Der neue Film von Ken Loach

Die Mutter Courage der Marktwirtschaft

Ken Loachs Film »It’s a Free World« schildert, wie eine gebeutelte Jobberin selbst zur Ausbeuterin wird.

Wollte man Ken Loachs neuen Film »It’s a Free World« auf einen Begriff bringen, er wür­de lauten: Zwiespältigkeit. Auf die Frage, worauf er beim Casting der Hauptfigur Wert gelegt habe, sagt der Regisseur: »Die Fähigkeit, extrem liebenswert und gleichzeitig umbarmherzig zu sein.« Mit Kierston Wareing hat er die passende Darstellerin gefunden.
Angie, Anfang 30, arbeitet in London als Jobvermittlerin für eine Zeitarbeitsagentur, und sie scheint ihren Job gut zu machen. Eines Abends treffen sich die Kollegen der Agentur auf ein Bier. Als ein Mitarbeiter zudringlich wird, wehrt sich Angie. Tags darauf wird ihr verkündet, sie solle sich einen neuen Job suchen.
Mit einer Mischung aus Hass auf den Arbeitgeber und dem Selbstbewusstsein, diesen Job in Eigenregie besser hinzukriegen, zieht sie mit ihrer Mitbewohnerin Rose (Juliet Ellis) das eigene Ding hoch. Als erstes beschafft sie sich ein Motorrad und klappert die Fabrikbesitzer ab, die sie schon kennt. Die erklären ihr genau, wo das Problem liegt – bei den einheimischen Arbeitskräften: Der da faulenzt, der da drüben klaut, und die da raucht während der Arbeitszeit. Alles keine zuverlässigen Instanzen.
Angie steigt in den Markt ein und rekrutiert zunächst Arbeiter aus Osteuropa. Die Tage­löhner bewerben sich täglich neu, sie sind froh, in Großbritannien zu sein, weil es zu Hause überhaupt keinen Job gibt. Ihnen Arbeit zu vermitteln, das ist doch noch nicht richtig böse, oder? Als Legalität in der Beta-Version könnte man diese Zustände beschreiben: Solange man niemandem weh tut, ist es okay. Wo kein Kläger, kein Prozess.
Für alles andere reicht das Quantum Trost: Mach’ ich den Job nicht, macht’s wer anderes, sagt Angie. Zu Hause wartet schließlich ein Problemkind, ihr Sohn Jamie (Joe Siffleet), der in der Schule andere Kinder zusammenschlägt. Die alleinerziehende Mutter braucht den Job schon deshalb, um zu demonstrieren, dass sie die Dinge im Griff hat. »Der Vater hat mit 25 beschlossen, nur noch vor dem Fernseher zu sitzen«, wie sie einmal sagt.
Angie und Rose beginnen nun den Kampf um die profitable Nische, ein echter Five-Nine Job: Von fünf Uhr morgens bis neun Uhr abends sind die beiden unterwegs. Und sie merken schnell: Osteuropa, das macht derzeit jeder – nun will die Konkurrenz unterboten werden. Eher zufällig stolpern Angie und Rose in die Szene der illegalen Migranten; jener Menschen ohne Papiere, die zu Hause ihre Berufe z.B. als Arzt nicht ausüben können und aufgrund widriger Umstände aus dem Kongo oder Iran haben flüchten müssen und nun in irgendwelchen Unterständen hausen. »Die Dritte Welt mitten in Europa«, wie es einmal heißt.
Allerdings: Wenn die Arbeiter keine Rechte geltend machen können, weil sie von der Abschiebung bedroht sind, warum sollte dann der Arbeitsvermittler Geld bekommen, da er es nie einklagen können wird? Alsbald landen Angie und Rose tief im Morast des kriminellen Schiebergewerbes.
Das soll auf die Hauptfiguren abfärben. Wo die Arbeitswelt die radikalste Form der Indivi­dua­lisierung als »Flexibilität« und »Mobilität« anpreist und menschliche Arbeit durch ihre Aus­wechselbarkeit definiert ist, könne es keinen in­dividuellen Repräsentanten geben, dem Mitleid, Einfühlung und Nächstenliebe entgegengebracht wird, argumentiert Loach. In seinem Film, da liegt er ganz auf der Linie von Bertolt Brecht, leitet er daher ab: »Die Veränderung der Arbeits- und Industriekultur unter dem Druck der Globalisierung macht das Konzept der sympathischen Identifikationsfigur, die die Empathie des Zuschauers erregt, höchst fragwürdig.«
Wie so oft gedenkt Loach auch in diesem Film, mit dem Publikum Schlitten zu fahren. Zunächst baut er Angie zur Sympathieträgerin auf – die toughe Frau, klar, will die Karriere machen, sie schlägt sich erfolgreich in der Männerdomäne durch, das Kind, die Familie – ist es nicht ihre einzige Chance, ein bisschen rücksichtslos zu sein, ein wenig neoliberale Unternehmerin zu werden, ganz so, wie es alle ein wenig tun müssen? Ein Quantum Zynismus wird da nicht schaden.
Als Sub-Subunternehmerin ist sie ihre eigene Arbeitgeberin, kann aber den Kunden kaum irgendwelche Bedingungen diktieren. In diesem Arbeiten gibt es Eigeninteressen, die keinen Widerspruch dulden. Aber – jeder Mensch seine eigene Finanzkrise – es gibt klare andere Eigeninteressen, die diesen ganz klar zuwiderlaufen.
Kann man es Angie verdenken, wenn sie Arbeit für die Armen schafft? Mehr als einmal geht man der Agentin auf den Leim und spürt, wie das eigene Denken die Ideologie reproduziert. Gut ist, was Arbeit schafft. Und wer Arbeit schafft, das sind die Guten, so wie Angie die Illegalen warnt, dass gleich die Bullen da sind.
Ihre kleinen Schwächen machen diese Ausbeutungsakteurin mit klassenbewusstem Anstrich – sie stammt aus einer traditionellen Arbeiterfamilie – sympathisch. Sie sorgt sich um die Kinder der illegalen Migranten. Sie steigt mit einem jungen Polen ins Bett. Sie ist zerrissen zwischen den Interessen der Arbeiter und ihrem Profitstreben. Und auch wir können uns nicht entscheiden, tut sie uns nun leid, weil der Scheck der Baufirma geplatzt ist, deren Manager (»Tut mir sehr leid. Wenn du die Arbeiter bezahlen willst, bitte, wir leben in einer freien Welt«) auch öfter mal mit dickem Auge und gebrochener Nase herumlaufen? Dramatisch der weitere Verlauf: Weil auch sie die Arbeiter abzockt, entführen diese ihren Sohn Jamie und erpressen Angie. Die Bande besteht durchweg aus soliden Familienvätern, die zu Hause hungrige Mäuler zu stopfen haben.
Jeder Akteur dieses Marktes ist, so die Philosophie, Täter und Opfer. Mehr als einmal lässt Loach dies von Angie, gern im Zusammenspiel mit ihrer vorsichtigeren Mitstreiterin Rose, dialektisch vorführen. Jedes Mal, wenn Angie die Spirale wieder ein wenig weiter gedreht hat, führt sich Rose als ihr Gewissen auf: Illegale beschäftigen? Das ist doch verboten. Dann kontert Angie, bald würden beide reich sein. Und jedes Mal gibt sich Rose damit zufrieden.
»It’s a Free World« ist ein extrem spröder, fast lieblos gedrehter Film des nicht gerade unspröden Sozialfilmemachers Loach. Kurz, knapp und heftig gibt er Auskunft über den derzeitigen Stand des Existierens an der Unterkante Europas mit allen Unklarheiten, Prekaritäten und Schweinereien. »Wie soll das denn weitergehen?« lässt er Angies Vater (Raymond ­Mearns), einen alten Gewerkschafterhaudegen, einmal sagen, »überall arbeiten Kosovo-Albaner zu Hungerlöhnen, und bei denen zu Hause geht die Indus­trie kaputt.«
Darauf gibt es im weiteren Filmverlauf wenig Antworten. Der Unmut des alten Mannes erscheint in diesem Film allzu verständlich. Schließlich bleibt an ihm die Erziehung des verhaltensauffälligen Enkels hängen. »Du hast gut reden«, erwidert Angie. »Du hast 30 Jahre denselben Job gemacht. Bei mir sind es schon 30 verschiedene gewesen. Und ich bin erst 30.«
Loachs Film will die Transformation der Arbeitsgesellschaft als einen Systemwandel hin zur Zwangsarbeitsgesellschaft beschreiben. Dabei beschreitet er den schmalen Grat zwischen rabiater Sozialkritik und nostalgischer Rückwärtsgewandheit. Denn auch diese Frage wird gestellt und nicht beantwortet: Soll alles so wie früher sein? War das denn wirklich besser?
Das Unausweichliche, Unerbittliche des Wirtschaftssystems, die angebliche Freiheit des Mark­tes, sie wird als Ideologie verklappt. Aber ebenso klar ist: Alternativen sind rar. Und ein kohärentes Unterdrückungssystem ist die Wirtschaft auch nicht. Eher ein chaotisches.
Die Zusammenfassung, die »It’s a Free World« zum Schluss gibt, ist eklig: Die Arbeitsmarketen­derin Angie wird mit dem Leben davonkommen. Und sogar um eine Spur klüger sein. Sie wird herausgefunden haben, wie sich Ausbeutung perfektionieren lässt. Bisher war sie zwar schon ganz gut. Aber sie hat darauf gesetzt, die falschen Leute abzukassieren: die Firmenbesitzer. Besser ist es, bei den Migranten die Hand aufzuhalten.

»It’s a Free World« (GB/D/I/SP 2007). Regie: Ken Loach, D: Kierston Wareing, Juliet Ellis u.a. Start: 27. November