Die Krise, die Linke und der Staat

Die da oben

Was macht eigentlich die Apo? Mit einer Mischung aus Faszination und Schrecken beobachten Linke die Krise des kapitalistischen Finanz- und Wirtschaftssystems. Sollen sie dem Staat die Daumen drücken, dass er die Krise meistert, oder ist jetzt höchste Zeit für Protest und Widerstand – und wenn ja, gegen wen?

»Die da oben zocke’, und mir kleine Leut’ müsset zahle’«, schallt es aus dem Megaphon in der Freiburger Innenstadt. Die kleine Montagsdemo, die sich hier wöchentlich »gegen Hartz 4« richtet, sorgt sich sehr angesichts der Finanzkrise. »Dabei häm’ mir so viel arme Leut’ – im eigene’ Land, im eigene’ Land!« beklagt sich einer der Langzeitarbeitslosen, die sich an Megaphon und Trillerpfeife abwechseln, um trotz der nur rund einem Dutzend Teilnehmer zumindest ordentlich Lärm zu schlagen, als sei hier geballter Volkszorn auf der Straße.
»Ich bin obdachlos, ich brauche ein Rettungspaket«, hat ein Wohnungsloser auf ein Pappschild am Straßenrand geschrieben. Ungerührt kommentiert eine ältere Passantin: »Die hän’ doch eh kei’ Geld uff der Bank, die könn’ a’ nix verliere’.« Aber dem Redner, der jetzt das Megaphon übernommen hat, stimmt sie nickend zu. »Wir brauchen Politiker, die bürgernah sind«, ruft der und fügt leiser, fast seufzend hinzu: »Und Disziplin, vor allem viel Disziplin.«

Da sind sich Habenichtse und Sparer jetzt einmal einig. »Da spart man jahrelang, legt sei’ Geld gut an mit richtig hohe’ Zinse’, und dann isch alles weg. Des kann doch net sei’!« sagt die Dame am Rande der Arbeitslosenkundgebung. »Der Staat muss die Bänker endlich ordentlich an die Kandare legen! Die hän’ sich schamlos bereichert!« Jetzt würde die grauhaarige Dame, die die protestierenden Arbeitslosen lieber aus der Ferne mustert, vielleicht Attac beitreten. Von Attac ist aber leider gerade keiner da.
Am Weltspartag, der traditionell jenen Sparern gilt, die mit »richtig gute’ Zinse’« auf ihr Häusle sparen, und nicht jenen, die sparen und dennoch nie aus dem Dispo kommen, war Attac dafür vor dem Bundesfinanzministerium zur Stelle. Unter dem Motto »Nicht auf unsere Kosten – Die Profiteure sollen zahlen!« demonstrierten sie gegen das »neoliberale Finanzmarktsystem«, in dem in fernen spekulativen Höhen die »Gier und Skrupellosigkeit der Banker und Fondsmanager« aus den braven Bausparern, die doch auch nur gute Zinsen wollen, bald arme Arbeitslose macht.
Die Demonstration am Weltspartag »war keine bewusste politische Symbolik«, meint Pedram Shahyar von Attac im Gespräch mit der Jungle World. »Das war einfach eine Art PR-Gag«, auch wenn seiner Meinung nach die Krise für die Bewegungslinke eine Chance sein könne, »da nicht nur die Hartz-IV-Empfänger betroffen sind, sondern auch Leute, die ein bisschen was auf der Bank haben«. Auch sein Attac-Kollege Alexis Passadakis hält die Krise, »abgesehen von den möglichen bzw. existierenden Katastrophen, die sich aus der Finanzkrise ergeben«, für eine Chance, »da durch sie der öffentliche Raum für linke Argumente größer geworden ist«.
In der Tat hat sich der »Raum für linke Argumente« erheblich ausgedehnt, jedenfalls wenn man jene von Attac zum linken Maßstab erklärt. Im Bild-Interview fordert der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering wie Attac einen »TÜV« für Finanzprodukte und verlangt, die »verantwortungslosen Finanzjongleure« »zur Verantwortung« zu ziehen. Die SPD habe mit »ihren jahrelangen Forderungen für mehr Transparenz und schärfere Regeln für die internationalen Finanzmärkte« eine Politik »auf der Höhe der Zeit« betrieben, lässt Müntefering wissen, denn eigentlich, so sieht man, waren die Sozialdemokraten schon immer Attac. In Zeiten von Finanzkrisen war natürlich aber auch die CDU schon immer Attac – beziehungsweise SPD. »SPD-Papier greift Positionen der Union auf«, titelt die CDU auf ihrer Homepage. Im 14-Punkte-Programm der SPD gebe es Vorschläge, »die wir seit einiger Zeit auch schon formuliert haben«, wird Unionsfraktionschef Volker Kauder dort zitiert.

Alles »Lippenbekenntnisse« und »Verbalradikalismus«, klagen Alexis Passadakis und Pedram Shahyar von der Attac-Bewegung, die das Original der eigentlich doch originär sozialdemokratischen Rhetorik für sich beansprucht. »Die Deregulierungen unter Rot-Grün sind verantwortlich für die jetzige Krise und die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich«, sagt Passadakis, wenn man da jetzt mehr Staat fordere, werde »der Bock zum Gärtner gemacht«. Attac fordere deshalb gar nicht die Verstaatlichung, sagt Pedram Shahyar, denn Verstaatlichung sei »genauso ein Modell westlicher Hegemonie wie jetzt etwa Sarkozys Verstaatlichungspläne«. Verstaatlichung per se ziele »nicht auf Demokratisierung oder mehr Gerechtig­keit« und sei »kein historischer Fortschritt«.
Wer aber soll es richten, wenn nicht der Staat, fragt sich derzeit die in den Anfängen der Staatskritik steckende Bewegungslinke. »Es braucht in vielen gesellschaftlichen Bereichen grundsätzlich andere Formen von Demokratie, das ist klar«, meint Passadakis, »aber ebenso klar ist, dass man für Steuerung und Regulierung diesen Staatsapparat braucht, der nun mal gerade jetzt eben da ist.« Und der Staat, der jetzt nun mal da ist, »wird uns wohl noch eine ganze Weile begleiten«, prinzipielle Staatskritik hin oder her. Auch den drei linken Politikprofessoren Wolf-Dieter Narr, Peter Grottian und Roland Roth fällt in einem gemeinsamen Text in der Linkszeitung bezeichnenderweise nichts anderes ein, als einerseits dem linken Ruf nach dem Staat eine kritische Absage zu erteilen und doch paradoxerweise zugleich einen »marginalen«, »hilflosen« und »wirtschaftspolitisch inkompetenten« Staat zu beklagen.
Die typische Angstlust, die sich bei Linken angesichts von drohenden Wirtschaftskrisen reflex­­artig einstellt, scheint auch deshalb mit tiefer Ratlosigkeit gepaart, weil die Bewegungslinke ihre eigene Ideologie vom »neoliberalen Finanzkapitalismus« selbst nicht mehr recht zu glauben scheint. Die Banken hätten sich auf der »Suche nach immer höheren Renditen« von einer »Dienst­leistungsrolle für die Realwirtschaft« gelöst und damit den Kollaps des ganzen Finanzsystems riskiert, schreibt Attac auf der Home­page, als sei das Renditestreben eine »neoliberale« Perversion an sich selbstloser Geldverleihanstalten. »Auf einer gewissen Ebene gibt es natürlich keine Trennung, der Boom der letzten Jahre beruhte auch auf den Finanzmärkten«, sagt dagegen Passadakis der Jungle World. »Das ist eine Frage der Argumentation, die man manchmal benutzt und manchmal eben nicht.« Und wenn es darum geht, badische Bausparer für Attac einzunehmen, ist die Argumentation einfach zu praktisch, um sie aus dogmatischen Gründen zu verwerfen: »Hämma so a Fonds g’het mit richtig gute’ Zinse’, und dann hän’ die Bänker des ei’fach verzockt!«

Wenn vom Staat keine Hilfe mehr zu erwarten ist, bleibt die Anrufung der aktionistischen Bewegung. »Angesichts dieser staatlich-kapitalistischen Einfallslosigkeit müsste die Stunde außerparlamentarischer Kritik und Vorschläge schlagen«, schreiben Wolf-Dieter Narr und Kollegen. »Gut begründete Forderungen könnten mit Aktionen in den Reichtumszonen der Republik verbunden werden«, lassen die Professoren ihren Artikel im aktionistischen Nebel auslaufen, ohne ihren Studenten zu verraten, wer hier eigentlich noch was von wem fordern soll und was dann im Grune­wald oder am Wannsee eigentlich vernünftigerweise anzustellen sei.
Alexis Passadakis meint, der Zuwachs der Bewegungslinken sei gemessen am Ausmaß der Krise noch vergleichsweise klein. Aber die Krise sei in Deutschland ja auch noch nicht mit voller Kraft angekommen: »Wir sind gespannt, wie es im nächsten Jahr werden wird, wenn die Wirtschaft schrumpft und Leute entlassen werden. Da werden sich wahrscheinlich noch andere Dynamiken entwickeln.«
Zehntausende Schwaben, die vorige Woche noch bei Benz schafften und gestern erst ihre Spar­einlagen, ihren Arbeitsplatz, ihre Häuser verloren, bewegen sich in einem großen Demonstrationszug mit Mistgabeln bewaffnet auf die Stuttgarter Börse zu und können von den Sondereinsatzkommandos der Polizei nicht länger aufgehalten werden – stopp! Man mag sich derlei irreale Szenarien aus ethischen, politischen und ästhetischen Gründen lieber gar nicht ausmalen. Stellen wir uns das Szenario der »Krise als Chance« lieber realistischer und vor allem unblutig vor: Baden-Württembergs Bausparer stürmen wie jüngst Attac die Börse, werfen Flugblätter von der Tribüne und verhüllen den Dax mit Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit: Viva la revolución!