Die Insel und das Ich

Reif für die Insel

Die Insel könnte ein behaglicher Rückzugsort sein. Tatsächlich ist sie der Ausgangspunkt von Eroberungen und Missionen. Das hat sie mit dem Ich gemein.

Gesetzt, es gibt eine Insel, die es an nichts mangeln lässt. Dann sollten ihre Bewohner doch keinen Grund haben hinauszufahren. Sie sollten also mit Bewohnern anderer Inseln kaum und mit denen des Festlandes gar nicht in Berührung kommen. Folglich erwecken sie weder den Neid von andern, noch können sie selbst Neid auf de­ren Güter empfinden. Sie kennen nur das, was sie besitzen, und es ist ihnen genug. Sie müssten die friedlichsten Menschen sein, die sich denken lassen.
Joseph Joubert hat das geglaubt. »Glücklich die, die die Inseln bewohnen. Das Meer, das sie umgibt, ist eine Grenze, die die Natur jeder Begehrlichkeit gesetzt hat. Entfernt vom Kon­tinent, haben sie überhaupt keine Eroberer zu befürchten. Umgeben von Inseln gleich den ihren, haben sie noch viel weniger zu befürchten, in die Versuchung zu geraten, selbst erobern zu wollen. Eingefriedet in ihr Gebiet, haben sie nichts Besseres zu tun, als gut und ruhig zu sein, wie es Menschen immer da sind, wo sie unabhängig und unumschränkte Beherrscher eines begrenzten Landes sind.«
Joubert spricht hier auch pro domo. Während seine Freunde von Diderot bis Chateaubriand mit spektakulären Schriften und Taten wirkten, blieb er auf seinem Landsitz, meist im Bett, und ließ seine Gedanken schweifen. Nie hat er ir­gend­etwas veröffentlicht. Keine berühmten Taten sind von ihm überliefert. Selbst seine Liebschaften blieben keusch. Man könn­te sagen, er war der egoistischste und zugleich friedlichste Mensch seiner Epoche, ein »Robinson pensif«, wie Paul Valéry über sich selbst sagen sollte.
Doch scheint es, dass hier nur einer auf die Insel zurückgekehrt ist, der der Kreuzzüge überdrüssig wurde. Der Beweis ist leicht geführt: Hätte Joubert nicht gewusst, was draußen droht, hätte er auf seiner Insel nicht zufrieden sein Ich kultivieren können. Wären jedoch er oder seine Leute nie­mals draußen gewesen, hätten sie das Ich-Sagen gar nicht erlernt. Das Pronomen »Ich«, mithin das Handeln auf eigene Faust, sei, behauptet der Kulturtheoretiker Franz Borke­nau, eine Erfindung von Insulanern, die zur See fuhren.
Seine Argumente mögen historisch bedenklich sein, aber behalten doch ihre psychologische Gültigkeit. »Die See ist die große Freiheitsbringerin«, schreibt er, und die Fahrt hinaus sei die Voraussetzung für das autonome Ich. Denn damit die alten Iren und andere ihre Insel verlassen konnten, musste sich der Einzelne aus dem Familienverband lösen, und nur diese Ablösung erlaubte es den Aufbrechern, in »ein neues stolzes Ich-Bewusstsein« zu segeln. Das führte zu den bekannten Folgen; kaum sind Ich und Du voneinander geschieden, schlagen sie sich gegenseitig die Köpfe ein. Doch weshalb war es überhaupt nötig, die Insel zu verlassen? Nehmen wir an, der Haussegen hing schief.
Was die Logik der Insel betrifft, gelangen wir dadurch zu einem überraschenden Schluss: Vor dem Imperialismus gibt es die Insel gar nicht. Jedenfalls nicht als Idee. Den selbstzufrieden im Schoße ihrer Familien Lebenden wird es nicht bewusst gewesen sein, dass sie ein Stück Landes bewohnen, welches von der ganzen Welt abgesondert ist. Weil sie von der Welt nichts wussten, wussten sie auch nichts von sich. Vor der blutigen Begegnung mit dem Du gibt es auch kein Ich. Aber sobald die Schlachten geschlagen, die Missionen erledigt und die bittersten Niederlagen kassiert sind, kann sich das Ich, das sich in all diesen Querelen hat bilden müssen, auf eine Insel zurückziehen. Das ist alles Mögliche, narzisstisch, egoistisch, kindisch, spießig, vorsichtig, weise, aber eines bestimmt nicht: unschuldig. Mag sein, dass von der Insel dann keine Gefahr mehr droht, aber bevor sie nicht die halbe Welt mit Schwert und Bibel heimgesucht haben, können die Insu­laner nicht Insulaner sein.