Das Verhältnis zwischen Hindus und Muslimen in Indien wird schlechter

No Country for Holy Men

In Indien wachsen die Spannungen zwischen Muslimen und Hindus. Die Vergabe staatlichen Landes in Kaschmir hat zu starken Protesten muslimischer und hindu-nationalistischer Gruppen geführt. Die Bombenanschläge islamistischer Gruppen in indischen Städten sorgen für weitere Instabilität im Land.

Die Straße ist übersät mit Pflastersteinen, einige Scheiben von geparkten Autos sind eingeworfen. Einen Häuserblock voneinander entfernt stehen Gruppen junger Männer, manche mit Holzknüppeln und Stahlrohren bewaffnet, und diskutieren hitzig miteinander. Die Atmosphäre ist aggressiv, einige der Bewaffneten schreien ihre Mitstreiter an und zerren an deren Ärmeln. Andere stehen still und breitbeinig da und funkeln die Gegenseite an. Die Augen glasig, die Hemden aufgeknöpft. Eine Polizeikette trennt beide Seiten voneinander. Dazwischen dirigieren einige Frauen eilig ihre Kinder durch das Konfliktfeld, ältere Män­ner sitzen mit unbewegter Miene am Straßenrand und betrachten das Spektakel.
Seit zwei Tagen ist in Vijayawada, der drittgrößten Stadt im Osten des indischen Bundesstaats Andhra Pradesh, die Gewalt des Mobs wieder ausgebrochen. Gewaltsame Konflikte zwischen Hindus und Muslimen sind keine neue Erscheinung hier. Diesmal aber berichteten die meisten großen indischenTageszeitungen über die jüngsten Vorfälle in Vijayawada, ein Zeichen dafür, dass die Stimmung im ganzen Land angespannt ist.

Auslöser der jüngsten Auseinandersetzungen war die Hochzeit einer jungen Muslima mit einem Hindu. Nach dem Bekanntwerden der Ehe gingen Angehörige beider Seiten unmittelbar aufeinander los. Nun sollen die Ordnungshüter das Eintreffen auswärtiger Gruppen verhindern, die den Konflikt weiter anheizen könnten. Am Bahnhof der malerisch zwischen zwei Flüssen und den Indrakiladri-Hügeln gelegenen Stadt empfangen aufmerksame Patrouillen der Bundespolizei aussteigende Neuankömmlinge.
Das frisch verheiratete Brautpaar lebt seit der Hochzeit versteckt, die Eltern wollen nicht mit der Presse sprechen. Inmitten der aufgebrachten Menge präsentieren sich Einzelne als Cousin oder Onkel der Betroffenen: »Die Muslime nehmen sich unsere Frauen und unser Land. Sie haben schon ihr Pakistan bekommen. Und sogar in unserem Indien wollen sie besondere Rechte. Sie haben ihre Moscheen und ihre Koranschulen. Und was haben wir?« Obwohl der etwa 25jährige, der sich als Vetter des Ehemanns ausgibt, diese Sätze herausbrüllt, ist er kaum zu verstehen. Etwa ein Dutzend seiner Mitstreiter umringt den schmächtigen Studenten und schaukelt sich gegenseitig hoch. Es wird geschubst, gejohlt und gelacht.
Das gleiche Bild jenseits der Polizeikette. Junge Männer, darunter Verwandte der Frau, die sich wechselseitig aufwiegeln, grölen, stampfen und aneinander zerren. »Diese Männer dort drüben bezeichnen uns als Terroristen. Wir werden für alles Schlechte verantwortlich gemacht, und der Islam wird mit Terror gleichgesetzt. Sie sagen, wir vergreifen uns an ihren Frauen. Dabei sind es die Hindus, die unsere Frauen in Ahmedabad, in Hyderabad und so vielen anderen Orten vergewaltigt haben.«

Nicht nur in dieser typischen indischen Provinzstadt herrscht der Ausnahmezustand wegen der Spannungen zwischen Hindus und Muslimen. Im Bundesstaat Jammu-Kaschmir im Norden des Landes blockieren derzeit Anhänger der hindu-nationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) die Zufahrtswege nach Kaschmir. Das Land richtet derzeit seinen Blick mal wieder auf die Krisen­region im Norden.
Der konkrete Auslöser für den gegenwärtigen Konflikt in Kaschmir ist die Vergabe von Land durch die National- und Bundesstaatsregierung an die Shri-Amarnathji-Shrine-Stiftung. Diese Institution ist für die Unterbringung und Verpflegung hinduistischer Pilger an dem Wallfahrtsort Amaranth verantwortlich. Jährlich ziehen mehrere hunderttausend Menschen zu der Amaranth-Höhle, die auf fast 4 000 Metern Höhe im Himalaya-Gebirge liegt und Shiva, der wichtigsten Hindu-Gottheit, geweiht ist. Die Infrastruktur wird nach Angaben der Regierung Jammu-Kaschmirs der stetig wachsenden Anzahl von Pilgern nicht mehr gerecht. Daher wurden Ende Mai dieses Jahres etwa 100 Hektar Waldfläche der Shrine-Stiftung zur Verfügung gestellt, um Behausungen für die Pilger zu errichten.
Darauf regte sich unmittelbar Widerstand islamischer Gruppen in Kaschmir gegen den »Ausverkauf muslimischen Landes«. Der einflussreiche Sprecher des extremistischen Flügels der separatistischen Bewegung in Kaschmir, Syed Ali Shah Geelani, verglich die Landvergabe umgehend mit dem israelischen Siedlungsbau im Gaza-Streifen und Westjordanland. »Es geht um unser Überleben und unsere Existenz«, sagte der 78jährige Hardliner, der propagiert, die indische Regierung wolle Kaschmir mit Hindus besiedeln und die Muslime zu einer Minderheit machen. Es kam zu Streiks, Demonstrationen und Straßenschlachten mit der Polizei. Mehrere hundert Menschen wurden verletzt, mindestens sechs Personen starben auf Seiten der Protestierenden. Parolen gegen die indische Kontrolle Kaschmirs und Pro-Pakistan-Sprüche waren bei den Umzügen zu hören und sorgten für Unruhe im Rest des Landes.
Die People’s Democratic Party (PDP), die in Neu-Delhi der Regierungskoalition angehört und auf Bundesstaatsebene an der Entscheidung der Land­vergabe beteiligt ist, zog sich kurz nach Aufflammen der Unruhen überraschend aus der Landesregierung zurück. Daraufhin machte die Regierung Jammu-Kaschmirs die Landvergabe rückgängig, was wiederum zu sofortigen Protesten zahlreicher Hindu-Gruppen führte. Tausende folgten dem Aufruf der BJP und des Welthindurats zu Demonstrationen in der Stadt Jammu. Insbesondere die Blockade des Highways nach Kaschmir, der wichtigsten Versorgungsroute aus Indien, zeigte sich als wirksame Strategie der Hindu-Nationalisten, Druck auf die Regierung auszuüben.
In Jammu-Kaschmir wird im Oktober eine neue Regierung gewählt, landesweit stehen Anfang nächsten Jahres die Wahlen für das Unterhaus an. Dementsprechend ist der derzeitige Konflikt von parteipolitischen Interessen gekennzeichnet. Mitte Juli riefen die BJP, der Welthindurat und einige Regionalparteien zu landesweiten Aktionen auf. Es kam jedoch in den meisten Regionen Indiens nur zu kleineren Ansammlungen. In weiten Teilen Jammu-Kaschmirs mussten dagegen im August Ausgangssperren erlassen werden, um die Situation unter Kontrolle zu bekommen. Seit Anfang des Monats wurden dort mindestens drei Anhänger hindu-nationalistischer Gruppen von Sicherheitskräften erschossen und mehrere verletzt. Für Mitte August rufen die BJP, ihre Jugendorganisation und weitere hindu-nationalistische Gruppen zu einer landesweiten Kampagne gegen die »Appeasement-Politik« der Regierung auf.
Derzeit ist die BJP an Regierungen in zwölf von insgesamt 28 Bundesstaaten und sieben Unions­territorien beteiligt. Die Partei ist der wichtigste parlamentarische Ableger der hindu-nationalis­tischen Bewegung in Indien, die ideengeschichtlich vor allem auf M.S. Golwalkar zurückzuführen ist. Im Jahre 1939 formulierte er die Grund­ideen der Ideologie, an denen sich noch heute die BJP, der Welthindurat und zahlreiche andere Regionalparteien und außerparlamentarische Gruppen orientieren. Erklärtes Ziel ist es, eine möglichst homogene Nation der Hindus zu schaffen. Angehörige anderer Glaubensrichtungen werden als minderwertige Menschen charakterisiert. Diese »fremdländischen Rassen in Hindustan« müssten sich in die Hindu-Gemeinschaft assimilieren, so eine der Kernthesen des Hindu-Nationalismus.

Den großen Pogromen gegen Muslime in Indien gingen meistens Geschichten voraus, die die Bedrohung der eigenen Gruppe verdeutlichen sollen. In Jammu lancieren Hindu-Nationalisten derzeit die Mär, dass Muslime die Anbetung Shivas in der Amaranth-Höhle verhindern wollen. Berichte von Waffenlagern und Anlagen zum Bombenbau unter Moscheen gingen etwa den Gewalttaten in Ahmedabad 1969 ebenso voraus wie den Pogromen in Hyderabad 1990. Im Bundesstaat Gujarat, insbesondere in der Stadt Ahmedabad, kam es im Jahr 2002 zu »kommunalistischer« Massengewalt, die Angaben von Human Rights Watch zufolge über 1 000 Menschen das Leben kostete, der Großteil der Opfer war muslimisch. Hunderttausende mussten fliehen, während die BJP-Landesregierung die Stimmung mit Fehlinformationen weiter anheizte.
Auch Muslime attackierten Hindus, töteten zahlreiche Menschen und zwangen Zehntausende zur Flucht. Die Gewalt von Muslimen gegen Hindus ist ebenso stets von Gerüchten und Verschwörungstheorien begleitet. Mehrere Elemente gleichen sich bei den Gruppen. Beide Seiten imaginieren sich in der Rolle des Verlierers und Unterdrückten. Während muslimische Extremisten den Zeiten der Moghul-Herrscher nachtrauern und sich in der Rolle der verfolgten Minderheit das Recht auf Selbstverteidigung zuschreiben, halluzinieren Hindu-Nationalisten eine Verschwörung der Muslime herbei. Demnach versuchen die muslimischen Familien Indiens durch eine möglichst große Zahl an Nachkommen, die demographische Mehrheit zu erlangen. Genau dieses Argument verwenden derzeit muslimische Gruppen in Kaschmir mit der Behauptung, die Regierung wolle die Mehrheitsverhältnisse in dem Gebiet zugunsten der Hindus verändern.

Die gegenwärtige Eskalation in Kaschmir wird von einer Serie Bombenattentate begleitet, zu denen sich eine Gruppe namens »Indian Mujahideen« bekannte. Im Mai explodierten in Jaipur kurz nacheinander mehrere Bomben an öffentlichen Plätzen und töteten 61 Menschen, Ende Juli kosteten Bomben der gleichen Bauart 56 Marktbesucher das Leben, Hunderte wurden verletzt. In Varanasi, einer der heiligsten Städte für Hindus, explodierten 2006 und 2007 mehrere Bomben an Tempeln und Pilgerstätten, 20 Menschen starben dabei.
Derartige Attentate verdeutlichen nicht nur die Präsenz islamistischer Terrorzellen in Indien und die Gefahr eines wachsenden Einflusses wahhabitischer Strömungen innerhalb der muslimischen Gemeinden. Derartige Anschläge untermauern auch weit verbreitete Vorurteile gegenüber Muslimen in Indien. Nicht nur Anhänger der BJP assoziieren den Islam zunehmend mit Terror und pakistanischen Interessen. Sowohl die Indian Mujahideen als auch die Drahtzieher des Bombenanschlags auf die indische Botschaft in Kabul im Juli werden Informationen der CIA zufolge vom pakistanischen Geheimdienst ISI unterstützt.
»Die Stimmung zwischen Hindus und Muslimen wird angespannter«, meint Chandrakala Reddy. Die Mitarbeiterin einer in Hyderabad angesiedelten NGO, die sich für Mikrokredite engagiert, ist viel in ländlichen Gebieten unterwegs. »In den Dörfern ist die Stimmung zwischen den beiden Gruppen meist besser, aber hier in der Stadt, vor allem in den Slums, wächst die Aggression.« Kleinere Auseinandersetzungen können bei ungünstigen Rahmenbedingungen zum Ausbruch der Gewalt führen.
Nach drei Tagen vertreibt in Vijayawada schließ­lich der Regen den Mob von der Straße. Der Monsun kam dieses Jahr spät nach Andhra Pradesh. Die starken Schauer, die nun über dem Land niedergehen, freuen hier nicht nur die Bauern. Die Hardliner beider Seiten haben jedoch derzeit das Wetter auf ihrer Seite: In Jammu-Kaschmir wird in den kommenden Tagen die Sonne scheinen.