Über »Straight-Edge«-Nazis

Eine Limo auf den Endsieg

Sturzbetrunkene Skinheads sind nicht mehr zeitgemäß. Mittlerweile haben Nazis die Abstinenz-Ideologie »Straight Edge« entdeckt und leisten drogenfrei und keusch ihren Beitrag zur Rassenhygiene.

Das hatte man in Russland noch nicht gesehen: Nicht nur die üblichen rechtsextremen Organisationen marschierten am »Tag der Nationalen Einheit« Anfang November durch Moskau. Stolz berichtete ein russischer Nazi auf einer deutschen Internetseite: »Dort entstand zum ersten Mal in der Geschichte des Russischen Marsches der nationale schwarze Block.«

Die vermummten Gestalten, deren Treiben in einem Video auf der Seite zu sehen ist, marschieren hinter Transparenten, auf denen »Straight Edge« und »Hardline« zu lesen ist. Die russischen Parolen übersetzte der Berichterstatter: »Die Aufschrift auf den Bannern: Hardline für Russland; Nein zu Drogen, nein zur Zuwanderung; Straight Edge, halte dein Blut rein.«
Der Kamerad »Piepmatz« musste sich im Kommentarfeld erkundigen: »Was ist eigentlich Straight Edge?« Eine kurze, durchaus richtige Antwort lieferte »Max«: »Straight Edge steht für eine Strömung innerhalb der Hardcore-Musik­szene, die den Gebrauch von Drogen ablehnt, wo­zu auch Alkohol und Zigaretten zählen.«
Etwas ausführlicher nahmen sich im April die Macher der rechtsextremen Internetseite »Media pro Patria« des Themas an. Unter den Schlagworten »Don’t drink, don’t smoke, don’t fuck«, die dem Song »Out Of Step« von Minor Threat, den Erfindern von »Straight Edge«, entlehnt sind, ver­suchen sich die jungen Nazis in einem Video an der Überzeugungsarbeit: Sie schwärmen vom Spaß, den man auch ohne Alkohol haben könne, erinnern daran, dass der »Marlboro-Cowboy« an Lungenkrebs gestorben sei, und preisen die Er­füllung in der Monogamie im Gegensatz zur »Gefühllosigkeit« der One-Night-Stands und anderer promiskuitiver Verirrungen.
»Es geht darum, Körper und Geist fit zu halten«, begründet ein Nazi vor der Kamera den Verzicht auf Drogen. Die sexuelle Selbstbeschränkung diene dem Kampf gegen Aids und der Stärkung des Familienbewusstseins. »Statt zuzusehen, wie Völ­ker durch Abtreibung, Schwulen- und Mischehen ein neues Gesicht bekommen, trage auch du deinen Teil zu unserer Zukunft bei«, predigt ein Kamerad. Dass die Rechtsextremen in Straight Edge also mehr sehen als eine Methode, den Körper zu entschlacken, zeigt auch ein Blick auf die amerikanische Internetseite »Terror Edge«. »Gegen Drogen, gegen Alkohol, gegen das Rauchen. Unser Eid, unsere Pflicht: die Welt von Drogendealern, Drogenkonsumenten und Alkoholikern zu befreien«, schreiben die Betreiber. Dabei dienen die Askese und der Kampf gegen Drogen höheren Zielen: »Wir als Nationalsozialisten müssen diese Gesellschaft von dem Gift reinigen, mit dem ZOG alle füttert.«
Zionist Occupied Governments vergiften die Völker mit Schnaps und Joints und schaden so der »Ras­senhygiene« – dieser modernen Variante der alten, antisemitischen Leier von den Juden als Brun­nenvergiftern hängen auch andere an. »Dabei sei noch bemerkt, dass wir uns alle gewiss sein sollten, welche ›Nasen‹ am Tabakkonsum Geld verdienen und damit unter anderem den Staat Is­rael mitfinanzieren«, sagte ein Mitglied der deut­schen Band Might of Rage, die »NS-Hardcore« spielt, in einem Interview.

»Ein bevorzugtes Hauptbetätigungsfeld des Juden ist der Rauschgifthandel«, hieß es in der nationalsozialistischen Propagandaschrift »Der Jude als Verbrecher« von 1937. So unverblümt sagen es die rechtsextremen deutschen Straight-Edge-Bands aber nur selten. Kapellen wie Anger Within, Fear Rains Down, Moshpit oder Eternal Bleeding verzichten auf das große Nazi-Brimborium. Äußerlich unterscheiden sich die rechts­extremen Limo­trinker nicht vom gängigen Hardcore-Publikum. Sie tragen Piercings, sind tätowiert, ziehen sich Band-Shirts, weite Jeans und Turnschuhe an. Die CD-Cover lassen ebenfalls nichts Schlimmes erahnen. Und wer würde vermuten, dass deutsche Nazis am Werk sind, wenn doch beinahe alle Texte auf Englisch gesungen werden? So kommt diese Musikform ganz anders daher als der stum­pfe Rechtsrock vergangener Jahrzehnte. Dark Wave, Black Metal, Neofolk, Techno und Hatecore gibt es bereits für die rechtsextremen Hörer. Nun wird die Nazi-Musik eben mit Straight Edge aufgefrischt.
Parolen wie »Ausländer raus!« oder »Sieg-Heil«-Chöre, die die mittlerweile nicht mehr sonderlich beliebten Skinheads bevorzugten, sucht man bei den Straight-Edge-Bands vergeblich. Häufig darf bei ihnen ein martialischer Schreihals, begleitet von verzerrten Gitarren und wummerndem Schlagzeug, ins emotionale Stahlbad steigen: »I’m trying to reach out. Here I am at last. To drown in my own despair. Cries fall on deaf ears. I have only myself to fear.«

Meist bedienen sich die Kapellen jedoch des antikapitalistischen Ressentiments, wie etwa Path of Resistance in »Capitalism kills«: »I can’t breathe your fucking money. Capitalism kills – the animals – the mankind – the nature – the world.« Statt von »den Juden« als Urhebern des Bösen sprechen Fear Rains Down lieber von dunklen Mäch­ten im Hintergrund: »And behind the mask of democracy is where the curse is hiding.« Moshpit sagen es so: »Oppression and poverty. Results of their hate. Global fights – human rights.« Eternal Bleeding haben dies zu Papier gebracht: »Poverty and unemployment, so many people are affected. Innocent victims and the money rules the world again.«
Solche Zeilen haben in den Achtzigern und Neun­zigern schon vermeintlich linke Hardcore-Bands verbrochen. Und in der Tat haben auch Angehörige der Straight-Edge-Szene Vorarbeit für die rechtsextremen Nachfolger geleistet. Mi­nor Threat kann man allerdings keine großen Vorwürfe machen. Als sie Anfang der Achtziger die Songs »Straight Edge« und »Out Of Step« ver­öffentlichten, die das Genre begründeten, ge­schah dies in Abgrenzung zu den älteren Punks, die sich der Selbstzerstörung mittels Drogenkonsum hin­gaben. Minor Threat blieben nüchtern und machten stattdessen destruktivere Musik, als sie die Punks jemals zustande gebracht hatten.
Der Verzichtswahn wohnte der Idee vom drogen­freien Leben dennoch von Anfang an inne. Der moralische Rigorismus verleitete z.B. 1988 die be­liebte Band Slapshot aus Boston – sie tourt demnächst wieder durch Europa –, wohl im Neid auf diejenigen, die sich nicht der Selbstkasteiung unterwerfen wollten, zu der markigen Zeile: »Kill every­one with a beer in his hand! Cause if you drink you’re not a man!« Mit ähnlich viel Schaum vor dem Mund rief die US-Band Earth Crisis zu Beginn der Neunziger zum Halali auf Drogendealer: »The youth immersed in poison – turn the tide, counterattack. Violence against violence, let the roundups begin. No mercy, no exceptions, a declaration of total war.«

Eine andere amerikanische Kapelle hatte auf der Suche nach einem Namen im Wörterbuch der Un­menschen geblättert: Vegan Reich. Sie begründete in den Neunzigern die so genannte Hardline-Bewegung und predigte neben dem Verzicht auf Drogen noch den Kampf für die Tiere und die Um­welt. Mit der Liebe zur Natur entdeckten die Anhänger der Hardline-Ideologie auch den Hass auf alles vermeintlich Unnatürliche. Sie hetzten gegen Homosexuelle, gestatteten sich Sex nur zu Zwecken der Fortpflanzung und feierten Anschläge auf Abtreibungskliniken. Mit einer »veganen Diktatur« wollten sie zudem die »natürliche Ordnung« wiederherstellen.
Dass sich russische Nazis über zehn Jahre später auf diese Hardline-Bewegung beziehen, ist angesichts der ideologischen Vorarbeit der amerikanischen Straight-Edge-Musiker nicht sonderlich ver­wun­derlich. Sean Muttaqi, der Sänger von Vegan Reich, hat seinerseits einen anderen, aber dennoch konsequenten Weg verfolgt: Er wurde Moslem und widmete sich mit der Sekte Taliyah al-Mahdi und einer Reggae-Band dem Jihad gegen die »Hure Babylon«.