Über den Film »Day Night Day Night«

Das Leben vor dem Tod

In dem Film »Day Night Day Night« wird eine Frau in den letzten Stunden vor ihrem geplanten Selbstmordanschlag beobachtet.

Eine junge Frau, im fiebrigen Gespräch mit einem Gott, ein bisschen auch mit sich selbst, sitzt voller Anspannung in einem Bus und zählt flüsternd Todesursachen auf: Menschen werden vom Auto überfahren, Menschen werden erschlagen, Menschen sterben an Krankheiten etc. Es ist der Ver­such, den bevorstehenden Tod zu relativieren, ihm den Schrecken zu nehmen. Die Frau ist auf dem Weg nach New York, um ihren Auftrag zu erfüllen: auf dem Time Square eine Bombe zu zünden.
Seit einigen Jahren schon taucht im Kino vermehrt die Figur des Selbstmordattentäters auf – eine »kulturelle Ikone unserer Zeit«, die ein eigenes Genre hervorgebracht habe, so die Regisseurin Julia Loktev. Die Darstellung dieser Figur scheint dabei untrennbar mit der Frage nach dem Motiv und dem damit verbundenen Wunsch nach Nachvollziehbarkeit verknüpft. Motive gibt es, das ist unumstritten, doch Erklärungen bleiben zwangsläufig lückenhaft, ver­einfacht und geraten oft unbefriedigend wie in »Shahida – Brides of Allah« (2008), eine Dokumentation über palästinensische »Gotteskriegerinnen«, deren Alltag in einem israelischen Frauengefängnis begleitet wird. Oder sie arbeiten – ob nun gewollt oder nicht – ideologischen Vereinnahmungen zu wie etwa Hany Abu-Assads viel beachteter Spielfilm »Paradise Now« (2005), der von den letzten Stunden zweier palästinensischer Selbstmordattentäter erzählt.
Gegen Erklärungen, Auflösungen und falsche Beruhigungen grenzt sich Julia Loktev mit ihrem Film vehement ab – »Day Night Day Night« ist ein formal strenger Konzept-Film, der streckenweise der Videokunst näher steht als dem Erzählkino. Denn sie befreit ihre Geschichte vollständig von soziologischen und politischen Hintergründen und reduziert sie auf ihren existentiellen Kern: »Erklärungen implizieren ein trügerisches Ursache-Wirkung-Verhältnis, sie lullen das Publikum mit einem allzu bequemen Gefühl des Verstehens ein, wobei sie oft nur bekannte Metaphern bestätigen«, so Loktev programmatisches Statement.
Angelehnt an den Bericht über eine tsche­tschenische Selbstmordattentäterin in Moskau, begleitet der Film seine Hauptfigur, eine namenlose junge Frau ohne erkennbare ethnische Zugehörigkeit, Schritt für Schritt bei ihren sorgfältigen Vorbereitungen auf das Attentat. Sie steigt in einem Motel in New Jersey ab und wartet dort, isoliert in einem kargen Hotelzimmer, auf Anweisungen. Maskierte Leute kommen, kleiden sie ein und geben ihr letzte Instruk­tionen, der Tonfall ist gedämpft und beängstigend neutral. Auch die Frau wirkt alles andere als martialisch. »If I think that I’ve been noticed or there is a small chance that I might be caught, I must execute the plan immediately even if there is no one nearby«, betet sie immer wieder gleichmäßig herunter, die eigentliche Bedeutung geht dabei fast verloren. Ihre Identität gibt sie buchstäblich ab – Handy, Papiere, Kreditkarten und persönliche Gegenstände – stattdessen bekommt sie eine neue, die sie bald wie im Schlaf aufsagen kann. Die Organisatoren des An­schlags drehen ein Abschiedsvideo mit ihr und präparieren die Ausrüstung, dabei kommt es immer wieder zu flüchtigen Momenten voller Absurdität – beispielsweise wenn für die Videoaufnahmen erst ein geeigneter Hintergrund gefunden werden muss und dabei die ganze Komik dieses stereotypen Inszenierungsschemata zum Vorschein kommt. »This is the day of our meeting«, mit dieser Ankündigung macht sich die Frau mit der Rucksackbombe auf den Weg zum Times Square, wo sie sich bald allein inmitten einer Menschenmenge wieder findet.
Dialoge gibt es in diesem nahezu wortlosen Film nicht – der Text hat immer monologisierenden Charakter: Anweisungen, Fragen, die nicht beantwortet werden und im Raum stehen bleiben, auswendig gelernte Texte, Gebete, Selbstgespräche. Da ist aber auch das Gesicht der durch die Laiendarstellerin Luisa Williams eindrucksvoll verkörperten Hauptfigur, in dem man abwechselnd Angst, Zweifel, Panik und Entschlossenheit lesen kann, und da sind die klei­nen Gesten und alltäglichen Verrichtungen: Sie schrubbt ihren Körper, wäscht ihre Kleidung, isst und schläft. Sie wartet, mal voller Ruhe, dann nervös oder gelangweilt. Jeder ihrer Schritte erscheint dabei wie unter einem Vergrößerungsglas geschärft und wird zum unverzichtbaren Bestandteil ihres »Auftrags«. Die Wie­derholungen dieser scheinbar banalen Alltagshandlungen sind beunruhigend, da sie die Mög­lichkeit des »letzten Mals« in sich tragen, doch Lektov gewährt ihrer Figur wieder und wieder einen weiteren kleinen Aufschub.
Wenn sie in Anwesenheit der maskierten Männer eine riesige Pizza isst, wird dieser Moment zur rituellen Henkersmahlzeit, doch bis zum Ende des Films wird sie noch viel mehr in sich hereinstopfen: Frühlingsrollen, Bretzeln mit Senf, einen kandierten Apfel und allerhand Süßigkeiten, die in den bonbonfarbenen Läden am Time Square angeboten werden – manches wird aufgegessen, anderes landet schon nach wenigen Bissen im Mülleimer. In den Mahlzeiten verbinden sich Hunger, Übersprungshandlung und Tarnung. Denn inmitten der ahnungs­losen Menschen suggerieren sie größtmögliche Normalität: ein ganz gewöhnliches Mädchen, das mit einem Rucksack essend über den Time Square schlendert. Fast ausschließlich über den Körper äußert sich das Innenleben der Figur, über seine Bedürfnisse und sein Versagen – etwa dann, wenn sie sich vor Angst die Hosen nass macht oder ihre Hand zu zittern beginnt. Der Körper ist Hindernis – und als »lebende Bom­be« – machtvolles Instrument gleich­zeitig.
Anfangs folgt die Kamera der jungen Frau in klaren und statischen Einstellungen, die Farben wirken blass und grau. Dann, im zweiten Teil des Films, kollabiert die Kontrolliertheit der mi­nimalistischen Erzählung, und eine atemlose Handkamera heftet sich an die Protagonistin, die zunehmend desorientiert im bunten Treiben des Time Square umherstolpert, während unterschiedliche Stimmen, Sprachen und Geräusche sich zu einem chaotischen Soundteppich verbinden. Loktev hat hier gänzlich ohne Absperrungen gedreht, was zu einer bizarren Übereinanderlagerung von Wirklichkeit und Filmrealität führt. Denn die Passanten auf dem Platz scheinen überwiegend gar nicht mitzubekommen, dass hier gerade ein Film gedreht wird, ebenso wie sie in der Erzählung nichts von dem geplanten Anschlag ahnen. So nah wie jetzt ist man der Figur noch nie gekommen. Alles andere liegt außerhalb der Leinwand.

»Day Night Day Night« (USA/D/F), Regie: Julia Loktev
Start: 25. September