Richard Price zeigt in »Lush Life«, dass er zu Recht ein »Meister des Dialogs« genannt wird

In der Geisterstadt

In Richard Prices Kriminalerzählung »Lush Life« geht es nicht nur um Gentrifizierung. Es wird auch die Kreativität und die Hilflosigkeit der Redenden beim Sprechakt gezeigt.

Der junge Hipster Ike Marcus wird erschossen, als er sich bei einem bewaffneten Überfall weigert, sein Portemonnaie auszuhändigen. Doch er hat dem Täter nicht einfach nur ein »Nein!« entgegnet, schließlich spielt die Szene in New Yorks Lower East Side am südöstlichen Ende Manhattans, und dort ist es nicht gerade unwichtig, einen coolen Abgang zu machen.
»Not tonight, my man«, lauten die letzten Worte von Ike, bevor er den tödlichen Schuss in die Brust bekommt. »Suicide by mouth«, kommentiert später ein Polizist.
In der Erzählung »Lush Life« von Richard Price, die im Frühjahr dieses Jahres in den USA erschienen ist und vom New York Magazine bereits zu einer der »New Yorker Kulturikonen« er­nannt wurde, geht es aber nur vordergründig um die Ermittlungen in einem Mordfall. Der Leser kennt den Mörder, einen Jungen aus den So­zialbauten am Rand des hippen Viertels, schon früh und weiß, dass der Täter nicht der zuerst Verdächtigte ist, der Barkellner im Café Berkmann, ein gescheiterter Schauspieler namens Eric Cash.
Das Wesentliche an der Erzählung sind die Dialoge und Sätze wie »Not tonight, my man«.
Was die Orte, die Charaktere, das Geschehen, die Atmosphäre angeht, so wird kaum etwas mittels simpler, konventioneller Beschreibung dargestellt, fast alles wird ausschließlich über die Dialoge der Figuren erzählt, die aus verschie­denen Schichten, Milieus, Einwandererfamilien kommen.
In den Dialogen sucht man allerdings vergeblich nach den großen Aussagen, den bedeutungsvollen Mitteilungen, es gibt auch keine brillanten Bilder oder Metaphern, mit denen den Gesprächen ein vermeintlich tieferer Sinn untergeschoben werden soll.
Denn Price verwendet den Dialog nicht im platonischen Sinn, also als reine Form, um sich auf die Suche nach der alles ordnenden Wahrheit zu begeben, sondern es geht um den Dialog, der mittendrin steckenbleibt, mangelhaft, belanglos oder unbefriedigend ist, alles offen oder keinen Ausweg lässt.
Dabei sind diese Unterhaltungen nicht einfach das Abbild mangelhafter zwischenmensch­licher Kommunikation, sondern zeigen vielmehr die Gleichzeitigkeit der Kreativität und der Hilflosigkeit der Sprechenden, wobei es egal ist, ob es sich dabei um den Polizistenjargon, den Slang des mexikanischen HipHoppers oder den eloquenten Sarkasmus des Café-Managers handelt.
Nun ist es zwar nichts Neues, dass in der modernen Literatur soziale Milieus durch die Wider­gabe der ihnen eigenen Sprache und des Slangs dargestellt werden. Doch Price, dem nachgesagt wird, er habe »ein Ohr für den Dialog«, legt seinen verschiedenen Figuren nicht einfach die aus Klischees, Gerichtsreportagen, Talkshows, Popmagazinen oder Rapsongs zusammengesammelten Codes in den Mund, sondern schafft es, die Dialoge so zu verdichten, dass selbst der kaputteste Wortwechsel poetisch klingt.
Eine Polizistin befragt beispielsweise eine dominikanische Anwohnerin, die behauptet, die Todesschüsse auf der Straße gehört zu ­haben:
»OK, so, you heard the shot, the pop. You look out the window?«
»No, I don’t do that.«
»You overhear any talking? Arguing?«
»I don’t do that either. If I hear something? I don’t listen.«
»Maybe you couldn’t help it. Maybe …«
»I heard arguing, maybe. Maybe I was dreaming it.«
»What were they arguing about?«
»In my dream?«
»Sure.«
»I don’t remember my dreams.«

Richard Price gilt in den USA seit langem als Meister des Dialogs. Die New York Times meinte in ihrer Rezension zu »Lush Life«, dass »niemand bessere Dialoge schreibt als Richard Price – weder Elmore Leonard, noch David Mamet, nicht einmal David Chase«. Eine größere Auszeichnung kann es kaum geben, handelt es sich bei David Mamet doch um einen der berühmtesten Drehbuchautoren (»The Untouchables –Die Unbestechlichen«) und bei David Chase um den Schöpfer der Fernsehserie »Die Sopranos«, die als literarische Form des Fern­sehens gefeiert wird.
Zwar hat Price bereits sieben Romane ge­schrie­ben, bekannt ist er in Europa jedoch kaum, da seine Dialoge nur schwer übersetzbar sind. Am ehesten dürfte man ihn noch als Autor von Drehbüchern kennen, beispielsweise dem zu Martin Scorseses Film »Die Farbe des Geldes«, dem zu Harold Beckers »Sea of Love« oder durch seine Skripts für die derzeitige Erfolgsserie »The Wire«. Auch Michael Jackson hat Price schon Dialoge geliefert: Er schrieb das Skript für Jacksons Video »Bad«.
»Lush Life« besteht nicht einfach nur aus end­losem Geschwafel. Es geht auch um harte Fakten, etwa die Gentrifizierung der Lower East Side. Angelehnt ist die Erzählung an eine wahre Begebenheit aus dem Jahr 2005. Damals wurde die Schauspielerin Nicole du Fresne auf der Clinton Street in der Lower East Side erschossen, nachdem sie die Täter, die sie und ihre Freunde überfallen und beraubt hatten, noch gefragt ha­ben soll, ob sie sie jetzt erschießen wollten. Die Erzählung spielt also in dem Viertel New Yorks, in dem auf der einen Seite gut situierte Angestellte der Wall Street oder Künstler ihre Lofts beziehen und auf der anderen Seite immer noch etliche alte Mietshäuser von Immigranten und Underdogs bewohnt werden, die den Hippen und Reichen hin und wieder zeigen, dass sie hier nichts zu suchen haben.
Dabei sehen die weißen, schwarzen und latein­amerikanischen Jugendlichen, die die Straße beleben, aus wie eine »advance guard of a UN youth brigade«, wie Price schreibt, eine Karriere, von der die meisten aber nicht mal träumen können.
In der Lower East Side, wo bis Mitte des letzten Jahrhunderts die europäischen, vor allem die jüdischen Einwanderer aufeinandertrafen, über­­rennen nun Bohemiens und Banker die Übriggebliebenen und die Neuangekommenen, die es erst noch schaffen müssen. Da die Bewohner der noch vorhandenen Sozialbauten kaum etwas haben, versuchen sie sich wenigstens an ihre Identität zu klammern, jemand aus der »neighbourhood« zu sein, obwohl diese gerade zerstört wird, alte Häuser demoliert, Büro­türme, Shopping-Center und teure Apartments gebaut werden. So sagt einer, der das Vertrauen des Bar­keepers gewinnen will: »I kind of seen you around. I’m from the neighbourhood.« Und der Kellner antwortet: »Half the country’s from the neighbourhood.«
Die alten Strukturen haben sich also schon lange aufgelöst, die alten Bewohner sind schon vor Jahrzehnten in andere Bezirke oder Städte gezogen. Doch ihr Geist schwebt immer noch über dem Viertel. Jedenfalls, wenn es nach ­Price geht. Immer wieder ist von den »ghosts« die Rede, wenn sich die Protagonisten in einem der noch existierenden Wohnhäuser, Keller, Veranstaltungsräume oder alten Geschäfte der ehemaligen jüdischen Bevölkerung aufhalten oder deren noch vorhandene Spuren entdecken.
Als eine Art Geist will Richard Price wohl auch die Sprache verstanden wissen. Sie ist irgendwie immer da und kann sich doch nie richtig mitteilen.
So sagt beispielsweise Eric Cash: »I’m so much better than anything I’ve ever done.« Daran anschließend könnte man das, was uns Price mit seinen Dialogen sagen will, so auf den Punkt bringen: Jeder ist so viel besser als alles, was er je gesagt hat.

Richard Price: Lush Life. Bloomsbury, London 2008, 457 Seiten, 10.99 Pfund