Famoudou Don Moye im Gespräch über Creative Jazz und die sechziger Jahre in den USA und Europa

»Wie ich zum Trommeln kam, ist ziemlich uninteressant«

Der US-amerikanische Schlagzeuger, Sänger und Komponist Famoudou Don Moye ist einer der Protagonisten des Creative Jazz und wurde insbesondere durch seine ­Mitwirkung im Art Ensemble of Chicago bekannt. Mit ihm traf sich Egon Günther

Herrsching bei München. Schon am Vormittag sitzen wir beim Bier im düsteren Andechser Hof und warten auf den legendären afroamerikanischen Schlagzeuger, Perkussionisten und Komponisten des Creative Jazz, Famoudou Don Moye, und seine französische Freundin Dominique. Sie kommen mit der S-Bahn aus München an den Ammersee, da Moye dort zusammen mit dem ortsansässigen Pianisten, Instant-Com­poser, Sammler von Gongs, und Schriftsteller Hartmut Geerken abends ein Straßenkonzert geben wird. Geerken hat Moye, der 1970 in Paris zu den Musikern des Art Ensemble of Chicago gestoßen ist, 1982 in Athen kennen gelernt und ein paar Jahre darauf mit ihm und dem Saxophonisten John Tchicai eine ausgedehnte Konzerttournee durch Westafrika gemacht, von der auch einige Aufnahmen beim Jazz­label Leo Records erschienen sind: die »African Tapes«.

Im Anschluss an seine Afrikareise ist das Trio im Mai 1985 beim Praxis-Festival in Athen aufgetreten. (Dieses Konzert ist unter dem Titel »Cassava Balls« ebenfalls bei Leo Records erschienen.) Außerdem hat Moye mit dem restlichen Art Ensemble bei Hartmut Geerkens interaktivem Mediaprojekt »Zero Sun No Point«, einer Würdigung des Philosophen Salomo Friedlaender und des Bandleaders Sun Ra, im Münchner Marstall mitgewirkt. In jüngster Zeit haben Famoudou Don Moye und Hartmut Geerken mit den italienischen Jazzmusikern Claudio Lugo und Francesco D’Errico in Neapel eine beachtliche Platte auf der Basis von Eisler- und Brecht-Material aufgenommen (»The Gray Goose«, Itinera-Pomigliano Jazz, 2007). Direkt aus Italien, nämlich vom Jazzfestival in Pomigliano d’Arco, kommt der unermüdlich umherreisende Don Moye gerade und betritt den Andechser Hof in aufgeräumter Stimmung.

Don Moye, Sie sind in Rochester, im Nordwesten des Bundesstaates New York geboren, der Stadt, in der Frederick Douglass, der entlaufene Sklave und Abolitionist seine Zeit­schrift The North Star herausgegeben hat …

Hm,hm.

 … und der Bandleader Cab Calloway geboren wurde …

 … und der Schlagzeuger Roy McCurdy, der mit Cannonball Adderley gespielt hat! Und der Schlagzeuger Steve Gadd …

 … der mit James Taylor und Paul Simon gespielt hat.
Sie waren auch im Sommer 1964 noch in Rochester, als der Aufstand losging?

Ja, ich war dort .

Und Sie haben Ihren Teil dazu beigetragen?

Ja, ich bin gerannt und habe geplündert. Ja, ich war dort, ich ging gerade vom College nach Hause, als es losging.

Was war der Anlass?

Man sagt, die Diskriminierung der Schwarzen sei der Anlass gewesen, aber tatsächlich war ein Student vom Antioch-College daran schuld, der im Viertel Sozialarbeit gemacht hat. Er hat ein Grillfest veranstaltet und einfach die falschen Leute dazu eingeladen. Es kam zu einer Schlägerei, und als die Polizei auftauchte und Leute verhaftete, gingen die Unruhen los. Es waren anfangs keine Rassenunruhen, es waren Weiße und Schwarze mit von der Partie.
Ich war damals bei vielen Unruhen dabei, ich war in Detroit, in Cleveland, in Rochester.

Sie waren 1967 in Detroit, als es dort ziemlich hoch her ging?

Ja ich war dort am College, an der Wayne State University, und hab’ dort zuerst Philosophie und Psychologie studiert, später erst Musik.

Es werden Weißwürste, Brezen und süßer Senf serviert. Nach dem Essen stellt sich bei Don Moye eine gewisse Unlust ein, mit dem Interview fortzufahren. Er fragt etwas ungehalten:

Haben Sie sich eigentlich auf das Interview vorbereitet?

Nein, nein, ich mach’ das immer spontan.

Okay, dann kommen wir zur nächsten Frage!

Wie sind Sie zum Trommeln gekommen?

Wie ich zum Trommeln kam, ist doch ziemlich uninteressant.

Dann erzählen Sie mir was von Ihrer Kindheit, Ihrem Vater.

Er starb, als ich drei Tage alt war. Er starb während der Unruhen, zu denen es wegen der schlech­­ten Versorgung der schwarzen Soldaten in Deutschland gekommen ist. Soldaten haben damals gegen ihre schlechte Behandlung, gegen ihre Diskriminierung protestiert, und man hat einige von ihnen umgebracht und dann das Ganze vertuscht, vielleicht sogar in Augsburg oder an irgendeinem ähnlichen Ort, das ist 1946 passiert, nach dem Krieg, bei der Essensausgabe, die weißen Soldaten haben die Schwarzen immer noch diskriminiert.

(Hartmut Geerken:) Das hast du mir nie erzählt.

Du hast mich nie danach gefragt. Ich weiß es von meiner Mutter und Freunden meines Vaters, nicht von der Armee. Sie haben es nie offiziell bestätigt; es hieß, er starb im Dienst.

Sie wurden also allein von Ihrer Mutter erzogen?

Ja, sie lebt heute noch, ist 81 Jahre alt und hat nie mehr geheiratet.

Sie kamen früh mit Musik in Berührung?

Durch die Großmutter, die Cousins, die Onkel. Meine Großmutter führte einen Jazzclub … ­hören Sie mal, diese ganzen Informationen stehen auf meiner Webseite, aber wenn Sie wollen, erzähl ich’s halt noch mal.
Die Onkel spielten Saxophon, eine Cousine Schlagzeug und Vibraphon. Sie waren in einer Marschkapelle; meine Großmutter hatte den Club, in dem 1935 – das hab’ ich mal irgendwo gelesen – Duke Ellington aufgetreten ist.

Wann sind Sie nach Europa gegangen?

1968

Und weshalb?

Ganz einfach, um zu leben. Als man Martin Luther King und danach Bobby Kennedy ermor­det hat, habe ich mich erst einmal aus den Staaten verabschiedet. Ich bin zunächst nach Luxemburg gegangen und dann nach Paris weiter­gezogen, in den Krieg.

Moye bestellt eine Portion Topfenstrudel mit zwei Gabeln.

Sie haben in Ihrer Jugend wohl keinen Aufstand ausgelassen.

Yeah, Kalifornien hab’ ich ausgelassen und Harlem. Doch halt, ich war schon auch in Harlem, ich war in Manhattan, Detroit, Cleveland.

Haben Sie je Rap Brown getroffen oder Stoke­ley Carmichael ?

Ich habe in Detroit ihre Reden gehört, auch Mal­colm X und all die anderen.
Im Mai war ich in Paris jeden Tag auf der Stra­ße, hab’ damals in einem Hotel in der Rue ­Debussy gewohnt. Steine, Barrikaden, das ganze Programm habe ich miterlebt.

(Hartmut Geerken:) Dann sollten wir in Herr­sching auch einen Aufstand organisieren, um deine Sammlung zu vervollständigen.

Mit Topfenstrudel und Weißwurst!

Haben Sie in Paris bereits in einer Band Schlag­zeug gespielt?

Bei der Band Detroit Free Jazz. Ich bin von Paris nach Lausanne gegangen und hab’ dort auf der Bühne den Black-Power-Gruß gezeigt, Sie wissen schon, so wie die Sportler bei der Olympiade.

(Hartmut Geerken): Bist du jemals nackt auf der Bühne aufgetreten?

Ich nicht, das war Joseph Jarman vom Art Ensemble, damals in Belgien.

Treten Sie immer noch in archaischer Bemalung und afrikanischen Gewändern auf?

Das kommt auf die Band an und das (sagt’s auf Deutsch) Geld, die Gürkchen und den Geerken und das Jerken (wichsen).

Könnten Sie uns verraten, welche Musik Sie geprägt hat?

Die Dark City Sisters!

Die Dark City Sisters aus Südafrika?

Sie kennen die Dark City Sisters?

Ich hab’ sogar eine alte Platte von ihnen, »Star Time Vol. 2«, mit den Flying Jazz Queens.

Kommen Sie zum Konzert heute abend?

Sicher. Was ist mit Art Blakey?

Den mag ich.

Und weiter?

Dass ich solche Leute mag, hat nicht immer nur mit der Musik zu tun, sondern damit, dass mir ihr Leben imponiert.

Sind Sie Art Blakey begegnet?

Klar, viele Male. Er würde mein Leben nicht beeinflusst haben, wenn ich ihn nicht getroffen hätte.

Aber Sie können doch auch ein Buch, meinet­wegen von Dante, lesen, ohne dem Autor jemals begegnet zu sein.

Das kann Ihr Leben beeinflussen?

Schon möglich.

Schon möglich, nicht möglich; in diesem Fall ist die Musik eben der Ertrag des Lebens, der Kommentar dazu.

(Hartmut Geerken:) Deshalb reden wir unter uns auch nie über die Musik. Das ist bei uns tabu. Wir reden nie darüber, wir üben nur.

Wir fragen höchstens mal: Wer ist das da gerade am Schlagzeug, gefällt’s dir, wer ist das da am Prepared Piano?

Mögen Sie solche Blues-Sachen wie St. James Infirmary oder Frankie and Albert?

Das ist der normale Bestandteil der Überlieferung. Warum stellen Sie so eine Frage? Haben Sie von mir erwartet, ich würde sagen, dass ich Blues hasse?

Nein, nicht wirklich.

(Hartmut Geerken:) John Tchicai hat Blues gehasst.

Wirklich? Dabei sind die Sachen, die er spielt, voller Blues!

(Hartmut Geerken:) Das ist bei Sun Ra dasselbe: Er hasste Spirituals und Gospel, aber seine Musik ist voll davon.

Er hasste die Bedeutung, den Hintergrund, den verdammten Jesus Christus!

Don Moye wünscht vorbeigehenden Rentnern demonstrativ einen schönen Abend. Die Rentner grüßen freundlich zurück. Er fragt uns mehrmals, ob die Reaktion der Spaziergänger eine freundliche gewesen ist. Wie versichern ihm, dass sie jedenfalls nicht bösartig war.

Anders als bei uns drüben überm Großen Teich. Aber zurück zur Sache: Ich hab’ Robert Johnson gehört, Blind Thomas, ich mag nämlich bodenständige folkloristische Musik.

Mit Ihrem Kollegen vom Art Ensemble, dem Trompeter Lester Bowie, haben Sie in dessen eigener Band, Brass Fantasy, viele Standards interpretiert, von James Brown, Billie Holiday, Michael Jackson, Bobby McFerrin, ja sogar »Don’t Cry for me Argentina«, die Schnulze von Andrew Lloyd Webber.

Regt Sie das auf?

Keineswegs, das sind gute Versionen, die Spaß machen.

Lester Bowie hat dafür einen eigenen Begriff geprägt. Er nannte das Avant-Pop. Es entspricht unserem Programm, das beinhaltet nämlich Great Black Music: Ancient to the Future. Malachi Favors, der Kontrabassist im Art Ensemble, hat das aufgebracht, und es meint einfach groß­artige schwarze Musik: Gospel, Blues, Jazz, nicht weiter einzuordnende Musik, einfach alles, vom ersten Furz bis zum letzten Rülpser. Es ist Musik, die man beherrschen muss. Am Free Jazz ist nämlich nichts frei, um Free Jazz zu spielen, braucht es Disziplin und Präzision.

Mit diesem Statement, das auch vom Saturniker Sun Ra stammen könnte, in dessen All Star Band Don Moye neben Don Cherry und Archie Shepp gespielt hat, endet das Interview, und über dem See kommt langsam die Sonne zum Vorschein. Wie es sich schließ­lich gehört, wenn ein gestandener Sun Drummer auftreten soll.

Später plaudern wir noch ein wenig über die Asso­ciation of Advancement of Creative Musicians (AACM), eine Selbsthilfeorganisation schwarzer Künstler in Chicago, die nun seit 43 Jahren besteht; über den Saxophonisten Joseph Jarman, der sich vom Musizieren zurückgezogen hat; über die Formation The Leaders, der neben Lester Bowie und Don Moye die Musiker Chico Freeman, Cecil McBee, Arthur Blythe, Don Cherry und Kirk Lightsey an­gehört haben.

Klar wird, dass das Art Ensemble of Chicago eine Band von ausgeprägten Individualisten war, deren Zusammenarbeit erstaunlich lange, nämlich über dreißig Jahre, funktioniert und eine vielstimmige, ma­gisch fließende freie Musik hervorgebracht hat. Auch nach dem Tod von Malachi Favors und Lester Bowie geht es weiter. Es gibt den Saxophonisten Roscoe Mitchell und Don Moye, die mit zum Teil jüngeren Musikern weiterarbeiten, es gibt das AEOC-Label, bei dem zum Beispiel gerade »Hexenring« erschienen ist, eine Live-Radio-Produktion von Famoudou Don Moye und Hartmut Geerken aus dem Jahr 1996 mit etwa dreihundert Perkussions-Instrumenten. Weiterhin erscheinen also bezeichnende und außergewöhnliche Konzertmitschnitte des Art Ensemble und/oder einzelner seiner Mitglieder, die aus dem Archiv geholt und verbreitet werden.

Am Abend des Interviews kommt dann noch vor einem Blumenladen in der Herrschinger Bahnhofstraße eine vielfältige Instrumentierung zum Einsatz: afrikanische Trommeln, afrikanisches Balafon, indonesische Angklung (Bambusrasseln), afrikanische Kongoma (Sägeblätter auf Holzkisten), tibetische Boochals, koreanische Chings und Tempelblocks. Das Konzert macht Spaß, und ab und zu dürfen auch die Passanten und Zuhörer die Chings schlagen. Die meisten werden nicht wissen, dass der ältere Herr an den Trommeln mit dem afrikanischen Käppchen und dem bewegten Leben in früherer Zeit mehrmals den Down Beat International Critics Poll und den New York Jazz Poll in der Kategorie Schlagzeug gewonnen hat.

Interview: Egon Günther