen im Telekom-Skandal einen Beweis dafür, dass die Privat­sphäre praktisch aller Bürger durch die Speicherung der Verkehrsdaten bedroht wird. In einer Stellungnahme des »Vereins zur Förderung des öf­fentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs« äußerte der Internetaktivist padeluun eine Binsenweisheit des Datenschutzes: »Sind die Daten erst einmal gespeichert, ist dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet.« Seine Vereinskollegin Rena Tangens sah den Vorfall als Anlass, »da­rüber nach­zudenken, die gesetzlich vorgeschriebene Vorratsdatenspeicherung abzuschaffen«.
Dieser Forderung schloss sich auch der Verband der deutschen Internetwirtschaft, Eco, an und verlangte, »als erstes den Irrweg der Vorratsdatenspeicherung aufzugeben«. Der für Recht und Regulierung zuständige Vorstand Oliver Süme sagte: »Die Politik hat mit ihrem umstritte­nen Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung ganz wesentlich zur Erosion des Datenschutzes beigetragen.« Sein Verband opponierte von Anfang an vor allem aus ökonomischen Gründen gegen die neue Gesetzgebung. Es sind schließlich die Internet- und Telefonanbieter, die die anfallenden Datenmengen über ihre Kunden speichern und verwalten müssen, um sie staatlichen Behörden bei Bedarf auszuhändigen.

Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) sieht trotz des Telekom-Skandals kein prinzipielles Problem darin, dass private Unternehmen riesige Datensammlungen über ihre Kund­schaft anlegen. Immerhin wurde die Sammelwut der Telekom in seiner Amtszeit durch die Vorratsdatenspeicherung aus der juristischen Grauzone in den Rang einer gesetzlichen Pflicht erhoben. Schäuble schließt die Aufhebung der Vorratsdatenspeicherung aus und möchte auch schärfere Datenschutz­gesetze vermeiden. Vorläufig versucht er, die Wogen mit einer absurden Selbstverpflichtung zu glätten, in der sich die Firmen zur Einhaltung der Gesetze bereit erklären.
Die Konkurrenten der Telekom zeigen sich jedoch widerspenstig und verweigerten sogar die Teilnahme an einem von Schäuble einberufenen Gespräch über das Thema, um nicht mit dem Skandal in Verbindung gebracht zu werden. Jürgen Grützner, der Geschäftsführer vom Verband der Anbieter von Telekommunikations- und Mehr­wertdiensten, begründete das so: »Die Branche ist nicht verantwortlich dafür, wenn bei der Telekom etwas schief geht.« In den zehn Jahren des liberalisierten Marktes habe es keine Probleme gegeben, sagte er im Deutschlandfunk.
Doch Schäuble hat einen guten Grund, gnädiger, als man es von ihm kennt, mit der Telekommunikationsbranche umzugehen. Das erklärte Ziel des Innenministers und einiger seiner europäischen Amtskollegen wäre ohne ihre Hilfe kaum zu erreichen: die Protokollierung der gesamten Telekommunikation in der EU. Es sind die Anbieter, die den Polizeibehörden die Daten zur Verfügung stellen, mit denen sie jedes Tele­fonat der vergangenen sechs Monate nachvollziehen und Bewegungsprofile von Handybenutzern erstellen können. Für Internetanbieter wird die Vorratsdatenspeicherung in Deutschland ab dem nächsten Jahr zur Pflicht.
Für Schäuble und Zypries ist die Vorratsdatenspeicherung ein politischer Coup. Der Staat spart durch die Auslagerung der Überwachung nicht nur enorme Kosten für den Aufbau einer weiteren monströsen Behörde. Auch vermeidet man, selbst Misstrauen auf sich zu ziehen.

Ausgerechnet die Unternehmen sollen also garantieren, dass mit den sensiblen Daten verantwortlich umgegangen wird. Was angesichts kapitalistischer Zwänge ohnehin fragwürdig erscheint, wird durch die Skandale bei Lidl, Ikea, Lufthansa und Telekom ad absurdum geführt.
Es existiert keine Institution, die den Missbrauch der bei den Unternehmen lagernden Datensammlungen verhindern oder aufdecken könn­te. Thilo Weichert vom Unabhängigen Landeszentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein beispielsweise ist mit nur drei Mitarbeitern für die Kontrolle von 100 000 Unternehmen in seinem Bundesland zuständig. Eine Ausnahme bildet ein solches Verhältnis nicht. Der ­Telekom-Skandal kam nur ans Tageslicht, weil in diesem Fall tatsächlich eine firmeninterne ­Untersuchung eingeleitet worden war.
Privatisierungen sind den staatlichen Überwachungsgelüsten offenbar nicht abträglich. Telekommunikationsanbieter protokollieren das Verhalten ihrer Kunden, und Fluggesellschaften sollen neben den Flugdaten und die Bezahlungsart künftig sogar den Essenswunsch ihrer Passagiere speichern. Die Behörden lassen sich später bei Bedarf nur die gewünschten Daten liefern. Mit ähnlichen Modellen ließe sich auch eine umfassende Überwachung noch zu privatisierender Bereiche wie der Post oder des Zug- und Auto­bahnverkehrs organisieren – die automatische Erfassung aller Kfz-Kennzeichen an den LKW-Maut­stationen steht hier als erster Schritt bereits zur Diskussion.