Felix Baum, Diedrich Diederichsen, Christiane Ketteler, Magnus Klaue, Kolja Lindner, Cord Riechelmann und Stefan Ripplinger haben sich gemeinsam drei DVDs angesehen

Auf die See gestarrt

Alexander Kluges »Nachrichten aus der ideologischen Antike. Marx – Eisenstein – Das Kapital« wird als Verfilmung der drei blauen Bände des Marxschen »Kapital« beworben. Um was es sich bei dem auf drei DVDs erschienen Film wirklich handelt, darüber unterhielten sich bei einer Vorführung in der Jungle-World-Redaktion die Autoren Felix Baum, Diedrich Diederichsen, Christiane Ketteler, Magnus Klaue, Kolja Lindner, Cord Riechelmann und Stefan Ripplinger.

Kolja Lindner: Aus marxistischer Perspektive ist der Film ziemlicher Unsinn. Da fliegen Zitate durcheinander und da wird systematisch Falsches erzählt. So ist beispielsweise von der »Arbeit der toten Geschlechter« die Rede, wo Marx von der »Tradition der toten Geschlechter« spricht. Da lesen Schauspieler unter dem Datum »Sibirien, Januar 1918« aus Marx’ »Grundrissen«, wo die doch erst zwischen 1938 und 1941 veröffentlicht wurden.
Die Interviewpartner interessieren sich lediglich für die interessanten Metaphern im Marxschen Werk, mit denen sie ästhetisch etwas anfangen können. Was aber theoretisch und politisch dahinter steckt, geht ihnen vollkommen ab. Da ist das Interview mit Lucy Redler schon die einzige Ausnahme, die wenigstens noch von Klassenkäm­pfen spricht.

Stefan Ripplinger: Die Metaphern im »Kapital« sind ja nicht völlig uninteressant. Jacques Derrida beispielsweise hat etwas damit anzufangen gewusst. Die Beschäftigung mit den Metaphern ist kein Argument gegen den Film, den ich allerdings für misslungen halte. Die Frage ist, was könnte man in einem Film machen, und dafür müsste man die Metaphorik untersuchen.

Magnus Klaue: Es gibt im »Kapital« den Zweifel an Visualisierung und an Sichtbarem, die ganze Metaphorik der Täuschung und Verzauberung, sowie auch diese Schauspielmetapher, die darauf hinweist, dass die sichtbare Welt immer als etwas betrachtet wird, was einerseits gegeben ist und was man nicht überspringen kann, was aber gleichzeitig verkehrt ist und nicht unmittelbar die Verhältnisse abbildet. Und da gäbe es tatsächlich jede Menge Anknüpfungspunkte, um ein filmisches Verfahren zu entwickeln.
Aber das Montageprinzip in der Verbindung von Text und Film wird von Kluge viel harmloser verwendet, als man es beispielsweise von Jean-Luc Godard kennt. Da haben die Texttafeln eine Eigenständigkeit, durch die eine viel stärkere Zerstückelung der Kontinuität entsteht. Bei Kluge paraphrasiert der Text nur das, was anschließend in den Interviews besprochen oder in seinen Film- und Bilderversuchen gezeigt wird. Das ist nur Lesetext, zäh und langweilig.
Und was macht er eigentlich mit der Referenz auf Sergej Eisenstein? Es ist ja nicht so, dass das Prinzip, das Eisenstein anwenden wollte, um das »Kapital« zu verfilmen und das Kluge halbwegs er­läutert, irgendwelche Folgen für Kluges Film hätte. Kluge unterhält sich einfach mit verschiedenen Leuten über Eisensteins Projekt. Damit historisiert und neutralisiert er nur alles.

Felix Baum: Der Ärger fängt schon beim Titel »Nach­richten aus der ideologischen Antike« an. Da liest Kluge die Stelle aus den »Grundrissen« vor, wo Marx die Frage stellt, warum die Kunstwerke der alten Griechen uns immer noch so viel zu sagen haben. Analog dazu hat Kluge den Anspruch, in der Marxschen Antike herumzubohren, um dort etwas zu finden, das uns noch etwas zu sagen hat. Aber genau diesen Anspruch löst der Film auf keiner Ebene ein. Entgegen der Ankündigung fehlt dem Film jeder Fokus, er ist lediglich eine vollkommen zusammenhanglose, willkürliche Aneinanderreihung von meist bestürzenden Interviews. Kluges Anspruch war es sicher nicht, Eisensteins Projekt zu realisieren, das »Kapital« zu verfilmen, sondern eher eine Re­flexion über diesen Versuch zu machen. Aber an den Stellen, an denen der Film eine filmische Über­setzung versucht, benutzt er durchgängig Klischees. Es soll um die Arbeit und den Produktionsprozess gehen, und man sieht moderne Fließ­bandfertigung in einer hypertechnischen Werks­halle. Im Beitrag von Tom Tykwer soll die Warenform Thema sein, dabei werden nur Dinge und deren Produktionsgeschichte vorgestellt, die gesellschaftliche Form taucht gar nicht auf.
Die vielzitierte »neue Suhrkamp-Kultur« dockt mit dieser DVD an die vermeintliche Marx-Renaissance an, also kommen Leute wie Peter Sloterdijk oder Joseph Vogl zu Wort, der offenkundig nie eine Zeile von Marx gelesen hat. Wer das Feuilleton­spektakel nicht mag, kann das mit einer gewissen Schadenfreude verbuchen, weil sich das Milieu der professoralen Meisterschwätzer vollkommen blamiert – vorausgesetzt natürlich, der Zuschauer hat auch nur eine grobe Kenntnis von Marx. Dieses frei delirierende Zeug von Vogl über das »Menschrecht der Dinge«, da fragt man sich, worüber der Mann redet. Sicherlich nicht, wie der Film behauptet, über die Marxsche Theorie.

Cord Riechelmann: Ich sehe das auch so, aber ich würde Joseph Vogl trotzdem in Schutz nehmen, auch wenn er nie einen Satz Marx gelesen haben sollte. Es geht jedoch darum, eine Technikkritik fortzuschreiben und diese Technik nicht in Wert zu setzen, sondern anders und mit Martin Heidegger zu denken. Und das in der Fortführung von Gilles Deleuze und Bruno Latour. Das kannst du jetzt feuilletonistisch nennen, aber das Interview mit Vogl ist wahrscheinlich noch das Interessanteste an dem ganzen Film, weil mir das am we­nigsten historizistisch vorkam.

Ripplinger: Aber warum redet Vogl nicht über Geld, er hat doch ein Buch darüber geschrieben?

Diedrich Diederichsen: Den Leuten wurde natürlich irgendwas vorgelegt, über das sie reden sollen. Das heißt nicht unbedingt, dass das alles ist, was die Betreffenden dazu zu sagen hätten. Und dazu kommt diese besondere Situation, die man aus anderen Interviews von Kluge kennt. Ich erinnere an das wahnsinnige Interview mit Spike Lee, wo Kluge ihm eine halbe Stunde einzureden versucht, dass der Film »Summer of Sam« eine Paraphrase bestimmter italienischer Opern sei. Spike Lee hat immer wieder nachgefragt, ob er Kluge richtig verstanden habe.
Der Ansatz von dem ganzen Projekt wird tatsächlich in dem Titel »Ideologische Antike« deutlich. Wir sind sozusagen in der nächsten historischen Epoche. Was uns von denen unterscheidet: Die hatten Ideologie und wir nicht mehr. Deswegen gucken wir das alles ganz anders an, deswegen fragmentieren, neutralisieren oder dekonstruieren wir. Wir sind in einer komplett anderen Welt und spielen uns die Motive vor, als wäre das alles ein Traum gewesen, den wir uns jetzt aus einer wie auch immer bestimmten neuen Wachheit heraus angucken.
Diese Methode von Kluge, mit Textunterbrechungen zu arbeiten, ist problematisch. Schließlich hat er doch diese Herangehensweise als Film- und teilweise auch als Fernsehmacher im Zusammenhang mit monolithischen Blöcken und monolithischen Objekten entwickelt, um etwas in sich Homogenes aufzulösen. Jetzt setzt er diese Methode auf ein Material an, das er von vorn­herein schon als einen Haufen Fragmentscherben konstituiert hat. Auf etwas, das man sich von vorneherein schon als heterogen zurechtgelegt hat, noch mal mit der Heterogenisierungsmethode zu gucken, funktioniert natürlich nicht.
Mehr als die Verfehlung von Marx stört mich die Verfehlung von Eisenstein. Da wäre mehr drin gewesen. Ich würde sogar so weit gehen, dass man aus Eisensteins Plänen und Ideen eine Gegenüberstellung von Eisenstein und Hollywood hätte rausarbeiten können, wie im bipolaren Zeitalter der Entwurf einer anderen Kulturindustrie, einer anderen Art Massenkultur entwickelt wurde, die natürlich nur sehr fragmentarisch erarbeitet worden ist. Das hätte darin gipfeln können, dass, so wie Hollywood zwanzig Mal die Bibel verfilmt hat, in einer anderen Geschichte mit einer anderen Massenkultur das »Kapital« zwanzig Mal hätte verfilmt werden können. Frieda Grafe hat ein paar Ansätze in diese Richtung entwickelt.
Zu der Auswahl der Gesprächspartner, das ist natürlich Suhrkamp-Politik. Und das ist keine Verschwörungstheorie, Suhrkamp ist ein Milieu und ein Geldgeber. Durs Grünbein würde doch sonst normalerweise weder als Eisenstein- noch als Marx-Experte befragt werden.

Christiane Ketteler: Die Machart des Films ist symptomatisch für eine bestimmte ideologische Verschiebung in der Gegenwart. Themen, die politisch brisant waren, werden in den Kultursektor abgezogen und dort feuilletonistisch kaltgestellt. Diese Marx-Renaissance, die ausgerufen wird, ist hier eher eine Verrätselung. Im Film bekommen wir weder eine Auseinandersetzung mit Marx’ Kapital noch mit dem Marxismus. Wenn Joseph Vogl beispielsweise vom »Menschenrecht der Dinge« spricht, dann affirmiert er jenen Fetischismus, den Marx kritisieren wollte, dass das gesellschaftliche Verhältnis als eine Eigenschaft von Dingen erscheint. Zu Vogls juristischer Adelung von Zauberländern passt die vollkommene Aussparung politischer Bewegungen in Kluges Film. Das ist eben der ideologische Zugang der Ge­genwart und der Film ein Dokument ihres ideolo­gischen Unbewussten, Nachrichten aus der ide­ologischen Moderne.

Klaue: Gerade Eisenstein hat sich mit einer Ästhetik der Masse beschäftigt, aber Kluge präsentiert hier nur ganz schlechten Individualismus. Da werden große Subjekte vorgeführt, die wie in jedem Fernsehinterview autoritativ Auskunft geben.

Diederichsen: Dass da Subjekte Auskunft geben, finde ich völlig legitim. Wenn man es hier mit einem Materialienband zu tun hätte und nicht mit der Sache selbst, hätte ich nichts dagegen, dass Leute sprechen, die mit einer Glühbirne beleuchtet sind, womit dieses Autoritäre ja auch leicht ironisiert ist. Aber für einen Materialienband ist das Ganze zu ungenau. Natürlich haben Dietmar Dath und Sloterdijk unterschiedliche Positionen zu Marx, aber sie treten hier nicht als Kontrahenten an, sondern nur einer nach dem andern. Die Assoziation freier Individuen heißt ja nicht, dass alle endlos nebeneinander in einer parataktischen Kette stehen und auf die See starren. Und dann diese kalauerhaften Bebilderungen, die eben kein Material liefern. Zehn Stunden Material liefern über das, was das Kapital und die Idee von Eisenstein heute sein könnten, wäre ja noch ein ehrenwertes Anliegen.

Baum: Oskar Negt, mit dem es mehrere Interviews zu sehen gibt, hat in den siebziger Jahren genau über solche Fragen gearbeitet und bis heute Brauch­bares über Sowjetmarxismus ge­schrie­ben. Aber da sitzt Negt, und die Frage, in welchem ideologischen Kontext Eisenstein marxistischer Filmemacher war, taucht überhaupt nicht auf. Welches Verständnis hat Eisenstein vom »Kapital« gehabt? Worauf wäre es von der politischen und theoretischen Seite aus hinausgelaufen? Es konnten sich ja noch bis in die Stalin-Ära hinein kritische Marxisten in Moskau halten, und es wäre in­teressant gewesen, Eisenstein in dieser Entwicklung zu verorten, die schließlich mit der Hinrichtung der radikalen Köpfe endete. Aber das geht alles unter in diesen zusam­menhanglosen, frei galoppierenden Stichworten, wo jeder sagt, was ihm gerade in den Sinn kommt.

Lindner: Der Film diskutiert überhaupt nichts. Da widersprechen sich Leute explizit, aber dass Dath Marx einen Sophisten heißt und Sloterdijk nicht, fällt Kluge überhaupt nicht auf, wird nicht thematisiert.

Ketteler: Das ist aber die Pädagogik, auf die Kluge vertraut, dass der Film das schon macht. Das Publikum wird diese Differenzen schon aufnehmen und synthetisieren. Nur der Begriff Sophist sagt schon gar nichts mehr. Man müsste sich schon thematische Begriffe oder Stränge überlegen, an denen der Zuschauer sich abarbeiten kann, aber die fehlen eben ganz. Kluge hat sein altes Konzept der Essayform durch die Taktik ersetzt, jeden Zusammenhang zu zerstören.

Riechelmann: Man hätte Joseph Vogl beispielsweise sehr konkret nach Gespenstern fragen können. Dazu muss er Marx nicht gelesen haben, weil er das Buch »Marx’ Gespenster« von Derrida kennt. Und deshalb würde ich auch sagen, das ist eben nicht frei galoppierend. Im Gegenteil, die Methode, die Kluge anwendet, ist nicht frei, sondern autoritär.

Baum: Derrida ist doch das Musterbeispiel für frei galoppierenden Irrsinn über Marx. Er fischt sich das Wort »Gespenst« aus Marx’ Schriften, um an ihrem Gehalt vorbeizuphilosophieren. Insofern fehlt er tatsächlich in diesem Film.

Diederichsen: Es leiden sogar die richtigen Sätze unter der Methode von Kluge. Denn selbst Sloterdijk sagt einmal was Richtiges, nämlich über die Gebrauchswertromantik, wo er die Vorstellung einer reinen Gebrauchswertwelt kritisiert. Es werden aber nicht nur die Gegensätze zwischen den Personen, sondern auch die Widersprüche bei einer Person wie Sloterdijk nicht thematisiert.

Klaue: Im Zusammenhang mit Eisenstein wäre interessant, wie man Widersprüche im Film darstellt, wie man die Entwicklung von Gedanken in Bildern ausdrückt und eben nicht, indem irgend­welche Leute ihre Gedanken in Worte fassen. Bei Godard oder Eisenstein wird an der Form gearbeitet, bei Kluge ist es nur Illustration. Beispiels­weise diese Bilder von Studenten im Hörsaal 1967, wo einfach nur das Wort »Öffentlichkeit« drunter steht. Soll das Parodie sein, ist es nur noch als Hohlform gemeint oder doch ganz ernst?

Diederichsen: Ich glaube, die Idee ist wirklich, dass recht zu haben, verschiedene Meinungen zu haben, aus der Zeit der ideologischen Antike stammen, und dass es so etwas bei uns nicht mehr gibt. Aber selbst wenn man diese Position, so haltlos man sie finden mag, ernst nehmen würde, dann müsste man doch wenigstens versuchen, die Gesetze und Aussagebedingungen der Zeit, in der wir jetzt leben und reden, klarmachen. Wenn man alles nur laufen lässt, weiß man nicht mehr, wie die Distanz zwischen uns und der Antike messbar ist.

Ripplinger: Kluge scheint sich jedenfalls in der Ge­genwart sehr unwohl zu fühlen und hat immer das Bedürfnis, sie ein wenig mythologisch anzureichern. Er muss immer wieder betonen, dass James Joyce ein blinder Dichter war. Was das bedeutet, führt er nicht aus und auch nicht, was er mit seinem Homer will. Es gibt doch viele blinde Dichter. Kluge muss das zu einer mythologischen Figur verdichten, aber es führt nicht weiter. Das ist kein interessanter Umgang mit der Mythologie. Uwe Nettelbeck hat über die Fernseh­sendungen Kluges gesagt, sie erinnerten ihn an von der Steuer abgesetztes Kunstgewerbe in den Wartezimmern von Zahnärzten.

Ketteler: Ich weiß nicht, ob man Kluge soviel Mys­tizismus unterstellen sollte, aber es scheint mir ähnlich wie eine spezielle Rezeption von Joyce, eben genau diese Vorstellung, die besagt, dass egal von welchem Punkt aus man beginnt, wenn man alles nur konsequent nicht reglementiert, dann schießt automatisch eine Totalität zusammen. Das ist eine Art von Mystizismus, der den verrückten kapitalistischen Verhältnissen nicht recht Paroli bieten kann.

Baum: Wie Kluge Geschichte heran zitiert, ist auch bei dieser oberflächlichen Analogie von Rosa Luxemburg zu Lucy Redler peinlich. Da folgt auf einen kurzen Block über Luxemburg ein Interview mit Redler, die Mitgliederzahl des Spartakusbundes wird mit der der Trotzkistensekte verglichen. Der Rückbezug auf die Revolutionsgeschichte erfolgt also über Redler, die als Reinkarnation von Luxemburg auftritt.

Riechelmann: Das Problem an diesem Film ist Kluges offensiv gestalteter Einstieg in das Privatfernsehen, der sich hier als Anbiederei an den Produktionsprozess der Privaten entpuppt, und der ist zuerst antidiskursiv. Kluge sagt beispielsweise die ganze Zeit, dass alles, der ganze Homer bei Joyce drinsteckt. Aber da ist auch tausend Mal mehr drin. Mit Walter Benjamins Tigersprung ins Vergangene wird das Verlangen vergegenwärtigt. Und das passiert hier überhaupt nicht. Es gibt überhaupt keine Vergegenwärtigung von Marx.

Diederichsen: Kluge glaubt wohl schon, dass das Benjamin ist, was er da macht. Und das Problem ist, dass man jahrzehntelang lesen konnte, dass Benjamin ein marxistischer Mystiker ist. Das hat er sehr ernst genommen, und irgendwann hat er das marxistisch gestrichen. Und Benjamin ist ja auch berühmt dafür, dass er nichts zu Ende gemacht hat. Dieser Nebenaspekt von Benjamin wird bei vielen seiner Fans normativ. Dass der arme Kerl es einfach nicht geschafft hat, wird plötz­lich seine große Leistung.

Riechelmann: Und das Passagenwerk wird zum Hauptwerk, nicht die geschichtsphilosophischen Thesen.

Ketteler: Es wirkt so, als würde es nichts anderes mehr geben, als diese fragmentierte Art und Weise zu reden. Dabei hätte Kluge doch sagen können, Eisensteins Pathos die Massen zu leiten, gefällt mir nicht oder ist aus historischen Gründen nicht mehr möglich. Denn Kluge hat sich mal sehr genau mit Eisenstein auseinandergesetzt. Er hat ihn als Dompteur kritisiert und behauptet, er selber wolle kein Dompteur sein. In diesem Film allerdings geht das nicht auf. Er wirkt hier nur noch als senile Autorität, die die anderen ständig unterbricht.

Lindner: Mit der Vorstellung einer Assoziation, die irgendwo beginnt und auf Totalität schießt, hätte man etwas machen können. Marx geht doch genau umgekehrt vor, bei ihm gibt es keinen kontingenten Anfang. Kluge aber assoziiert nicht, um Totalität zu erschließen. Er läuft ins Nirgendwo.

Riechelmann: Ins Nirgendwohin würde ich nicht sagen. Kluge glaubt schon, dass er jetzt keine Ideologie mehr macht, und das ist die Ideologie. Für mich wirkt das so wie die Rekonstruktion seiner eigenen Autorität. Das Buch »Geschichte und Eigensinn«, das er mit Oskar Negt geschrieben hat, ist das ganze Gegenteil. Man kann sagen, dass der Eigensinn seiner Geschichte sich bei ihm durchgesetzt hat.

Baum: Ob Kluge überhaupt einen Begriff von Ideologie hat?

Ripplinger: Die Ideologie des Films fängt schon mit der Gestaltung der Zwischentitel an. Dass die Wörter so aussehen müssen, wie sie sein sollen. Und das setzt sich in der illustrativen Bebilderung von Sätzen und Ideen bis hinein in die Gespräche fort.

Diederichsen: Diese Stilisierung der Wörter, wenn er bestimmte Typografien zitiert, hält er natürlich für Ironie. Aber das hat sich längst verselbständigt. Das ist im Grunde das, was schlechte Grafiker auszeichnet, dass sie den Artikel auch mal lesen wollen, den sie gestalten, und etwas Schreckliches mit einer zerrissenen Schrift illustrieren. Da Kritik nicht mehr möglich ist und daher die Unterscheidung zwischen Ironie und ernstem Sprechen auch nicht mehr, erscheint das dann wie eine Verlautbarung, von der sich Kluges Ironie nicht mehr abheben kann.

Ripplinger: Das ist die Logik aller Ironie, sagt Paul de Man. Die Ironie muss sich immerzu selbst überbieten, wenn nicht, fällt sie zurück auf das Eigentliche.

Klaue: Deswegen sind außer Helge Schneider die Personen, die interviewt werden auch personifizierte Charaktermasken. Die stehen nur für irgendwas, ihre Geschichte wird gar nicht erzählt, wie sich beispielsweise Sloterdijk im Laufe seines Lebens zum Marxismus verhalten hat.

Diederichsen: In der Zeit, als alle anderen Linke waren, war Sloterdijk bei Bhagwan. Robert Misik hat ihn einmal in einem Interview gefragt, ob das bei ihm auch so gewesen sei, wie bei Leuten mit einer linken Vergangenheit, von denen man sagt, dass ihr Denken von der Struktur der Gruppe geprägt sei, in der sie zuerst waren. Einmal Trotzkist immer Trotzkist. Ob man also bei ihm sagen könnte, einmal Bhagwan immer Bhagwan. Und das hat Sloterdijk bejaht.

Richelmann: »Ja« ist gut! Wenn Dietmar Dath in dem Interview immer »Ja, ja ja« sagt, bekommt der wenigstens noch eine gute Mimikry hin. Aber kommt eigentlich in irgendeinem Interview irgendwann mal ein »Nein« vor? Also der Film von Kluge ist das ganz große Ja. Statt mit dem Ja-Sager Sloterdijk hätte Kluge vielleicht besser mit Werner Nekes reden sollen, der den Ulysses verfilmt hat.

Diederichsen: Der hieß ja »Ulli isses«.

Riechelmann: Hätte doch gut zu Helge Schneider gepasst, der als Hartz-IV-Empfänger Atze Mückert den schönen Satz sagt, dass wir ohne Marx heute gar keine Arbeit mehr hätten.

Ripplinger: Ich glaube, dass ein Kapitel aus dem »Kapital« bereits verfilmt worden ist, allerdings ist es dasjenige, das man auch sehr leicht bebildern kann, nämlich das über die ursprüngliche Akkumulation. Der Film heißt »Chinatown« und ist von Roman Polanski.

Klaue: Oder die Gangsterfilmthematik bei Martin Scorsese. Die ganze Filmgeschichte zu dem Thema ist bei Kluge ja gar nicht präsent.

Riechelmann: Bei manchen Sachen merkt man, was man hätte machen können. Wenn beispielsweise Dath von den Bauern in der Sowjetunion erzählt. Von Sigmund Freud und Arno Schmidt gibt es ungefähr gleich lautende Kommentare dazu, dass nur die Sowjetunion das mit den Bauern richtig gemacht hat. Und das bricht schon viel auf, denn von Schmidt und Freud erwartet niemand so eine Aussage. Oder die Geschichte mit dem Dolch. Dath erzählt, dass jemand auf die Idee kommen könnte zu sagen, dass das Ding getötet hat und nicht die Person. Dazu hätte man diese Anekdote über Joyce erzählen können, in der behauptet wird, Joyce hätte ganz oft wiederholt, wie toll Hitler ist, bis seine Frau ihm gedroht hat, ihn zu erstechen, wenn er das noch mal sagt.

Diederichsen: Zu dem Parlament der Dinge fällt mir auch »His Girl Friday« von Howard Hawks ein. Da gibt es diesen Mörder, der mit der Theorie der »production for use« verteidigt wird. Er soll unschuldig sein, weil er diese Theorie und den Slogan gekannt hat. Er konnte nicht anders, als die Waffe, die er besessen hat, zu benutzen. Vielleicht sollte man einen Antrag bei der Kulturstiftung für ein neues DVD-Projekt stellen, um Kluge zu korrigieren.

Riechelmann: Die Korrektur von Kluges »Kapital«.

Lindner: Material gibt es jedenfalls reichliches. Kluge geht wie Eisenstein nach der von Hans Magnus Enzensberger beschriebenen Walfisch-Methode vor, alles einsaugen und gucken, was hängen bleibt. Nur dass Kluge ein Walfisch ohne Methode ist, anders als Marx, der mit dem Material gerungen hat, und Eisenstein, der die 49 Kilometer Filmmaterial für »Oktober« auf zwei Kilometer runterschneiden musste. Kluge zeigt uns einfach alles, was er in die Hände bekommt.

Diederichsen: 49 Kilometer aus zwei Kilometern.