Venezuela im 10. Jahr der »bolivarischen Revolution«

Das zehnte Jahr des Comandante

Venezuela hat karibische Strände, schneebedeckte Berge, vier Miss Universum, das billigste Benzin der Welt und den »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«. Vor zehn Jahren wurde Hugo Chávez zum ersten Mal zum Präsidenten gewählt. Was halten die Leute von seiner »bolivarischen Revolution«?

Wer die Grenze nach Venezuela übertritt, muss erst einmal seine Uhr eine halbe Stunde zurückstellen. Seit einem halben Jahr gilt dort die »sozialistische« Zeitrechung. Nicht nur die Uhren weisen darauf hin, dass hier einiges »anders« läuft. Parolen an den Wänden und aufwändige politische Graffiti an jeder Ecke begleiten den Alltag der Menschen auf den Straßen, und natürlich der kleine Mann im roten Hemd: »Comandante« Hugo Chá­vez. Vor allem die Debatte über die Verfas­sungs­reform vom vergangenen Dezember ist noch überall präsent. Man kann zwei Stunden durch die venezolanische Steppe fahren, ohne ein einziges Haus zu sehen, aber mit großer Wahrscheinlichkeit sind die ersten Mauern am Straßenrand mit »Si« oder »No« besprüht. Die Frage, wie abzustimmen sei, spaltete die Bevölkerung. »Chávez ja, Reform nein« – eine große Wandmalerei in Ciudad Bolivar macht deutlich, dass man auch den Präsidenten unterstützen und trotzdem gegen die Reform sein kann. Oder umgekehrt.
Wie viele andere Aspekte der Politik von Chávez war die Reform eine Mischung aus sozialem und demokratischem Fortschritt einerseits und antidemokratischen Elementen andererseits. Die Reform scheiterte damals knapp, für Chávez jedoch war das nur eine vorübergehende Niederlage. »Wir kämpfen weiter für den Aufbau des Sozialismus«, erklärte er. Mit denselben Worten hatte er sich auch 1992 geäußert, nach seinem gescheiterten Putschversuch. Damals hatte er sich entschieden, den »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« auf demokratischem Wege zu erreichen. 1998 schaffte er den ersten Schritt und wurde zum Präsidenten gewählt, 2006 wurde er mit über 60 Prozent der Stimmen im Amt bestätigt. Venezuela befinde sich mittlerweile im zehnten Jahr der so genannten bolivarischen Revolution – woran die Werbung im staatlichen Fernsehen unaufhörlich erinnert.
Nicht nur die staatlichen Medien thematisieren die »Revolution«. Egal wen man fragt, was er oder sie denn von Chávez halte, wird man in der Regel mindestens eine halbe Stunde Lobeshymnen, Hasstiraden oder irgendwas dazwischen zu hören bekommen.

Alejandro, ein 52jähriger Chilene, der seit fast 30 Jahren in Venezuela lebt, hält dieses neue politische Bewusstsein für einen großen Erfolg der Politik von Chávez: »Man kann für oder gegen die Revolution sein. Aber zumindest hat jeder hier eine Meinung, die Menschen informieren sich und diskutieren.« Er selber ist kein Freund von Chávez, jedoch regt es ihn auf, wenn er von einer »Diktatur« in Venezuela reden hört. »Ich bin aus Chile nach Argentinien geflohen, als sich Pinochet an die Macht geputscht hat. Als dort das Militär die Macht übernahm, bin ich nach Venezuela. Ich weiß, was es bedeutet, in einer Diktatur zu leben. Aber hier kann ich öffentlich alles sagen, Chávez und die Regierung kritisieren. Vielleicht muss ich mich dann mit chavistas herumstreiten, aber ich muss keine Angst haben, nachts von der Polizei abgeholt zu werden.« Die Meinungsfreiheit trägt leider zur Informationsbeschaffung kaum etwas bei. Für eine ansatzweise ausgewogene Information ist man hier stets auf mindestens zwei Tageszeitungen angewiesen. Die Medien stehen entweder der Regierung oder der Opposition nahe und richten ihre Berichterstattung vornehmlich nach ideologischen und weniger nach journalistischen Maßstäben aus. Trotzdem haben viele Venezolaner eine differenzierte Meinung zur Revolution.
So wie Gustavo, der als Tourguide arbeitet und nebenher seinen Verdienst mit illegalem Benzinverkauf an Brasilianer aufbessert. Für ihn ist der ganze Prozess zu ideologisch gefärbt: »Warum diese Abneigung gegen Reiche, gegen das Geld? Man kann nicht einfach einem ein Haus wegnehmen, nur weil er zwei hat und ein anderer keins. Wenn du arbeitest und Geld verdienst, hast du das Recht auf einen Ferrari.« Vor allem regt ihn auf, dass sein achtjähriger Sohn in der Schule bereits Lenin und Marx lesen soll: »Muss man als Kind in Deutschland in der Schule Hitler lesen?« Trotz seiner antikommunistischen Einstellung weiß Gustavo auch Gutes zu berichten. Da er in einer Region mit einem hohem Anteil an indigener Bevölkerung wohnt, sieht er die Verbesserungen für diese Gruppen: »Chávez baut ihnen Häuser, gibt ihnen Sonderrechte zum Goldabbau.« Während er das erzählt, fährt ein weißer Jeep mit Vierradantrieb auf der Straße vorbei, vollbesetzt mit Indígenas aus einem abgelegenen Dorf. Auch der ist von der Regierung gespendet worden. Die indigene Bevölkerung, die heute in vielen Ländern Lateinamerikas unter Rassismus und großer Armut zu leiden hat, wird in Venezuela vom Staat gefördert, und die Indígenas werden stolz als die »wahren Venezolaner« präsentiert. Dementsprechend groß ist in den indigenen Gemeinden die Unterstützung für den »Comandante«. Dies gehört, neben kostenloser Bildung und medizinischer Versorgung, zu den Gründen, warum Gustavo – als Gegner von Chávez – in der Misión Rivas aktiv ist. Die Misión Rivas ist ein Vorzeige-Programm, das mit Freiwilligen in den ländlichen und ärmeren Gebieten den Leuten Bildung bringen will. Für ein symbolisches Gehalt unterrichtet Gustavo zweimal die Woche Englisch und Geschichte für Familienmütter, Schulabbrecher und ehemalige Werksarbeiter. Ob Alphabetisierungsprogramme, Kleinkredite oder die »perfekte zivil-militärische Fusion« – für viele Bereiche gibt es solche Missionen, die als wichtiger Teil des »bolivarischen Prozesses« gelten.

Für Emiliano, knapp 50 Jahre alt und erklärter Unterstützer des Präsidenten, ist die größte Errungenschaft die Verstaatlichung der Erdölindustrie: »Die alten Regierungen haben den Barrel Öl für sechs Dollar an die USA verkauft, nun ist der Preis bei 111 Dollar. Von den zusätzlichen Einnahmen kann Chávez all die Sachen machen, die er macht.« Um Leuten wie Emiliano zu zeigen, dass das Geld bei ihnen ankommt, wurde die PDVAL gegründet, eine Unterfirma des staatlichen Ölkonzerns PDVSA, die zu sehr niedrigen Preisen Grundnahrungsmittel an die Bevölkerung verteilt.
»Von jedem Produkt nur ein Stück mitnehmen«, ermahnt eine Frau im Zentrum der Andenstadt Mérida die Menschen, die vor drei Zelten in einer langen Schlange für ihre Ration anstehen. Mehrere tausend Verteilungspunkte werden im ganzen Land betrieben. Was für Emiliano ein solidarischer Akt ist, ist für andere jedoch nur ein populistischer Versuch, die extremen Preissteigerungen bei den Lebensmitteln zu kompensieren. Zum Thema Öl findet Emiliano vor allem eines klasse: »Chávez tritt den Yankees in den Arsch. Durch ihren horrenden Verbrauch sind sie auf uns als Land mit den weltweit größten Ölreserven angewiesen.« Zudem glaubt er, dass durch das Erdöl eine Art Waffenstillstand herrscht: »Solange wir den Amis Öl geben, greifen sie uns nicht an, und solange die Amis uns nicht angreifen, bekommen sie ihr Öl.«
Die USA – für Emiliano gleichbedeutend mit den Juden – sind ein großes Thema in Venezuela und für die chavistas die Ursache allen Übels. George W. Bush ist der Teufel in Person. Stars and Stripes sind meist in Verbindung mit Totenköpfen zu sehen, und in der staatlichen Kampagne gegen Exxon, die mit der Verstaatlichung der Erdölanlagen endete, wurde der Firmenname mit Hakenkreuzen geschrieben.

Wenn chavistas vom »Imperium« und »dem Feind« reden, weiß jeder, wer gemeint ist. Gustavo hält davon nichts: »Dieser Dogmatismus hält den wirtschaftlichen Aufschwung auf«, davon ist er überzeugt. »Man muss mit den großen und entwickelten Ländern zusammen arbeiten, ob einem das gefällt oder nicht. Aber wegen der Ideologie machen wir Verträge mit dem Iran, Russland und Nordkorea. Wer will denn Autos aus Nordkorea?«
Problematischer als Autos aus »sozialistischen« Ländern ist aber die Beschwörung der antiimperialistischen Front, die Chávez zum engen Freund von Diktatoren wie Robert Mugabe und Mahmoud Ahmadinejad macht. Erst im April haben Venezuela und der Iran die »unzerbrechliche Bruderschaft und Freundschaft zwischen der Islamischen und der Bolivarianischen Republik« erneut durch Verträge bekräftigt, um den »Fortschritt und das Glück ihrer Völker« voranzutreiben.
Für viele westliche Fans der »bolivarischen Revo­lution« ist dies kein Problem, auch sie wissen, wo der Feind steht. »Der Feind ist groß und mächtig, er ist überall, in den NGO, in den Stiftungen, in den Studentenbewegungen«, erklärt Mario, ein Italiener Ende Zwanzig, der seit dem Putsch vor sechs Jahren in Caracas in »bolivarischen« Projekten arbeitet. Daher hält er Kritik an wie auch linke Proteste gegen Chávez für einen Versuch, die Bewegung zu schwächen. Man müsse den wahren Gegner erkennen und bekämpfen. »Das ist kein Kinderspiel hier, das ist Krieg.« Damit rechtfertigt er auch die undemokratischen Vorstöße des Präsidenten. Sie seien zur Verteidigung nötig.
Die rechte Opposition lässt keine Gelegenheit aus, die Gefahr einer kommunistischen Diktatur zu beschwören. Dabei steht die Abschaffung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse gar nicht zur Debatte. Zwar gibt es vereinzelte Verstaatlichungen, wie bei der Erdölindustrie oder beim Hilton-Hotel in der Innenstadt von Caracas. Zuletzt wurden durch die staatliche Übernahme des Stahlwerks Sidor »über 10 000 Arbeiter aus dem Joch befreit«, wie es offiziell hieß. Die Maßnahmen beschränken sich aber zumeist auf eine Umverteilungspolitik.
Das Wirtschaftswachstum kommt weiterhin vor allem den reichen Schichten zu Gute. Über dem Zentrum der Hauptstadt – der Eigenwerbung zufolge die »Welthauptstadt des Antiimperialismus« – thronen kein roter Stern und auch kein Abbild des Präsidenten, sondern eine überdimensionale Nestlé-Kaffeetasse und Pepsi-Werbung.

Venezuela ist vom Kommunismus wie von einer totalitären Diktatur gleich weit entfernt. Die Versuche der Regierung, die Bevölkerung auf Linie zu bringen, sind jedoch spürbar. Ein Dekret zur Erweiterung der Befugnisse des Geheimdienstes – von der Opposition als »Spitzel-Gesetz« bezeichnet – musste Chávez Anfang Juni wegen Protesten zunächst einmal zurückziehen. Durch eine weitere, ebenfalls heftig diskutierte Reform soll derzeit das »bolivarische Erziehungssystem« eingeführt und damit die Ideologie des »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« in der Bildung verankert werden. Zu der so genannten neuen sozialistischen Ethik passen beispielsweise Fernsehserien wie die »Simpsons« nicht. Die Serie beinhalte »Verhaltensweisen und Eigenschaften, die das Publikum negativ beeinflussen können«, daher darf die Cartoon-Familie nun erst ab 22 Uhr ausgestrahlt werden. Im Mittagsprogramm läuft stattdessen »Baywatch«.
Viele Menschen haben allerdings größere Probleme als den Einfluss anti-autoritärer Comic-Figuren: Im vergangenen Jahr wurden fast 13 000 Menschen ermordet, in den meisten größeren Städten gibt es Viertel, die von der Polizei längst verlassen wurden. Mehr Polizisten bedeuten aber nicht unbedingt mehr Sicherheit: Korruption ist weit verbreitet, und Raubüberfälle durch Uniformierte sind nichts Außergewöhnliches.
Dies sorgt für große Unzufriedenheit in der Bevölkerung, auch unter den Anhängern des »Co­man­dante«. Ebenso wie der Versuch, die Revolution »von oben« durchzusetzen und sie zu institutionalisieren. Deutlich wurde dies bei der jüngst erfolgten Konstituierung der neuen sozialistischen Staatspartei, der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV), die die in viele Gruppen und Parteien gespaltene Chávez-freundliche Linke vereinen soll.
Carlos, ein 52jähriger Kunstlehrer und politischer Aktivist aus Caracas, hält nichts von der Einheitspartei: »Die wollen die Partei wie das Militär aufbauen. Aber wir sind keine Soldaten, wir sind Menschen.« Er in ist den vielfältigen sozialen Bewegungen aktiv, die als Träger des Prozesses gelten und die zunehmende Bürokratisierung der Revolution mit Sorge betrachten. »Wir, die sozialen Bewegungen, waren schon vor Chávez da. Wir unterstützen und verteidigen ihn, wenn es nötig ist, so wie beim Putsch 2002. Aber wir passen auch auf. Und wenn uns etwas nicht passt oder er zu weit geht, zeigen wir es ihm. So wie neulich im 23 de Enero.«
Anfang April hatten über 50 bewaffnete und vermummte Personen einen Tag lang mit einer »revolutionären Blockade« sämtliche Durchfahrtstraßen des Stadtviertels 23 de Enero in Caracas gesperrt, um gegen vorangegangene Polizei­razzien zu protestierten. 23 de Enero ist ein Arbeiterviertel und Hochburg der radikalsten Ini­tiativen in der Hauptstadt. Viele Mauern sind mit übergroßen politischen Bildern bemalt, eines zeigt zum Beispiel Jesus mit einem Maschinengewehr in der Hand. »Wir wollten keinen Terror machen oder jemanden verletzen«, erzählt Carlos über die Aktion. »Wir wollten nur zeigen, dass wir da sind. Und dass wir Waffen haben.« Während die oppositionelle Presse vom »Gesetz des Terrors« sprach, sah Chávez eine »Provokation der Rechten« und von der CIA bezahlte Terroristen am Werk. Für den Präsidenten sind Proteste fast immer »Manipulationen und Attacken des Imperiums«.
Die Beschwörung der USA als Verursacher aller Probleme – inklusive der nicht erfüllten Versprechen des Sozialismus und der Kritik von links – könnte Chávez zum Verhängnis werden, denn die Unzufriedenheit unter seinen Unterstützern wächst.
Daran werden auch populistische Manöver wie die Einführung der neuen Währung (des »Starken Bolivar«) oder die Senkung des Benzinpreises auf 1,5 Cent pro Liter langfristig nichts ändern. Ebenso­wenig wie die Tatsache, dass man überall im Land auf riesigen Werbetafeln Hugo Chávez dabei be­obachten kann, wie er gerade Öl pumpt, eine Glühbirne auswechselt oder über die Revolution grübelt.
»Braucht ihr in Europa nicht noch einen verrückten Präsidenten?« fragt der Mann am Flughafenschalter.