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In einer zwar zentral gelegenen, aber wenig zugänglichen Re­gion dieser Republik, im südlichen Westfalen, buhlen seit vielen Jahren drei Lokalzeitungen um die Gunst der Leserschaft. Optisch haben sich die Blätter längst stark angenähert, inhaltlich vermutlich auch. Früher galt die eine noch als rechts, die zweite als links und die dritte als etwas dazwischen.
In einer Sache ähnelten sich die Zeitungen schon vor rund 20 Jahren: Alle drei verfügten über technisch einwandfreie Fotos von den spektakulärsten Unfällen auf den kurvigen Landstraßen, die durch die Wälder des südlichen Rothaargebirges führen. Denn jede der drei Zeitungen verfügte über einen eigens auf derlei Crashs spezialisierten Fotografen, der, sobald die Polizei ein neues Unglück meldete, sich schnellstmöglich an den Ort des Ge­schehens begab. Die drei Fotografen sollen sich verständlicher­weise gut gekannt und mit der Zeit auch sehr geschätzt haben – so gut, so ist es überliefert, dass sie sich bisweilen zum Austausch der besten Schnappschüsse getroffen haben sollen. Von mindestens einem der Herren wurde weiterhin kolportiert, dass er seine Privatwohnung zu einem nicht unerheblichen Teil mit Fotos von zermatschten Autos und zu Schaden gekommenen Personen geschmückt haben soll, vorzugsweise mit solchen, die es aus Pietätsgründen nicht in den Druck geschafft hatten.
Sollte einer jener Herren Fotografen irgendwann das Zeitliche segnen, ist es nur wahrscheinlich, dass man Tausende Fotos von südwestfälischen Frontalzusammenstößen und aus der Kurve geflogenen Discomobilen in seinem Nachlass entdecken wird. Der Finder wird vermutlich mit dem Kopf schütteln und die Fotos schnell der nächsten Mülltonne übergeben.
Mit den nun aufgefundenen 400 Fotos, die ein Polizeifotograf hinterlässt, der am 18. Oktober 1977 nach dem Tod von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe in deren Zellen in Stamm­heim knipste, ist das natürlich etwas ganz anderes. Auch wenn die Fotos bloß in einer Schublade lagen und nicht mit neuen Erkenntnissen gerechnet wird.