Aufarbeitung der Ära Franco

Nach dem Schweigen

Die spanische Justiz wagt sich derzeit mit spektakulären Initiativen an die Verbrechen des Bürgerkriegs und des Franco-Regimes heran. Wird der seit über 30 Jahren bestehende »Schweigepakt« über die Diktatur gebrochen?

Am 1. April 2009 wird sich das Ende des Spanischen Bürgerkriegs zum 70. Mal jähren. Bis zu die­sem Tag soll auf dem Friedhof von Palma de Mallorca ein Denkmal für die Opfer des Bürgerkrieges stehen. Dort werden die Namen von vielen ermordeten Antifaschisten der Insel zu lesen sein, deren Leichen in den Jahren 1936 bis 1939 meistens in Massengräbern in der Hauptstadt Palma sowie im östlichen Teil der Insel, in Manacor und Porreres, verscharrt wur­den. Diese drei Städte zählten während des Bürgerkriegs die meisten Opfer des franquistischen Terrors, der auf der Insel von Anfang an besonders hart war. Gleich nach dem Putsch im Sommer 1936 fiel Mallorca in die Hände der Franco-Truppen und blieb während des Kriegs ein wichtiger Stützpunkt der Franquisten, außer vereinzelten Aktionen gab es hier keine Widerstandsbewegung. Unter­stützung bekamen die Truppen des Generals auf der Insel insbesondere von den italienischen Faschisten. Vor allem ein Name ist auf Mallorca bekannt: Arconovaldo Bonaccorsi, auch »Conde Rossi« genannt. Der Italiener war berüchtigt für seine Brutalität, und mit seiner 2 500-Mann-Truppe verbreitete er während des Bürgerkriegs Angst und Schrecken auf der ganzen Insel. »Alle Roten gehören erschossen«, war sein Motto.
Dass es beim Inselrat im vergangenen Frühling überhaupt zu einer Abstimmung über die Errichtung eines Mahnmals kam, ist die »Asociación para la Recuperación de la Memoria Histórica de Mallorca« (Verein zur Wiedererlangung der his­torischen Erinnerung von Mallorca) zu verdanken. Seit Jahren setzt sich der Verein für die Aufarbeitung der Verbrechen während des Bürgerkriegs und der franquistischen Diktatur ein. Bisher hat man eine Liste mit 1 486 Namen von Opfern der Franquisten auf Mallorca erstellt. Die Vor­sitzende des Vereins, Maria Antònia Olivier, schätzt jedoch, dass es sich dabei nur um etwa die Hälfte der Personen handelt, die dem Terror des Franco-Regimes zum Opfer fielen.
Ende September wurde diese Liste dem spanischen Untersuchungsrichter Baltasar Garzón an der Audiencia Nacional, dem nationalen Straf­gericht, in Madrid übergeben. Garzón hatte einige Wochen zuvor angekündigt, die Hinterbliebenen von Opfern des Bürgerkriegs und der Franco-Diktatur bei der Aufklärung der Schicksale ihrer Verwandten juristisch zu unterstützen. In den ver­gangenen Wochen erhielt er von Vertretern zahlreicher Vereinigungen aus ganz Spanien Informa­tionen über mehr als 143 000 spanische desaparecidos (Verschwundene).

Die Opferverbände erwarten sich viel von dem ziel­strebigen Richter. Die Aufmerksamkeit der Medien haben sie sich erstmal gesichert, denn Gar­zón ist ein Name, der für Schlagzeilen sorgt. 1998 wurde er durch einen Haftbefehl gegen den inzwi­schen verstorbenen ehemaligen chilenischen Diktator Augusto Pinochet weltweit bekannt. Mit der Person des chilenischen Macht­habers brachte er damals eine ganze Epoche der Diktatur, der Folter und des Terrors auf die Anklagebank.
33 Jahre nach dem Ende der Diktatur in Spanien wagt sich Garzón nun an die Verbrechen des Franco-Regimes heran. Dabei geht es nicht nur darum, den Hinterbliebenen zu ermöglichen, die sterblichen Überreste ihrer Angehörigen aus den Massengräbern zu holen und ihnen würdige Ruhestätten zu geben. Zum ersten Mal seit der Wiedereinführung der Demokratie wird in Spanien um die politische Anerkennung der Opfer des Faschismus juristisch gekämpft. Garzón will herausfinden, wo es in Spanien Massengräber von Opfern der Diktatur gibt, wer dort begraben ist und unter welchen Umständen die Betroffenen zu Tode kamen. Er ordnete an, ein Verzeichnis der Opfer des Franco-Regimes anzulegen. Mit seinen Forderungen bricht er derzeit mehrere Tabus auf einen Schlag. Er wandte sich an staatliche sowie kirchliche Institutionen und forderte sie auf, ihre Archive zu öffnen. Insbesondere die mäch­tige Bischofskonferenz, der in Spanien rund 23 000 Pfarreien unterstehen, soll der Justiz Zugang zu ihren Unterlagen gewähren und alle Sterbeurkunden aus der damaligen Zeit offenlegen. Denn in den Archiven mancher Pfarreien, so vermutet der Richter, könnten sich auch die Namen der Hingerichteten befinden. Die Bischofs­konferenz hat sich erstmal für unzuständig erklärt, was kaum verwunderlich ist: Die katholische Kirche war eine der wichtigsten Stützen des Franco-Regimes.
Angestrebt ist zunächst eine »moralische Wie­der­gutmachung« für die Verfolgten des Regimes. Gleichzeitig arbeiten die Opferverbände mit Gar­zón an einem größeren Ziel: Sie wollen das Franco-Regime nachträglich des Völkermords und der Verbrechen gegen die Menschheit bezichtigen. Dass es so weit kommt, ist allerdings wenig wahr­scheinlich, zunächst aus juristischen Gründen. Experten vermuten, dass sich das nationale Straf­gericht für nicht zuständig erklären wird, denn Aufgabe der Strafjustiz ist es, die Schuld an konkreten Delikten abzuklären. Hier ist aber von Delikten die Rede, die mittlerweile verjährt sind, und von Tätern, die nach dem Ende der Diktatur ziemlich schnell amnestiert wurden.

Jahrzehntelang galt der so genannte Schweigepakt über die Verbrechen des Regimes. 1977, zwei Jahre nach Francos Tod, wurde im Namen der »nationalen Versöhnung« eine Amnestie für die Verbrechen zur Zeit der Diktatur erlassen. Dieses Gesetz war damals aus einem Pakt zwischen den politischen Parteien und den autoritären Institutionen hervorgegangen und bildete die Voraussetzung für den Übergang zur Demokratie. Das Regime ließ eine Demokratisierung zu, seine Vertreter wurden im Gegenzug von einer Strafver­folgung verschont. Während der Transición, der Periode des politischen Übergangs von 1975 bis 1982, diente dieses Schweigen über die Vergangenheit der Stabilisierung bestehender Machtver­hältnisse, was nicht nur für die konservativen Übergangsregierungen Ende der siebziger Jahren gilt, sondern auch für die sozialdemokratischen Koalitionen der Achtziger. Somit wurde die histo­rische Erinnerung jahrzehntelang eingefroren, in der Erwartung, dass sich ein »natürlicher« Pro­zess der Verdrängung in Gang setzen würde. Die franquistischen Strukturen bestanden im staatlichen Apparat fort, und Angehörige etwa des Militärs und der Polizei wachten über dieses kollektive Schweigen.
Bis Ende der neunziger Jahre war das gesellschaftspolitische Klima in Spanien durch den Wunsch geprägt, »keine alte Wunden wieder aufzureißen«. Dann begannen linke Parteien damit, Gesetzesinitia­tiven zur Rehabilitierung der Opfer des Bürgerkriegs und des Franquismus ins Leben zu rufen. In dieser Zeit entstanden landesweit Vereine zur Wiedererlangung der historischen Erinnerung und weitere lokale Initiativen, die müh­same Archivarbeit betrieben, Überlebende befragten und abseits vieler Friedhöfe nach Massengräbern suchten. Auf diese Weise war es möglich, rund 4 000 Leichen aus über 170 Fundstätten zu identifizieren.
Durch die Abwahl der Konservativen und den Wahlsieg der Sozialdemokraten 2004 bekam die geschichtspolitische Debatte neuen Schwung. An­fang dieses Jahres trat das »Gesetz zur Anerken­nung und Erweiterung der Rechte jener, die während des Bürgerkriegs und der Diktatur verfolgt wurden und Gewalt erlitten, und zur Festlegung von Maßnahmen zu ihren Gunsten«, kurz »Erinnerungsgesetz« genannt, in Kraft. Damit lieferte die von Ministerpräsident José Luís Rodriguez Zapatero geführte Regierung den institutionellen Rahmen für die Arbeit der bisher ausschließlich auf privater Basis betriebenen Opferorganisationen sowie für spektakuläre Initiativen wie die von Baltasar Garzón. Das Gesetz erklärt unter an­derem Urteile von franquistischen Militärtribunalen und Gerichten für illegitim (aber nicht illegal), sieht die Entfernung von Symbolen der Diktatur vor sowie das Verbot von Veranstaltungen zu Ehren des Franquismus. Die privaten Orga­nisationen werden bei der Identifizierung der Op­fer finanziell unterstützt.
Obwohl es sich hierbei nur um erste, vorsichtige Schritte handelt, den Schweigepakt zu brechen, ist die Debatte über die »alten Wunden« erneut entbrannt. Das Thema spaltet nicht nur die poli­tische Klasse, sondern auch die Gesellschaft und insbesondere die Hinterbliebenen. Denn auch manche Opfer haben Angst vor »bösen Erinnerun­gen«, und sie möchten den Umgang mit den Toten lieber von einer grundsätzlichen Auseinander­setzung mit dem Faschismus, seiner Ideologie und seinen Strukturen trennen. Noch ist die Debatte von der Rhetorik der »Verbrechen«, die »auf beiden Seiten« stattgefunden hätten, geprägt. Ein Zeichen dafür, dass der Schweigepakt längst noch nicht gebrochen ist. Die Forderung nach Ge­rechtigkeit wird in der Öffentlichkeit oft mit dem Wunsch nach »Versöhnung« gekoppelt. Dies lässt befürchten, dass der von oben gesteuerte Erinnerungsboom, den Spanien derzeit erlebt, die ge­sellschaftliche Auseinandersetzung mit der faschistischen Vergangenheit eher erschweren und höchstens zu einer »gerechten Versöhnung« führen wird.