Keine kommunistische Kritik ohne Anton Pannekoek

Der erste Autonome

Bei der Entwicklung kommunistischer Kritik ist von Anton Pannekoeks Schriften auszugehen.

In seiner in den dreißiger Jahren entstandenen Darstellung »Demokratie und Sozialismus« skizzierte der marxistische Historiker Artur Rosenberg in einer Nebenbemerkung drei Etappen der Entwicklung des Marxismus. Während er, jenseits der Entwicklung der Kritik der Politischen Ökonomie, die Stammväter und mit ihnen die wegen der verzögerten Entwicklung Russlands verspäteten, aber gleichartigen Bolschewiki noch als revolutionär-jakobinisch charakterisierte, war die Zweite Internationale für ihn zwar schon proletarisch geprägt, aber wegen der relativen Schwäche der Arbeiter in der Gesellschaft noch notwendigerweise rein reformistisch ausgerichtet. Erst nach der vollständigen Durchsetzung des Kapitalismus und damit der Unmöglich­keit von weiteren Bündnissen zwischen Bourgeoisie und klassenbewusstem Proletariat, also etwa zu Beginn des 20. Jahrhunderts, habe die Verbindung von Kommunismus und Arbeiterbewegung auch theoretisch erarbeitet werden können. Erfolgt sei dies neben Rosa Luxemburg vor allem durch »die Gruppe der marxistischen Linken in Holland«, denn, so Rosenberg, nur sie hätten »in der Gegenwart des Proletariats schon seine Zukunft« zu vertreten gewusst. Das Verhältnis der drei Strömungen zueinander in den folgenden Jahrzehnten hätte Rosenberg allerdings mit Sicherheit erstaunt.

Nicht die Repräsentation der Zukunft, sondern die Zombies der Vergangenheit feierten auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Formen von Sozialdemokratie und Leninismus (keineswegs immer identisch mit den Ideen seines Namensgebers!) fröhliche Urständ. Dagegen ist die kommunistische Strömung, außer um 1968 und auch hier rein minoritär, fast völlig in Vergessenheit geraten. Während Rosa Luxemburg immerhin noch über eine gewisse Popularität verfügt, ist der bedeutendste Vertreter dieses dritten Strangs, wie auch sein Freund Herman Gorter, selbst unter Linken kaum mehr bekannt: der Nie­derländer Anton Pannekoek. Würde es sich hier um eine rein historische oder gar biographische Lücke handeln, so lohnte weiterer Hader kaum. Leider aber spiegelt dies vor allem die Blockade kommunistischer Kritik wider, in deren Zentrum außer der Kritik der Warengesellschaft zwei aus dem traditionellen Marxismus fast unbekannte Begriffe stehen: Klassenautonomie und Antiautoritarismus.
Ganz historisch-materialistisch stellte aber nicht etwa eine neue Begrifflichkeit den Beginn des Abschieds der Linksradikalen vom »offiziellen Marxismus« dar, sondern eine neue Aktionsform, mit der zunächst 1905 die an der Peripherie sowohl der weltweiten Akkumulation als auch der Arbeiterbewegung befindlichen russischen Proleten aufwarteten und die sich in der revolutionären Welle nach 1917 international überall wie von selbst entwickelte: die Bildung von Vollversammlungen und ihnen Rechenschaft pflichtigen Sowjets oder Räten als auf Selbsttätigkeit be­ruhenden und – im Gegensatz zu den Parlamenten des Bürgertums – rein proletarischen Organen. Gepaart mit den westeuropäischen Massenstreikerfahrungen führte ihre Analyse bei einer radikalen Minderheit dazu, die Prozesshaftigkeit des Kommunismus als »Bewegung der Selbstaufhebung« entgegen der bisherigen etatistisch geprägten Zielvorstellung hervorzubringen.
Handelte es sich in den Auseinandersetzungen vor und während des Ersten Weltkriegs noch eher um eine Antizipation einer eigenen Strömung, weil auch die Formen der »alten Arbeiterbewegung« noch nicht generell in Frage gestellt wurden, so entwickelte sich durch die Erfahrungen vor allem der deutschen Revolution eine Synthese, die so klar wie nirgends sonst von Pa­n­nekoek in seiner 1920 erschienenen Schrift »Weltrevolution und kommunistische Taktik« dar­gelegt wurde. Neben der Skizze der Notwendigkeit der Klassenautonomie – was vor allem bedeutete, die Mitarbeit in allen bürgerlichen Institutionen wie den Parlamenten, jeglichen Nationalismus oder die Teilnahme am imperialistischen Krieg vehement abzulehnen – enthielt die Schrift vor allem eine antiautoritäre und emanzipatorische Zielstellung. »Wenn aber der wichtigste Inhalt der Revolution darin besteht«, so begründete Pannekoek seine auch gegen alle putschistischen Revolutionsvorstellungen gerichtete Sichtweise, »dass die Massen selbst ihre Angelegenheiten in die Hand nehmen, dann ist jede Organisationsform konterrevolutionär und schäd­lich, die den Massen nicht gestattet, selbst zu herrschen und zu leiten; daher soll sie ersetzt wer­den durch eine andere Form, die deshalb revolutionär ist, weil sie die Arbeiter selbst aktiv über alles bestimmen lässt.« Hier war auch kein Platz mehr für Gewerkschaften oder taktische Parlamentsbeteiligung, wie Lenin sie in seiner Schrift gegen »linksradikale Kinderkrankheiten« forderte.

Dass solche Kritiken auch zu einer scharfen Kri­tik des bolschewistischen Modells in Sowjetruss­land führen mussten, liegt auf der Hand. Dabei gehörten Pannekoek und Gorter im Ersten Weltkrieg zu den eifrigsten Mitkämpfern der von Lenin inszenierten Zimmerwalder Linken, die die Parteinahme gegen alle imperialistischen Mächte und nationalistischen Bewegungen gleichermaßen nunmehr allein repräsentierte. Spätestens aber nach der Niederschlagung des Kronstädter Aufstands und der Absetzung der Räteherrschaft durch die Betriebsmanager entwickelten die holländischen Linkskommunisten und ihre deutschen Freunde der KAPD und ihrer Ausläufer scharfe Kritiken an der staatskapitalistischen Ent­wicklung einer »bürgerlichen Revolution mit proletarischen Mitteln«.

In Hinblick auf die Forderung nach Klassenau­tono­mie als naheliegender Antwort auf die Einheitsfronten aller bürgerlichen Lager gegen die Emanzipationsbestrebungen sozialer Kämpfe hat die »holländische marxistische Schule« eine Vorreiterrolle eingenommen, die die gesamte linke Dissidenz innerhalb des Marxismus geprägt hat. Einzigartig dagegen bleibt – abgesehen vielleicht von einer vom Kryptischen befreiten si­tuationistischen Kritik – der von Pannekoek beschriebene Zusammenhang von kommunistischer Kritik und Emanzipationsbewegung, der in allen kommunistischen Strömungen ein kaum zu lösendes Dilemma darstellte. Während etwa der italienische Dissident Amadeo Bordiga einen immer rigideren Führungsanspruch der Partei zur Organisierung der Revolution vertrat und damit die Prozesshaftigkeit der »Selbstbewusstseinsentwicklung der Klasse« in den Hintergrund drän­gte, verabschiedete sich der als Verfallsprodukt aus der holländischen Linken hervorgegangene Rätekommunismus vollends von jeder Art organisierter Kritik und revolutionärer Strategie zugunsten eines zahnlosen Antiautoritarismus. Vor allem Otto Rühle und der kürzlich verstorbene Cajo Brendel betonten tausendfach, dass nicht nur die Revolution »keine Parteisache« sein dürfe, sondern – in den Worten eines weiteren bekannten Rätekommunisten – »sich der Kommunist unserer Zeit dem kämpfenden Arbeiter angleichen sollte« (Theo Maassen), statt sie mit politischen Kritiken zu behelligen. Der fetischartige Jubel gegenüber allen rein ökonomischen Käm­pfen und die heilsartige Erwartung der kommenden Todeskrise des Kapitalismus, die die Arbeiter jenseits allen Klassenbewusstseins zum Kampf zwingen würde, erinnerte nicht zufällig an den »revolutionären Attentismus« der Vorkriegssozialdemokratie abzüglich der Vereinsmeierei.
Solche Naivität teilte Pannekoek nicht. Er hatte verfolgt, wie die Räte in Deutschland die Macht selbst wieder in die Hände des Bürgertums gelegt hatten und dass dessen stärkste Waffe – die Ideologie – relativ unbeschadet den Schlamassel überlebt hatte. So entwickelte Pannekoek das Konzept des »politischen Avantgardismus«, der im Gegensatz zu Lenins Auffassungen die Revolution nicht organisieren, sondern durch die Ent­wicklung von Klassenbewusstsein den Pol des Kommunismus über die Kämpfe hinweg repräsen­tieren und so die Revolten vorbereiten sollte. Gerade Brendel hat Pannekoek immer wieder als Kronzeugen für seine Negation der Bedeutung von Ideologiekritik und politischer Analyse bemüht. So hat er in seiner mehrfach übersetzten Pannekoek-Biographie behauptet, dieser habe seit den dreißiger Jahren »jede Partei, gleich welcher Art, als Widerspruch zur proletarischen Organisation betrachtet«. Nichts könnte falscher sein. Noch 1947, in einem seiner letzten Texte, schrieb Pannekoek: »Die Arbeiterräte sind die Organe der praktischen Aktion und des Kampfes der Arbeiterklasse; den Parteien kommt die Aufgabe zu, die geistigen Kräfte zu entwickeln. Ihre Arbeit ist ein unersetzbarer Bestandteil der Selbstbefreiung der Arbeiterklasse.« Den Zusammenhang von auf die Autonomie zielender kommunistischer Kritik von Staat und Ausbeutung und der antiautoritären Revolution, die keine Parteisache sein kann, hergestellt zu haben, ist eines der zentralen Verdienste Pannekoeks.
Wenn also alle Gespenster der Vergangenheit nach dem endgültigen Abschied der Sozialdemokratie und dem verdienten Ende des Stalinismus vertrieben zu sein scheinen, dann ist noch nichts darüber gesagt, ob Rosenberg hinsichtlich des Marxismus der Zukunft, der über Marx hinauszuweisen hätte, Recht behalten wird. Sollte der Kommunismus als Prozess der Selbst­aufhebung des Proletariats allerdings jemals wieder auf die Tagesordnung gesetzt werden, müss­ten seine Anhänger auch und vor allem bei der Rezeption Anton Pannekoeks anzusetzen haben.