Interview mit Carlos Ramirez-Pimienta über die Bedeutung und den Wandel der Narcocorridos

»Narcocorridos sind ein Grenzphänomen«

Der Corrido ist eine traditionelle mexikanische Ballade, der Narcocorrido eine Ballade, in dem Drogenhändler besungen und verehrt, ihre Geschäfte aber auch als Problem dargestellt werden. Der Narcocorrido ist eines der populärsten Musikgenres in Mexiko. Der an der San Diego State University tätige mexikanische Literaturwissenschaftler Ramirez-Pimienta arbeitet derzeit an einem Buch über Ursprünge, Entwicklung und Nutzen des Narcocorrido.

Wie sind die Narcocorridos entstanden?
Im Wesentlichen sind sie ein Phänomen, das sich im nordmexikanischen Grenzgebiet entwickelt hat und von da aus bis nach Mittelamerika und in die Vereinigten Staaten gelangt ist. Die Corridos, in denen es um Drogen geht, reichen bis in die dreißiger Jahre zurück. Doch damals ging es vor allem um den illegalen Handel mit Alkohol, der zur Zeit der Prohibition in die USA geschmuggelt wurde. Nach der Aufhebung der Prohibition wurde der Alkohol in den Corridos durch Heroin, Kokain und Marihuana ersetzt. Bis zu den achtziger Jahren waren die Narcocorridos dann traditionelle Klagegesänge über Drogenhändler, die mit den staatlichen Behörden in Konflikt gekommen waren, also im Gefängnis saßen oder in einer Schießerei mit den Polizisten umgekommen waren. Zwischen den fünfziger und den siebziger Jahren spielten die Narcocorridos keine große Rolle, denn in dieser Zeit herrschte das, was man als mexikanisches Wirtschaftswunder bezeichnet. Erst als die wirtschaftliche Situation sich immer weiter verschlechterte, erhielten die Narcocorridos wieder mehr Bedeutung. Doch in dem Moment, in dem die Narcocorridos wieder aufblühten, also etwa seit den achtziger Jahren, hatte sich der Inhalt der Texte geändert. Während früher der Held besungen wurde, der es mit den mexikanischen und amerikanischen staatlichen Autoritäten aufnahm und dafür sein Leben riskierte, ist der Held nun derjenige, der Partys feiert, Drogen, Frauen und Alkohol konsumiert, gewalttätig und beleidigend ist.
Das heißt, der Narcocorrido ist zu einer Art mexikanischem Gangster Rap geworden?
Tatsächlich ist diese neuere Form des Narcocorrido in den mexikanischen Communities der USA entstanden. Diese teilen mit der afroamerikanischen Community das Gefühl der Ohnmacht gegenüber den staatlichen Behörden. Rap und Narco­corrido sind also eine Art Ermächtigung von Communities, die sich selbst als Opfer begreifen. Der größte Popularitätsschub für den Narcocorrido unter mexikanischen Jugendlichen war die Ermordung von Chalino Sanchez im Mai 1992 in Los Angeles. Der Sänger wurde zur Legende und überall wurden Narcocorridos gespielt. Die mexikanischen Jugendlichen in den USA und in Mexiko waren stolz auf ihre eigene »Rap-Kultur«.
Die Musik der Narcocorridos ist sehr traditionell. Werden die Lieder wirklich nur von Jugendlichen gehört?
Nein. Jeder hört sie, von der Unterschicht bis zur Oberklasse. Denn dieses Genre bedient auch ein Bedürfnis nach sozialkritischen Texten. Und selbstverständlich wird mit der traditionellen Musik das authentisch Mexikanische assoziiert und liefert so ein identitätsstiftendes Element. Allerdings hängt die Rezeption auch von dem Ort ab, an dem die Musik gehört wird. So verstehen beispielsweise Leute, die in einem Grenzort leben, in dem es viele Drogenkonsumenten gibt, die gleichzeitig Kleinkriminelle sind, die Narcocorridos anders als jene Leute, die in den kleinen Bergdörfern leben, die von der Drogenwirtschaft profitieren, und wo der Drogenhandel die Infrastruktur stellt. Über das soziale Element im Drogengeschäft sollte man nicht hinwegsehen. An einigen Orten liefern die Drogenkartelle die Elektrizität, andere bauen Krankenhäuser, und selbstverständlich werden diese Leute dann von der Bevölkerung geschätzt.
Gibt es eine Verbindung zwischen den Corrido-Musikern und den Drogenhändlern?
In einigen Fällen sicherlich, aber meist kommt die Inspiration für die Texte aus den Zeitungen, den Nachrichten, dem Fernsehen. Es passiert so viel, dass man niemanden persönlich kennen muss, um darüber Lieder zu schreiben. Aber so wie es in der mexikanischen Revolution Generäle gab, die ihre eigenen Corridistas hatten, denen sie nach einer gewonnenen Schlacht den Auftrag gaben, einen Corrido zu produzieren, gibt es das auch unter den Drogenbossen.
Werden die Corridos immer noch wie früher als alternative Nachrichtenübermittlung verstanden?
Auf eine gewisse Weise ja. Aber man geht mit ihnen um wie mit den Zeitungen, da glaubt man ja auch nicht alles, was man liest.
Die mexikanische Regierung hat versucht, die Narcocorridos zu verbieten. Das scheint nicht zu funktionieren.
Nein, das hat sie seit den achtziger Jahren versucht. Aber selbst wenn es gelingen würde, die Musik in Mexiko zu verbieten, würde man die Songs über die Radiosender der USA empfangen können. Narcocorridos sind binational, wenn nicht international, sie sind ein Grenzphänomen. Das einzige, was die Regierung macht, ist, einzelne Songs, Zeilen oder Wörter zu zensieren. Das hat dazu geführt, dass es unter Jugendlichen als cool gilt, wenn man einen zensierten Narcocorrido besitzt. Zensur ist also wieder mal nach hinten losgegangen.