Realsozialistischer Kult und geschäftstüchtige Oligarchie in Transnistrien

Das schwarze Loch mit Leninbüste

Transnistrien wird von keinem Staat der Welt anerkannt. Die separatistische Republik verfügt über zahlreiche realsozialistische Kultstätten, wird jedoch von einer geschäftstüchtigen Oligarchie regiert.

Der Grenzbeamte betrachtet misstrauisch die Reisepässe, dann knallt er seinen Stempel auf die Papiere und gibt sie mit regungslosem Gesicht zurück. Nicht immer gelingt die Einreise nach Transnistrien, das schmale Gebiet zwischen dem moldauischen Fluss Dniester und der Ukraine, so reibungslos. Oft erleben Besucher schikanöse Kontrollen, verlangen korrupte Polizisten unverschämte »Zollgebühren« oder schicken Ausländer ohne Angabe von Gründen einfach wieder zurück. Das Auswärtige Amt rät von Reisen in die »Pridnestrowische Republik« (PMR), wie sich das merkwürdigste Land Europas selbst nennt, ausdrücklich ab. Hinter der Grenze gibt es keine einzige diplomatische Vertretung, keine Regierung der Welt erkennt die separatistische Republik an, die formal immer noch zur Republik Moldau gehört.
»Transnistrien« oder auch »Pridnestrowien« verweist auf die Lage am Fluss Dniester. Die Pridnestrowier benutzen lieber den Namen »PMR«, weil er »vor dem Dniester« bedeutet. Westeuropäer sagen eher »Transnistrien«, aus ihrer Sicht liegt das Land »hinter dem Dniester«.
Um überhaupt in das Land zu kommen, muss man so viele Kontrollen überwinden wie sonst nirgends in Europa. Nach der Passkontrolle am internationalen Flughafen der moldauischen Hauptstadt Chisinãu dauert die Fahrt nur eine knappe Stunde. Wer in die transnistrische Hauptstadt Tiraspol will, muss zuerst einen Checkpoint mit moldauischen Soldaten passieren. Wenige Meter dahinter wartet die transnis­trische Grenzpolizei, dann folgt die Zollkontrolle. Anschließend überprüft der MDB, der aus ehemaligen Mitarbeitern des KGB rekrutierte Geheimdienst, noch einmal alle Papiere. Ein paar Kilometer weiter rollen die Besucher an dem Kontrollpunkt der russischen »Friedenstruppen« vorbei, die mit ihrem Schützenpanzer und Drahtverhauen jederzeit die Straße blockieren können. Sechs Kontrollen auf rund 90 Kilometern.
Viele ausländische Journalisten scheitern an diesen Grenzen – sie sind nicht gern gesehen in einem Land, das ein Drittel seiner Fläche zum militärischen Sperrgebiet erklärt hat. So absurd wie das Land ist auch die Geschichte der Flaggen, die wir an jeder Grenze bestaunen dürfen: Die gegenwärtige transnistrische Flagge, grün-rot, mit Hammer und Sichel, war bis 1991 die Flagge der MSSR, der Moldauischen Sozialistischen Sowjetrepublik, wie die Republik Moldau bis 1991, bis zu ihrer Unabhängigkeit, hieß. Dann legte sich Moldau eine Flagge zu, die die Nähe zu Rumänien, zu Europa, deutlich machen sollte: Die neue mol­dauische Fahne sieht aus wie die rumänische, nur anhand eines kleines Wappens in der Mitte kann man die Flaggen beider Länder überhaupt unterscheiden. Die Transnis­trier übernahmen wiederum die Hammer-und-Sichel-Flagge aus den Zeiten der MSSR– nur ein Jahr nach der Unabhängigkeit der Republik Moldau kämpften sie wieder unter der alten Fahne in einem kurzen Bürgerkrieg gegen ihre westlichen Nachbarn. Unterstützt wurden sie dabei von den Soldaten der 14. Russischen Armee, die damals noch in Transnistrien stationiert war. Nach dem Waffenstillstand blieb eine russische »Friedenstruppe« von mehreren tausend Mann zurück, die seitdem an der Grenze patrouilliert.

»Transnistrien – das ist ein Riesenproblem für uns«, hatte uns Vitalie Ciobanu noch in Chisinãu gesagt. Er ist einer der profiliertesten Intellektuellen der jüngeren Generation, er ist Schriftsteller und Herausgeber der proeuropäischen Kulturzeitschrift Contrafort (Gegenkraft). Transnistrien, die abtrünnige Provinz im eigenen Land, macht ihm Angst. Das von der moldauischen Regierung nicht kontrollierbare Gebiet mit eigener Regierung, Währung und aufwändigen Grenzanlagen gilt als Geldwaschanlage, Drogen- und Schmuggelhölle, als größtes Waffenlager auf europäischem Boden, als black hole. In Transnis­trien lagert heute das umfangreichste Arsenal konventioneller Waffen auf europäischem Boden.
Für die Moldauer ist die Präsenz der russischen »Friedenstruppen« eine Katastrophe, sagte Vitalie. »Mit diesem Problem hat Moldau nie eine Chance, EU-Mitglied zu werden.« Tatsächlich befindet sich Moldau mit Transnis­trien zwischen zwei Einflusssphären, der der EU und der Russlands, wobei Moldau zur EU tendiert und Transnistrien von russischen Truppen »beschützt« wird. Ciobanu sucht den Anschluss an den europäischen Kunstbetrieb, empfindet das eigene Land als rückständig und nationalistisch. Als Contrafort zunehmend die Plattform für junge, innovative Literaten aus der Republik Moldau wurde, die sich von der realsozialistischen Literatur der Älteren abgrenzten, beschimpfte man Vitalie Ciobanu und seinen Mitherausgeber mal eben als »Elitisten« und »Freimaurer« – oder auch als »Pro-Israelis« und »Pro-Ungarn« – Länder, von denen man offenbar glaubt, dass dort das Geld sitzt.
»Einen Friedensvertrag mit Transnistrien und eine Reintegration der Region in unser Land kann ich mir nicht ohne vorherige Demilitarisierung und Kriminalitätsbekämpfung vorstellen. Sonst haben wir keine Europäisierung Transnis­triens, sondern eine Transnistrisierung Moldaus. Und dann sind wir noch mehr Bestandteil der russischen Einflusssphäre«, gab uns Vitalie am Abend vor der Abreise von Chisinãu nach Tiraspol noch mit auf den Weg.
Nun sind wir für knapp eine Woche in diesem Gebiet, das auch als »Museum des Kommunismus« bezeichnet wird. Das auffälligste Kulturgut sind die zahlreichen Lenin-Denkmäler. Ansonsten sieht man Plattenbauten, Märkte, wucherndes Grün und viel Militär. Im Heimatkundemuseum bewundern wir eine Lenin-Andachtsstätte. Auf so engem Raum sind wohl noch nie derart viele Leninbüsten, -skulpturen, -gemälde und -zeichnungen, gestickte, gehäkelte und aus Melonenkernen zusammengesetzte Lenins versammelt worden.
Außer bei Nadeschda Bondarenko im Büro der kommunistischen Oppositionspartei.

Hier entdecken wir auch noch Stalin. An dem Poster mit dem schnauzbärtigen Diktator scheint Bondarenko viel zu liegen, denn sie hat es im Abstand von einem halben Meter gleich zweimal aufgehängt. Sie bemerkt unsere skeptischen Blicke und wendet ein: »Stalins Gräueltaten haben doch nur Schlimmeres verhindert.« Anschließend bemängelt sie, dass die Jugend von heute auch in Transnistrien leider nicht mehr bereit sei, für ihr Vaterland zu sterben. Nadeschda Bondarenko ist studierte Juristin mit dem militärischen Rang eines Majors und hat vor zwei Jahren erfolglos für das Präsidentenamt kandidiert. Gespräche über Kunst, gar Kunstförderung sind nicht in ihrem Interesse. »Die Menschen hier wollen keine moderne Kunst. Nur die realistische Kunst kann zum Menschen sprechen.« Die Rückfrage, was sie denn von berühmten Malern wie Kandinsky oder Malewitsch halte, missfällt. »Die hatten doch nur im Ausland Erfolg. Das ist keine gute Kunst. Nur Amerikaner kaufen so etwas.«
Am Ende überreicht uns Bondarenko ein selbstverfasstes Theaterstück. Es geht um Soldaten, die um ihren Lohn betrogen worden sind. Das Stück preist den ewigen Klassenkampf, die Handlung spielt in der Antike; auch Kleopatra taucht noch auf.
Von der Zweckfreiheit der Kunst hält auch der Direktor des staatlichen Radios wenig. Der große beleibte Mann ist erst vor einem halben Jahr vom Innenministerium auf seinen Posten gehievt worden. Der Besuch in seinem Büro veranlasst ihn zu einem Monolog über die Unterdrückung der Pridnestrowier durch die Moldauer. Während er spricht, hält er am ausgestreckten Arm ein Teppichmesser in unsere Richtung. Nach unserer Reise erfahren wir, dass er in der Psychiatrie gelandet ist und Frau Bondarenko nach einer Demonstration gegen Preiserhöhungen für ein paar Wochen im Gefängnis.

Auf dem Tisch steht eine russische Fahne, über dem Direktor hängen christliche Ikonen an der Wand. Größer ist nur das Bild von Präsident Igor Smirnov. Am Ende gibt es wieder ein Geschenk. Selbstverfasste Lyrik: »Der gute Weg« – religiös-nationalistische Erbauungspoesie. Dass wir kein Russisch können, spielt keine Rolle. Wir sollen einfach nur die Seiten aufschlagen. Der Geist der Lyrik erreicht einen wohl auch dann.
Nach diesen Erlebnissen wundern wir uns nicht mehr über die Kunstschule von Bendery, einer mittelgroßen Stadt, in der der Bürgerkrieg besonders heftig tobte. Junge Leute sitzen auf Holzschemeln vor Staffeleien wie in Kunstschulen vor 100 Jahren. Das Thema ist vorgegeben: Ein Stillleben soll abgemalt werden.
Am nächsten Tag treffen wir Lilia Dragneva, eine Künstlerin und Kuratorin, die mit ihren 33 Jah­ren schon Direktorin des Center for Contemporary Art (KSAK) in Chisinãu ist, aber viele Kontakte nach Tiraspol unterhält. Die groß gewachsene Frau mit den schwarzen kurzen Haaren fällt auf. Vitalies Angst vor einer »Transnistrisierung« Moldaus steht der Optimismus der jungen Kunstkennerin entgegen. Vor zwei Jahren hat sie Künstler aus beiden Teilen des Landes zusammengeführt. Der Erfolg war überwältigend. Die ­Seminare, Symposien und Ausstellungen im sonst sehr kunstarmen Transnistrien waren überfüllt. Dragnevas Ansatz, um jungen Künstlern in Transnistrien die Moderne nahe zu bringen, ist die klassische Avantgarde Russlands: Kandinsky, Malewitsch, Tatlin, El Lissitzky und Larionov, der aus Tiraspol stammt.
»Nicht jeder wollte mit uns zusammenarbeiten«, räumt Lilia ein, denn so etwas könne ja auch »persönliche Schwierigkeiten« mit sich bringen. Auch sei viel Papierarbeit nötig gewesen. Alle möglichen Ministerien schalteten sich ein, auch das Verteidigungsministerium. »Ohne Beziehungen geht gar nichts«, erläutert Lilia pragmatisch. »Man muss eben immer wissen, dass man in Transnistrien ist.«
Das wichtigste Kulturgut Transnistriens ist zurzeit wahrscheinlich der Sport, genauer gesagt, der Fußball. Das Stadion an der Stadtgrenze von Tiraspol wirkt nicht nur angesichts der tristen Plattenbauten pompös. Kaum jemand würde ausgerechnet hier eine der modernsten Sportanlagen Südosteuropas vermuten. Neben dem schicken Stadion des FC Sheriff Tiraspol gibt es ein Dutzend Trainingsplätze, eine riesige Halle und sogar eine eigene Fußballakademie für den Nachwuchs.

Während Arbeiter sich für umgerechnet 50 Euro im Monat um die akkurat angelegten Blumenbeete kümmern müssen, entsteht neben dem Areal gerade ein Fünf-Sterne-Luxushotel. Der FC Sheriff stieg in kurzer Zeit in die 1. Liga auf und wurde im Mai zum achten Mal in Folge moldauischer Fußballmeister. Der Verein kann es sich leisten, ausländische Spieler zu verpflichten, darunter nicht nur rumänische, sondern auch brasilianische und afrikanische Profis.
Der Namensgeber des Clubs ist allerdings alles andere als ein harmloser Sponsor, der gern einheimischen Fußballern unter die Arme greift. Dem Sheriff-Konzern gehört fast alles, womit sich in Transnistrien Geld verdienen lässt: ein dichtes Tankstellennetz, eine Supermarktkette, der Cognac-Marktführer und die größte Bäckerei. Hinzu kommt der einzige private Fernsehsender, das Mobilfunknetz des Landes sowie die Generalvertretung von Mercedes-Benz. Selbst Gott bedarf der Hilfe von Sheriff. Die größte orthodoxe Kirche in Tiraspol wurde mit Konzernmitteln saniert.
Die Monopolstellung von Sheriff ist in Transnistrien ebenso selbstverständlich wie die Präsidentschaft von Igor Smirnov, der seit der »Unabhängigkeit« vor 18 Jahren regelmäßig in seinem Amt bestätigt wird. Fast genauso lange existiert das Monopolunternehmen, das 1993 von zwei ehemaligen KGB-Offizieren gegründet wurde. Oleg Smirnov, der jüngste Präsidentensohn, der für die Privatisierung staatlicher Industriebetriebe zuständig war und einen hohen Posten bei der Grenzbehörde innehat, ist an dem Konzern beteiligt. Einer der Sheriff-Gründer ist inzwischen Abgeordneter der größten Oppositionspartei Obnovlenie (Erneuerung). Die Gründer von Sheriff haben es geschafft, innerhalb weniger Jahre ein Netzwerk aus Wirtschaft und Politik zu errichten, auf das sie sich verlassen können – und von dem beide Seiten profitieren.

Kein Wunder, dass sich Politiker und Unternehmer in ihrem Patriotismus gerne überbieten. Nur beim Fußball sind plötzlich alle vereint. Da auch die Fifa Transnistrien nicht anerkennt, spielen alle Clubs in der moldauischen Liga. Und weil das Sheriff-Stadion eines der wenigen in der Region ist, das internationalen Standards entspricht, muss das Nationalteam oft in Tiraspol antreten. Wie etwa am 19. August, wenn die deutsche Jugendnationalmannschaft dort ein Qualifikationsspiel für die Junioren-Europameisterschaft bestreitet. Dann jubeln transnistrische und moldauische Fans gleichermaßen ihrer Mannschaft zu. Doch vermutlich haben die deutschen Spieler keine Ahnung, welch seltenes Spektakel sie in Tiraspol erleben werden: Die transnistrische Polizeikapelle, dirigiert von einem Geheimdienstoffizier, gibt die feindliche Nationalhymne zum Besten. Und über dem Sheriff-Stadion wird für zwei Stunden die ansonsten verhasste mol­dauische Fahne wehen.
Eine Zeit lang hatte Präsident Smirnov die Spiele mit den Moldauern in einer gemeinsamen Nationalelf verboten. Dann ließ er sich davon überzeugen, dass es keine bessere Möglichkeit gibt, seine separatistische Republik im Ausland zu präsentieren. Viele Freunde hat er dort schließlich nicht. Zur Unabhängigkeitsfeier am 27. August wird Smirnov wie üblich nur die »brüderlichen Delegationen« aus Südossetien und Abchasien begrüßen können. Auch diese georgischen Regionen wollen unabhängig sein – mit freundlicher Unterstützung aus Russland.
Auf dem Rückweg von Transnistrien passieren wir wieder die zahllosen Grenzposten. Doch auf dem Weg nach Europa kommt noch eine weitere Kontrolle hinzu. Knapp 200 Kilometer von Tiraspol entfernt leuchtet an der Grenze zu Rumänien das Schild »Welcome in the European Union«. Die Anlage wirkt gespenstisch leer. Nur wenige Autos werden von den rumänischen Grenzbeamten untersucht. Seitdem die Moldauer ein Visum benötigen, um die anderen Moldauer, zum Teil Familienangehörige, besuchen zu können, ist nicht mehr viel los an der Grenze nach Rumänien. Der Weg in den Westen ist für sie noch schwieriger als eine Reise nach Tiraspol.