Frische Luft im Neuen Berliner Kunstverein

Freundliche Übernahme

Der Neue Berliner Kunstverein wird relaunched.

Kunstvereine haben die Aufgabe, ein breites Publikum mit der Gegenwartskunst vertraut zu machen. So auch der 1969 gegründete Neue Ber­liner Kunstverein, der seit 1970 die Artothek und seit 1972 ein Videoarchiv beherbergt. Ähnlich wie in einer Bibliothek kann der Benutzer hier gegen eine Gebühr Kunstwerke und Filme ausleihen und sie für eine gewisse Zeit nutzen. Der Verein, der außerdem Diskussionen, Ver­anstaltungen und Ortsbegehungen organisiert, ­verschafft dem interessierten Bürger also Zugang in die Kunstszene, ohne Kennerschaft vorauszusetzen. In ihm subsistierte seit seiner Gründung das bürgerliche Bildungs­ideal, dessen Repro­duktion er durch die Aufnahme von neueren Medien und deren Funk­tio­nen in der bürgerlichen Kritik sicherte. Ein Hort zuweilen progressiver, nie jedoch revolutionärer Zeitgenossenschaft.
Mit der Übernahme des Direktoriums durch Ma­rius Babias zu Beginn dieses Jahres wurde das Ende der bürgerlichen Subsistenz im Neuen Berliner Kunstverein (N.B.K.) eingeleitet. Babias leitete von 2001 bis 2003 gemeinsam mit Florian Waldvogel die Kokerei Zollverein in Essen und versuchte dort, mit Projekten wie »Arbeit Essen Angst« (2001), »Campus« (2002) oder »Die Offene Stadt: Anwendungsmodelle« (2003) die Kunst als privi­legiertes Feld des ­Po­litischen stark zu machen. Jetzt beginnt er auch seine Zeit am N.B.K. mit einer Präsentation der Kunst als Handlungsraum. Die Sammlungen, das Kapital des N.B.K., werden in Babias’ erster Ausstellung quasi offen gelegt. Das Projekt einer »Teilhabe in der Bürgergesellschaft« (Babias) entwickelte er gemeinsam mit der Frankfurter Künstlerin Silke Wagner. Auch Wagner, mit der Babias bereits in Essen zusammengearbeitet hatte, präsentiert die Kunst als Feld des Politischen. Ihre Arbeiten setzen stets an einem konkreten Fragment der Realität an. In ­ihren im N.B.K. gezeigten Arbeiten ist es die Gründungszeit der Institutionen und deren politische Zeitgenossenschaft zu den Sechzigern und Siebzigern. Im Fall ihrer Arbeit für die Skulptur Projekte Münster 07, »Münster. Geschichte von Unten«, war es eine reale historische Person, Paul Wulf, an dessen individueller Geschichte die politische Aufarbei­tung des Nationalsozialismus bis in die sozialen Bewegungen der Siebziger und Achtziger verfolgt wurde. In Münster entstand hieraus eine Skulptur, ein überdimensionierter Paul Wulf, der als Litfass­säule für Archivmaterial diente. Wagner arbeitet sich vom politischen Gegenstand aus an das jeweilige künstlerische Medium heran. Im Zusammenhang mit »Arbeit Essen Angst« entstand das Projekt »Bürgersteig« (2000/2001), indem sie ­gemeinsam mit dem »Kein Mensch ist Illegal«-Aktivisten Hagen Kopp einen »Fluchtwagen« nach Münster, Essen und Frankfurt am Main fuhr, um an politischen Aktionen gegen Abschiebungen teilzunehmen und auf die Kooperation der Lufthansa mit dem abschie­benden Staat zu verweisen.
Institutionsübernahmen werden für gewöhnlich von einer großen kuratorischen Geste begleitet, der stolzen Präsentation einer Neuent­deckung oder der ästhetischen Zuordnung zu einem Racket. Babias verzichtet auf solch gebieterische Gesten und ersetzt sie durch eine politische. Das bürgerliche Setting soll ­»öffentlich« ­gemacht werden, um »ein leben­diger Ort der Produktion«, »ein Ort der Zeitgenossenschaft und eine Werkstatt der Ideen« zu werden. Zunächst einmal bedeutet dies keine Ablehnung der bürgerlichen Insti­tutionsform, sondern ihre Verschiebung in einen jüngeren Diskurs. Mit der Ankündigung eines gemeinsamen Projektes mit dem europäischen Netz­werk EIPCP (Europäisches Institut für progressive Kulturpolitik) gibt es zwar eine Distanzierung von nationalen Kulturvorstellungen. In einer Stadt, in der keine Institution, von der Sammlung Preußischer Kulturbesitz mal abgesehen, mit der National­flagge wedelt, ist dies zunächst einmal keine überraschende Positionierung. Es bleibt eine freundliche Übernahme. Ein Generationenwechsel, bei dem das bürgerliche Arsenal des N.B.K. in Anschlag gebracht wird, um zu expandieren. Konsequenterweise besteht Silke Wagners Projekt für die Neueröffnung im Kern darin, die Sammlungen des N.B.K. frei zu legen und als immer schon politisiertes Bildungskapital auszustellen. Babias und Wagner konzentrieren sich dabei auf die sechziger und siebziger Jahre und lenken damit den Blick zurück auf die Gründungszeit des N.B.K., auf eine Zeit sozialer Kämpfe und künstlerischer Befreiungs­schläge.
Wagners Arbeit organisiert diese erste Sichtung des ­institutionellen Kapitals des N.B.K. Ihr Stecksystem »Ellen«, ein frei kombinierbares modulares System aus verzahnten Platten, stellt ein organisierendes System der Sammlungspräsentation bereit. Wieder orientiert sich Wagners Arbeit am Gegenstand, wieder ist das künstlerische Ausdrucksmedium ästhetisch aus seiner Nutzungsmöglichkeit entstanden. Weder bei Babias noch bei Wagner bleibt die Ästhetik kontemplativer Selbstzweck. In den schwarz gestrichenen Ausstellungsräumen des N.B.K. ist Ellen in dunklem Plexiglas installiert worden, um einer von Silke Wagner ausgewählte Zusammenstellung wichtiger Videoarbeiten des Archivs aus den sechziger und siebziger Jah­ren zu präsentieren. Auf 14-Zoll-Monitoren mit Kopfhörern sind sie in das Stecksystem eingepasst. In den Büroräumen im zweiten Stock stellt eine Spanplattenvariante des Stecksystems die Kunstwerke der Artothek aus. Die Auswahl der Video­arbeiten steckt den politischen ­Bewegungsradius ab, der sich mit dem Aufkommen des Mediums Vi­deo eröffnete, zeitgleich mit der Gründung des N.B.K. und seiner Samm­lungen. Es werden Meilensteine der neueren Kunstgeschichte präsentiert und damit ein stärkeres Augenmerk auf die erzieherische Funktion der Sammlung gelegt als auf ihre mögliche Neusichtung. Zu den Arbeiten gehören Gerry Schums »Fern­seh­ausstellung I: Land Art« (1969), eine von zwei im Auf­trag des WDR produzierten halbstündigen Reportagen über Land Art, John Baldessaris »Baldessari sings LeWitt« (1972), ein Video, in dem der Künstler Auszüge aus LeWitts 1969 publizierten »Sentences on Concep­tual Art« singt, Vito Acconcis Selbstgespräch »Undertone« (1972) sowie klassische feministische Positionen wie Linda Benglis, Dara Birnbaum, VALIE EXPORT, Joan Jonas und Martha Rosler. Hinzu kommt Wagners eigene Verortung innerhalb dieser Geschichte der Videokunst, ihr Video »7 Vorträge, ein Bild, ein Auditorium« (1998). Man betrachtet eine gelangweilte, tendenziell unaufmerk­same und vor allem passive Gruppe von sieben Studierenden, die, dem Betrachter zuge­wandt sitzend, sieben Radiobeiträge zu den Protesten der Studierenden 1968 anhören. Im direkten Vergleich mit den älteren Videos wird nicht nur die radikal unterschiedene politische Situation der Gegenwart klar, in der keine Jugend eine revolutionär gedachte Massenbewegung formiert, sondern auch die radikale Veränderung, die dies für die Kunstproduk­tion bedeutet. Dieser historische Abstand wird durch Wagners weiß leuchtende Neonarbeiten an den Wänden des Ausstellungsraumes noch verdeutlicht. Sie stellen die konkrete ­Verbindung zur politischen Bewegung der Zeit her und reihen damit die Geschichte des N.B.K. in diejenige der sozialen Bewegungen ein, ohne die gerade die feministischen Arbeiten undenkbar sind. Die Neonarbeiten wiederholen und konstruieren dabei Zeichen der vergangenen politischen Kollektivierungsversuche und des militanten Aufbegehrens ge­gen den Staat. Seien es die »Days of Rage« in Chi­cago, im Oktober 1969 von den Weathermen organi­siert, oder Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg. Wie schon bei den Videoarbeiten erklärt ein Ausstellungsführer den Kontext.
Jedes von Wagners Neonzeichen verweist auf eine antistaatliche Handlung, einen direkten Angriff auf die gewalthabende Macht. Dieser direkte Angriff, der die sechziger und siebziger Jahre politisch mit der Formierung der neuen sozialen Bewegungen be­stimmt hatte, scheint heute sein Gegen­über verloren zu haben. Wo sich in Wagners Video die Apathie breit macht, nicht nur in der konkreten Handlung, sondern ebenso in der statischen, dokumentarischen Untersicht auf die Studierendengruppe, scheint die Produktivität radikaler Kritik gegenwärtig begrenzt auf die Szenen, der sie entspringt. Die offene Frage, die diese Ausstellung formuliert, ist diejenige, ob Babias den N.B.K. in den Kontext einer solch radikalen Kritik einordnen will oder ob er nicht nur der kritischste unter den Bürgern sein will, mit dem Ziel, die Institution auf bildungsstarke Zielgruppen zu konzen­trieren.
Babias formuliert in seinem einleitenden Text zum Katalog ein politisches Programm. Unter der Überschrift »Neu­bestimmung der N.B.K. Nutzungszonen« werden vier Schwerpunkte genannt: Visualität, Transkulturalität, Öffentlichkeit und Berlin. Europäische »Transkulturalität« und die Etablierung eines »öffentlichen Ortes für alle BürgerInnen« sowie eine »strengere Positionierung« werden angestrebt. Babias versucht stetig den Brückenschlag zwischen einer Affirmation bürgerlicher politischer Verlaufsformen und ihrer kritischen Wendung.
Die gesellschaftliche Stellung der Kunst im Herzen des Bürgertums, dort, wo Babias und Wagner sie in der Institution N.B.K. aufsuchen, bleibt immer ein mehr als nur problematischer Ausgangspunkt. Babias und Wagner haben hierzu im Bereich der Ge­genwartskunst klar Stellung bezogen und dabei doch nie den bürgerlichen Kern der ­eigenen Position, die Autonomie der Kunst, in Frage gestellt. Die Autonomie der Kunst wird zum taktischen Ausgangspunkt. Babias fordert in seinem ein­leitenden Text zur Positionierung des bürgerlichen Öffentlichkeit gegen das »Ausliefern« der »Museen an Sammler und Sponsoren« auf. Wagner antwortet auf die Frage nach der Funktion der Institution, sie sei als ein »geschützter Raum« zu verstehen, »in dem gesellschaftsrelevante Themen zu Diskussion gestellt werden können« und in dem »die Möglichkeit zu einer Kontext übergreifenden Kritik gesellschaftspolitischer Entwicklungen – in Koalition mit gesellschaftspolitisch arbeitenden Gruppen und anknüpfend an bestehende politische Diskussionen und Kampagnen« bestehe.
Zwar können innerhalb dieses Feldes alternative Diskurswege eingeschlagen werden oder Bewusstseinsprozesse radikalisiert werden, und es kann der diskursiven eine künstlerisch-materielle Auseinandersetzung hinzugefügt werden. Doch im Feld der Kunst bleibt dies alles notwendig dem bürgerlichen Bildungsideal verpflichtet.

Neuer Berliner Kunstverein, Chausseestraße 128/129, 10115 Berlin. Termine: Silke Wagner. Bis 17. August.
In Vorbereitung: »German Angst« (September/Oktober). »40 Jahre ’68 - Konzeptuelle Kunst der Bay Area« (November). Anetta Mona Chisa/Lucia Tkácov (Dezember)