Der Dokumentarfilm »Comeback«

Rocky lebt nicht mehr hier

Maximilian Plettaus preisgekrönter Dokumentarfilm »Comeback« begleitet den alternden Profiboxer Jürgen Hartenstein auf seinem Weg zurück ins Boxgeschäft.

Die alte Frau am gedeckten Tisch beugt sich nach vorne und öffnet den Mund. Die Zuschauer im Kino Babylon-Mitte, wo gerade die Berlin-Premiere des Films »Comeback« stattfindet, beugen sich ebenfalls nach vorn. Denn was die alte Frau in breitestem Pfälzisch sagt, ist nur durch Mitlesen der (englischen) Untertitel zu verstehen.
»Willst du auch ein Stück Schinken?«
Der ihr gegenüber sitzende Mittdreißiger schüttelt den Kopf.
»Bist du jetzt einer von denen geworden?«
»Nein, Oma, ich bin kein Vegetarier. Ich ess bloß kein Fleisch.«
Der Mann heißt Jürgen Hartenstein und ist der Protagonist von Maximilian Plettaus bemer­kenswert guter Dokumentation »Comeback«, die im Sommer mit dem Deutschen Kamerapreis ausgezeichnet wurde und dieser Tage mit leider nur drei Kopien in die Kinos kommt.
1998 war Hartenstein kurzzeitig Deutscher Meister der Profiboxer im Supermittelgewicht, kämpfte später sogar um die Europameisterschaft. Doch die Kämpfe, die ihm eine größere Karriere hätten ermöglichen können, verlor er. Nach einigen Niederlagen ließen ihn seine Mana­ger fallen. Mitte dieses Jahrzehnts arbeitete er als Türsteher in einer Münchner Diskothek, half einem Freund und Trainer, dem Kampf­sportler Markus Kone, beim Aufbau von dessen Boxhalle und hatte seit drei Jahren nicht mehr im Ring gestanden. 35 Jahre alt war er, als der Regisseur Maximilian Plettau ihn kennen lernte.
2006 arbeitete Maximilian Plettau an seinem Technikabschluss im Fach Kamera an der Münchener Hochschule für Film und Fernsehen. Dafür hatte er einen Kurzfilm vorbereitet, als Ingenieure des Fraunhofer-Instituts auf ihn zukamen. Sie brachten ihn auf die Idee, Körpererschütterungen mit einer speziellen Zeitlupen­kamera aufzunehmen. Und wo gibt es mehr Kör­pererschütterungen als beim Boxen? »Ich habe ganz naiv ›Profiboxen‹ und ›München‹ bei Google eingegeben«, lacht Plettau auf der kleinen ­Feier nach der Vorführung. »Und da kam ich auf Jürgen ›The Rock‹ Hartenstein. Was für ein Name!«
Die beiden Männer verabredeten sich. Die An­näherung zwischen ihnen dauerte Monate. Zunächst tranken sie nur Kaffee miteinander und plauderten. Als Plettau erstmals eine Kame­ra mitbrachte, schmiss der Boxer ihn sofort raus. Doch Plettau kam immer wieder, und irgendwann nahm Hartenstein ihn mit in sein improvisiertes Gym: einen staubigen Dachboden, in dem ein geliehener Sandsack von der Decke und eine billige, gerahmte Reproduktion eines Mozartporträts an der Wand hing. Diese intensiven, dunklen, engen Bilder eines schwitzenden, einsamen Boxers, der sein Schattenboxen vor einer Art Schminkspiegel macht und seine Beweglichkeit beim Durchpendeln unter einer Wä­scheleine schult, wurden später zu den ersten Szenen des fertigen Films. Und sie gaben seinen Stil vor: Mann gegen Mann. Keine Tricks.
Plettau nahm höchstens seinen Tonmann Tim Hägele mit an den Set. Auf der anderen Seite wendet sich keiner der Freunde und Trainingspartner von Hartenstein jemals direkt an die Kamera.
Plettau begleitete Hartenstein fast ein Jahr lang. Wir sehen ihn beim Training mit Markus Kone, das in Ermangelung besserer Orte manch­mal in einem Münchener Stadtpark stattfindet. Gelangweilt betrachtet von einigen Kindern, die diesen Boxer noch nie gesehen haben. Wir sehen ihn in einem Internetcafé, wo er immer wieder in seinem sperrigen Englisch versucht, einen amerikanischen Boxpromoter von seinen Fähigkeiten zu überzeugen. »Yes, in good shape. Yes, no fighting through the last three years.«
Plettau zeigt seinen Protagonisten an der Disco­tür und im Gespräch mit zwei Frauen, von der die eine vielleicht seine Exfreundin ist. Auf einem zehn Jahre alten Familienbild trägt er ein Baby auf dem Arm. Ist er der Vater?
All diese Szenen wirken auf den ersten Blick befremdlich, manchmal auf skurrile Weise komisch. Doch je länger der Film dauert, desto deutlicher wird, dass der Boxer kein Spinner ist und es auch nie war. Davon zeugen die Bilder aus seiner Vergangenheit, die ihn mit Siegerkränzen oder zwischen den Klitschko-Brüdern zeigen. Und davon zeugt auch der eiserne Wille, mit der er seine anscheinend nur aus billigem Vollkornbrot, H-Milch und gelegentlichen Mittag­essen bei Oma bestehende Wettkampfdiät durchhält. Profisport unter den Bedingungen des Gelegenheitsjobbers.
Als kein Zuschauer mehr an ein gutes Ende glaubt, gibt der Promoter nach. Er verpflichtet den Deutschen für einen Vorkampf im »Blue Horizon«, einer traditionsreichen, aber ziemlich schäbigen Boxhalle in Philadelphia. Ein Local Hero soll möglichst schnell nach oben und braucht daher schlagbare Gegner.
Hartenstein handelt 2 000 Dollar plus die Spesen als Börse aus und macht sich mit seinem Trainer und dem kleinen Filmteam auf die Reise via New York nach Philadelphia.
Für 26 Dollar pro Person und Nacht wohnen Hartenstein und Kone im Etagenbett des »Ameri­can Dream Hostel« in New York. Und hier lässt sich Plettau, der nach eigener Aussage vor dem Film »keine Ahnung vom Boxen« hatte, ein wenig von der düsteren Romantik dieses Sports mitreißen. Er folgt Hartenstein ins »Gleason’s«, eines der berühmtesten Boxgyms der Welt, in dem ein vor zehn Jahren erstrittener deutscher Meistertitel nicht einmal ein gönnerhaftes Lächeln hervorruft.
Nach dem Umzug nach Philadelphia, zwei Tage vor dem Comeback, gönnen Regisseur und Boxer sich und den Zuschauern eine Szene, die jeder halbwegs Boxinteressierte kennt: Am Ende eines anstrengenden Trainingslaufs nimmt Hartenstein keuchend die letzten Treppenstufen hinauf zum Philadelphia Museum of Arts. Oben angekommen, stemmt er die Hände in die Luft und tanzt. Doch das hier ist nicht Syl­vester Stallone in »Rocky« auf dem Weg zur Weltmeisterschaft.
Weil »Comeback« kein Hollywood-Märchen ist, passiert das Vorhersehbare. Zwei Tage später im »Blue Horizon« geht Hartenstein in der zwei­ten Runde zu Boden. Zu nervös ist er in den Ring gegangen, und einige harte Treffer zeigen ihm, dass eine Vorbereitung auf dem Dach­boden und so gut wie ohne Sparring nicht ausreichen, um einen zehn Jahre Jüngeren auf dem Weg in die Ranglisten zu stoppen.
Plettau lässt die Zuschauer mit einem zwiespältigen Gefühl zurück. Zum Schluss schaut Hartenstein noch einmal direkt ins Objektiv. Ein geschlagener Mann, mit leerem Gesicht. Und doch nicht besiegt, denn er ist zurück in seinem geliebten Geschäft.
Wie gut »Comeback« wirklich ist, zeigt sich vollumfänglich erst nach dem Abspann. Sofort möchte man wissen, wie es mit Jürgen Hartenstein weitergegangen ist. Über seine Boxkarriere gibt das Internet Auskunft. Seit dem Film hat er noch vier Mal geboxt, immer in den USA. Neu­lich in Kansas hat er zum ersten Mal seit 2002 wieder einen Kampf gewonnen. Mit 37 Jahren.
Über das Private gibt Plettau beim zweiten Getränk Auskunft. Mittlerweile ist Hartenstein nach Philadelphia umgezogen und arbeitet dort als Fitness-Trainer. Seit kurzem ist er verheiratet.
»Suzette und Jürgen haben in Las Vegas geheiratet, ganz stilvoll mit Stretchlimo«, grinst der Regisseur. »Weil Jürgen aber immer noch von der Hand in den Mund lebte, konnte er sich nur die kürzeste Strecke leisten. 100 Meter für sieben Dollar.«

»Comeback«-Termine gibt es auf: http://www.comeback-im-kino.de/