»Aufschwung« und Vollbeschäftigung

Das Märchen von Nürnberg

Ein Vollbeschäftigungswunder wird es in absehbarer Zeit in Deutschland nicht geben.

Champagnerlaune in der Politik! Seit über einem Jahr ist ein Rückgang bei den Arbeitslosenzahlen zu verzeichnen. In den ersten Monaten dieses Jahres war er besonders stark. Der SPD-Vorsitzende Kurt Beck und sein Vize, Außenminister Frank-Walter Steinmeier, sehen auf einmal gute Chancen für Vollbeschäftigung in Deutschland ab dem Jahr 2010. In einem gemeinsamen Aufsatz für die Süddeutsche Zeitung schreiben die beiden potenziellen Kanzlerkandidaten: »Wir wollen die Arbeits­losigkeit (…) besiegen. Unser Ziel für das nächste Jahrzehnt ist: Vollbeschäftigung zu guten Löhnen und fairen Arbeitsbedingungen.« Auch ihr Parteigenosse Arbeitsminister Olaf Scholz verbreitet Zuversicht. »Vollbeschäftigung ist kein Traum, sondern ein realistisches Ziel«, sagte er im April der Bild-Zeitung.
Einen Beleg für die die sozialdemokratische Bom­benstimmung in Sachen Arbeitsmarkt liefert auch der Text »Aufstieg und Gerechtigkeit« zum »Zukunfts­konvent« der Partei, der Ende Mai in Nürnberg stattfand. Er beginnt bereits mit dem Satz »Vollbeschäftigung ist möglich«. Einen Gedanken dazu, wie die SPD dieses Ziel erreichen könnte, sucht man darin allerdings vergeblich.
Auch in den anderen Parteien wird immer häufiger von Vollbeschäftigung geredet. Bundeswirtschaftsminister Michael Glos (CSU) glaubt daran und sein Parteivorsitzender Erwin Huber auch. Und Bundespräsident Horst Köhler ist optimistisch, wenn der »Agenda 2010« seine »Reform­agenda 2020« folgt.

Was heißt überhaupt »Vollbeschäftigung«? Zuletzt gab es sie in den sechziger Jahren, also zu einer Zeit, an die sich der Großteil der heute Beschäftigten kaum erinnern dürfte. Damals lag die Arbeitslosenrate bei einem Prozent. Dieses Niveau hält heute niemand mehr ernsthaft für erreichbar. Heutzutage nennen die meisten Volkswirte einen Standardwert für Vollbeschäftigung von vier Prozent. Das entspräche einer Arbeitslosenzahl von 1,6 Millionen. Doch selbst von diesem eher bescheidenen Ziel ist Deutschland mit derzeit rund 3,4 Millionen Arbeitslosen noch meilenweit entfernt. Ganz abgesehen davon, dass zu dieser Zahl weitere 1,6 Millionen Menschen aus der so genannten Stillen Reserve hinzukommen. Das sind Arbeit suchende Menschen, die sich nicht arbeitslos gemeldet haben. Weiterhin befinden sich zurzeit 1,55 Millionen Menschen in einer geförderten »Maßnahme« der Bundesagentur für Arbeit (BA) – einer Fortbildung, einem Ein-Euro-Job oder einem Praktikum. Obwohl noch immer arbeitslos, werden sie nicht mitgezählt, weil sie vorübergehend nicht vermittelbar sind.
Darüber hinaus wuchs die Beschäftigung im derzeitigen »Aufschwung« größtenteils im prekären Bereich. Schlecht bezahlte Leiharbeit, Minijobs, befristete Tätigkeiten, Teilzeitbeschäftigungen, Beschäftigungen zu Niedriglöhnen und prekäres Einzelunternehmertum nehmen explosions­artig zu. Das zeigt nicht zuletzt die Anzahl der so genannten Aufstocker, die weniger Geld als nach Hartz IV beziehen und denen daher eine Zuzahlung zusteht. Nicht einmal mehr ein sozial­versiche­rungspflichtiger Vollzeitjob ist eine Garantie dafür, dass man vom gezahlten Entgelt leben kann. Wer nach längerer Suche endlich wieder eine Arbeit findet, bekommt häufig weniger Geld als zuvor. Auch die Zahl der Arbeitnehmer mit Zweitjob wächst. Mittlerweile sind es ca. eine Million, weitere 700 000 Menschen üben unregelmäßig einen Nebenjob aus.

Selbst um die vermeintlich gute Konjunktur ist es bei näherer Betrachtung gar nicht so gut bestellt. Das Wirtschaftswachstum betrug im ersten Quartal dieses Jahres 1,5 Prozent. Umgerechnet auf das ganze Jahr wären das stolze sechs Prozent. Auf dieser Hochrechnung gründen die grandiosen Zukunftsszenarien von Beck, Köhler und Co. Es spricht aber viel dafür, dass es sich bei der famosen Quartalszahl um eine einmalige Sache handelt. So wurde ein großer Teil der hergestellten Produkte nicht direkt abgesetzt, sondern wanderte in Warenlager. Dieser Lageraufbau hat mit 0,7 Prozent außergewöhnlich stark zum Wachstum beigetragen. Lageraufbau bedeutet aber nichts anderes als Überproduktion. Irgendwann wird entweder ein Lagerabbau oder die Abschreibung nicht abzusetzender Waren erfolgen. Beides drückt die Wachstumszahlen.
Eine weitere Verzerrung ergab sich aus dem milden Wetter zum Jahresanfang. Dadurch war auf dem Bau mehr zu tun als sonst um diese Zeit. Die »Frühjahrsbelebung« wurde somit vorweggenommen und wird im Folgequartal entsprechend ausbleiben. Ferner haben viele Unternehmen aus steuerlichen Gründen noch Ende vergangenen Jahres Aufträge erhalten, die zum Jahresbeginn abgearbeitet wurden, während Folgeaufträge auf sich warten lassen.
So addieren sich mehrere einmalige Sonder­effekte. Es ist mehr als naiv, die sich daraus ergebende Zahl auf das ganze Jahr hochzurechnen. Seriösere Schätzungen gehen für das laufende zweite Quartal von einem Wachstum nahe Null oder gar einem Schrumpfen aus.
Das große Wirtschaftswachstum wurde sowieso nur in Deutschland verzeichnet. In den anderen Euroländern betrug das Plus fürs erste Quartal mit 0,7 Prozent nicht einmal die Hälfte. Das liegt an der deutschen Spitzenposition im innereuropäischen Lohndumpingwettbewerb, die nicht zuletzt durch die Hartz-Reformen erreicht wurde. Hierzulande können Unternehmen zu extrem niedrigen Lohnstückkosten produzieren und über­schwemmen die Handelspartner aus der Eurozone mit ihren Waren. Diese sehen sich gezwungen, ebenfalls die Löhne zu drücken. So könnte der nächste deutsche Exportschlager »Hartz IV« lauten.
Die wichtigsten Käuferländer außerhalb der Eurozone sind die USA und Großbritannien. In bei­den Ländern beruhte ein Großteil der Kaufkraft auf Hypotheken, die auf überbewertete Immobilien aufgenommen wurden. Durch den Verfall der Grundstückspreise im Zuge der interna­tio­nalen Finanzkrise brechen diese Konsumenten weg. Generell kann das Ausland die Konjunktur hierzulande immer weniger stützen. Einer der wenigen noch funktionierenden Exportsektoren ist der Maschinenbau. Aber auch hier könnte die Party bald vorbei sein. Denn der noch amtierende Exportweltmeister Deutschland ist Ausrüster für auf­strebende Billiglohnländer wie Indien oder China. Die setzen ihre Waren aber ebenfalls zu einem Großteil in den USA und in Westeuropa ab. Wenn dort die Nachfrage nach Konsumgütern in absehbarer Zeit einbricht, wird auch der Bedarf der aufstrebenden Länder an Maschinen deutlich geringer ausfallen.

Seit Monaten werden »Experten« nicht müde, die Parole auszugeben, dass jeden Moment die Binnennachfrage anspringt und die sinkenden Exporte ausgleicht. Wie kommen sie nur darauf? Die deutschen Erfolge gründen auf den niedrigsten Lohnzuwächsen aller entwickelten Industrieländer, einer restriktiven Sozialpolitik und massiven Einsparungen bei Erziehung, Bildung und Infrastruktur. Deutschland ist einsame Spitze bei der Erzeugung von Schulversagern und Schlusslicht bei den Hochschulabsolventen. Die eingespar­ten Kosten entlasten die Wirtschaft und tragen wesentlich dazu bei, die Ausfuhren zu verbilligen und die Konkurrenten zu verdrängen. So wird gegenwärtige und künftige Lebensqualität dem Exporterfolg geopfert. Dass vor diesem Hintergrund ausgerechnet die Binnennachfrage die wegbrechenden Exporte ausgleichen soll, ist nicht nur reines Wunschdenken, sondern purer Zynismus. Und das Gerede von Vollbeschäftigung ist somit pure Phantasie.