Fünf Lesarten von Thomas Pynchons »Gegen den Tag«

Mehr Anarchie war nie

Fünf Arten, Thomas Pynchons Roman »Gegen den Tag« zu lesen.

I. SchulischInterpretiere nach Form und Inhalt.

Das ist schwierig, denn es gibt irgendwie keine Handlung und da sind so viele Hauptfiguren, dass man schon bald nicht mehr weiß, wer wer ist. Da fliegen anfangs welche im Ballon umher, ihr Ziel ist die Weltausstellung in Chicago im Jahr 1893, aber das ist eigentlich egal, weil die Typen, die alle ganz komische Namen (Darby Suckling, Randolph St. Cosmo usw.) haben, im Verlauf der – hm – Handlung (?) sowieso immer seltener auftauchen.
Pynchon setzt die Ballonleute ganz bewusst am Anfang ein, damit er durch ihre Augen einen Blick von oben auf die Welt bekommt. Von dort aus zoomt er sich dann in verschiedene Szenen rein, so wie in der RTL-Fernsehserie »Co­bra 11«. Auch da folgt nach dem Zoom die Action. Ob nun in Bergbaugebieten der USA, auf mathematischen Kongressen in Belgien, im von einem so genannten Tunguska-Ereignis verwüsteten Sibirien oder am ohne Tunguska-­Ereignis verwüsteten Balkan – überall machen Pynchons komische Figuren lauter Sachen, die man nicht versteht. Viele von denen sind auch noch Anarchisten, also welche, die Geld, Staat, Familie, Arbeit, Ordnung, Schule, Herrschaft und noch ganz viele andere Sachen ablehnen.
Ihnen entgegengesetzt sind einige wenige so genannte Plutokraten. Auch bei denen weiß man nicht, was sie machen. Aber der Gegensatz wird klar – die haben Geld und die anderen haben keins –, ebenso auch weitere Gegensätze (Ballon und Bergwerk, Wissenschaft und Esoterik, Revolution und Staat, Sexualität und Ordnung u.v.m.) Da sind auch viele Anspielungen auf ande­re Bücher drin, aber ich kenne die alle ja nicht.
Der Roman ist an manchen Stellen nicht zu kapieren, an anderen spannend wie Grand Theft Auto IV oder pornografisch wie ein Porno. Der Autor ist entweder selber einer der Anarchisten, über die er ständig schreibt, oder er ist ein Nihilist. Das ist einer, der gegen alles ist. So schreibt der jedenfalls, und so wirkt das auch, als ob der sich gar keine Mühe gibt, damit man dem Buch wenigstens folgen kann. Aber die Lie­der, die immer wieder mal eingestreut werden, die sind lustig.

II. UniversitärKontextualisieren Sie Pynchons Ausführungen mit den literarischen Traditionen der Moderne, insbesondere im Hinblick auf die US-amerikanische Prosa seit 1945.

Im Bewusstsein, dass ein stringentes Erzählen weder inhaltlich noch formal den Zurichtungen des Einzelnen in der einerseits hyperindividualisierten, andererseits massenmedial geformten Gesellschaft noch möglich ist, greift Au­tor Thomas Pynchon die von Deleuze/Guattari entwickelten Konzepte des Rhizoms und der Ta­bleaus (Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, a.a. O.) zur Vernetzungserkennung von gesellschaftlichen Institutionen wie Wirtschaft, Wissenschaft, Medien und Kultur poststrukturalistisch auf.
Auf diese Weise gelingt es Pynchon, machtpolitische Konstruktionen wie Staat, Gesellschaft, Geschlecht, Krieg, Männlichkeit, Kapitalismus, Industrie, Rasse u. dgl. m. abzutragen. Dabei macht er auch vor scheinbar neutralen Kategorien wie Gesundheit, Wissen und Sexua­lität nicht halt. Nur seinen Kenntnissen des dekonstruktivistischen Werkes Judith Butlers ist es zu verdanken, dass vor allem die von »männ­licher« Logik geprägten Naturwissenschaften wie Physik und Mathematik ins Visier der Kritik geraten. Den Konstrukten »Mann«, »Frau«, »heterosexuell«, »monogam« werden von Pynchon jene der X/Y-Achse, des Vektors, überhaupt der Geometrie und Algebra beiseite gestellt, um allesamt anschließend mittels queerer Literaturpolitiken zu hinterfragen.
Die männlich-bürgerliche Identitätsfixierung muss am Ende Imaginationen der vielen (Ne­gri/Hardt: Multitude, a.a.O.) weichen, wobei ne­benher auch die bürgerliche Macht und konventionelle Ästhetik transportierenden Autoren Vladimir Nabokov, Thomas Mann, Anton Tschechow, Sherwood Anderson, Don DeLillo, Cormac McCarthy (allesamt »Männer«!) in ihre Schranken verwiesen werden.
Obwohl es sich formal um einen US-amerikanischen Autor handelt, bedient der Roman dabei europäische Erzähltraditionen. Darauf deutet auch die strukturalistische Kontextualisierung von Signifikat und Signifikant im Zeit­alter deterritorialisierter Konflikte hin. In der Kennzeichnung des Deutschlands des frühen 20. Jahrhunderts als »deutscher Primitivismus« bricht dagegen ein noch nicht gänzlich abgelegter Chauvinismus auf, der der weit verbreiteten sensorischen Deprivation US-amerikanischer »Männer« im Alter Pynchons geschuldet sein dürfte.

III. Boulevard-FeuilletonistischSchreiben Sie einen Artikel über das neue Megawerk des großen Unbekannten, der uns den Verlag Rowohlt nicht als Anzeigenkunden vergrault.

Sie machen Urlaub in New York, dieser nach Berlin fantastischsten Metropole der Welt. Der Mann mit Lederjacke und iPod an der Ecke, das könnte Thomas Pynchon sein. Was sag’ ich – könnte – das ist Thomas Pynchon. Beobachten Sie ihn genau. Denn Sie sind der Einzige, der weiß, wie der Mann aussieht. Jahrzehnte lang hat er seine Spuren verwischt, ist nur in seinem Werk sichtbar geworden. Und was für ein Werk.
Wie in einem Feuerwerk der Globalisierung zündet Pynchon seine Raketen – einst gegen Hitler und Stalin, jetzt gegen Bush und Putin. Unsere schöne Studentenstadt Göttingen wird als Metropole der Mathematik gewürdigt, eben­so unsere tollen Urlaubsländer Österreich und Italien. Mit dem Apostel Paulus im Gepäck rückt der Autor den anarchistischen Bombenlegern auf den Leib, Matrix meets Bibel, und am Ende gibt’s den ganz großen Showdown wie bei »Dick und Doof«.
Nur was es mit diesen ganzen Gleichzeitigkeiten auf sich hat, das müsste mal einer erklären. Soll Anne Will den Pynchon doch mal einladen, zusammen mit unserem Papst und unse­rem Literaturpapst Reich-Ranicki, die Heidenreich nicht vergessen und den Grass erst recht nicht. Noch so eine Linke wie die Jelinek dazu und fertig ist die Expertenrunde. Da bleibt keine Frage offen.

IV. Von linksOrdne den Roman in die bekannte Reihe großer revolutionärer Werke ein. Wie bringt er die Menschheit in ihrem Streben nach sozialer Gerechtigkeit voran?

Gar nicht. Vordergründig erhebt der Autor zwar (pseudo-)revolutionäre Figuren in den Stand von historisch bedeutsamen Kämpfern gegen Ausbeutung, Unterdrückung, Imperialismus und Krieg. Doch zum einen handelt es sich dabei durch die Bank um dubiose, eher individu­al-anarchistische Kleinbürger ohne nennenswerten Grad der Organisierung in den Reihen der Arbeiterbewegung. Zum anderen ist das vom US-Bürger Pynchon, von dem bislang in der Öffentlichkeit kein kritisches Wort gegen den von Bush und seinen Schergen in den letzten Jahren noch einmal forcierten US-Imperialismus vernommen wurde, gezeichnete geschichtsphilosophische Fundament schlicht reaktionär.
Mit der Charakterisierung von »Geschichte als Pathologie der Zeit« unternimmt der US-Bürger nichts anderes, als die fortschrittliche, der Emanzipation des Menschen nach Friedrich Engels folgende Wahrheit, derzufolge die Geschichte inklusive des historischen Materialismus die Menschheit langfristig zur Sonne führe, zu negieren.
Hinzu kommen im Buch unflätigste Beschimp­fungen des Genossen Lenin, dergestalt, dass windigen Figuren in den Mund gelegt wird, Lenin persönlich schreibe angeblich an einem sehr dicken Buch, »in dem er den Versuch unternimmt, die ›vierte Dimension‹ zu widerlegen. Seine Position ist, soviel ich weiß, dass der Zar nur in drei Dimensionen gestürzt werden kann.«
Zwar ist dem libertären US-Autor zugute zu halten, dass er den konterrevolutionären Weg vom Vektorismus über den Futurismus zum Faschismus detailgetreu nachzeichnet. Von einer Lektüre ist dennoch aus den genannten und weiteren Gründen (temporärer Irrationalismus, kleinbürgerlicher Dynamitismus, libe­rale Ablehnung von Totalität, Lob der Idiotie) dringend abzuraten.

V. FreiEinfach lesen.

Genug der Klischees. Es erwarten Sie 1 596 Seiten axiomfreies, reines Vergnügen.

Thomas Pynchon: Gegen den Tag. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren und Nikolaus Stingl. Rowohlt Verlag, Hamburg 2008, 1 596 Seiten, 29,90 Euro