Transitmigranten an der belgisch-französischen Küste

Tränengas zum Frühstück

Die Ankunft in Europa bedeutet für Flücht­linge und Migranten in der Regel den Anfang einer weiteren Reise innerhalb der Grenzen der EU. Seit Jahren kommt man am besten von der belgisch-französischen Küste zwischen Oostende und Calais nach Großbritannien. Für Tausende Transit­migranten, die in Flüchtlingscamps an der Kanalküste untergebracht sind, wird die Durchreise immer schwieriger.

Fahl legt sich das gelbe Laternenlicht über den menschenleeren Hafen von Oostende. Vom Meer kommt die Feuchtigkeit heraufgekrochen. Die Nacht ist geräuschlos, nur gelegentlich lässt ein LKW den Motor an und rollt die paar Meter in Richtung der Fähre, die später in der Nacht ablegen wird. Die verlassenen Lagerhäuser liegen in einem Winkel der Straße, die den Hafen durchzieht. Ein Hauch von Verfall umgibt rissige Mauern, vom Seewind zerfressenes rostiges Eisen und morsche Treppen. Nur das, was einmal die Fenster waren, springt ins Auge: hier scheint man vor kurzem erst Hand angelegt zu haben. Sauber zugemauert sind die Öffnungen, abgedichtet die Fugen. Keine Lücke, kein Unterschlupf ist übrig geblieben. Zement, Stacheldraht und Elektrozaun sprechen eine deutliche Sprache.

Schon immer war Oostende, das alte Seebad mit seinem Fährhafen, für Migranten ein guter Ort, um nach Großbritannien zu kommen. In diesem Jahr jedoch ist die Zahl derer, die die Reise ohne die dafür nötigen Dokumente antreten, stark gestiegen. Der Grund ist die Praxis der belgischen Polizei, so genannten »Illegalen auf der Durchreise« lediglich ein Papier auszustellen, wo­nach sie binnen fünf Tagen das Land verlassen müs­sen. Verglichen mit den Nachbarländern wird Belgien dadurch als Transitland attraktiv. In den Niederlanden setzt man in diesem Fall der Abschreckung wegen auf Haft, in Frankreich greift die Polizei weitaus härter zu. Bereits vor dem Sommer wurden in Oostende mehr als 800 Personen in der Nähe des Hafens beim Versuch aufgegriffen, in den Laderaum von Lastwagen zu gelangen. Die vielen »blinden Passagiere« zogen einen Aufmarsch der Sicherheitskräfte nach sich. Schifffahrts- und gewöhnliche Polizei, Hafendienste, die belgische Ausländer­behörde und der britische Immigration Service fegten in einer Operation unter dem Namen »Mis­tral« pünktlich zur Hauptsaison mit großem Medienaufgebot durch Oostende. Dazu gehörte auch die ambitionierte technische Aufrüstung: die Kontrolle der LKW mit Scannern, endoskopische Kameras und CO2-Detektoren, die die An­wesenheit eines Menschen an ausgeatmeter Luft verraten. Zum Ende des Sommers zog die belgische Migrationsministerin Annemie Turtelboom zufrieden Bilanz und erklärte das Problem für gelöst. »Flüchtlinge?« wundert sich denn auch Rudy Bollaerts, der zuständige Kommissar der Schifffahrtspolizei. »Die sind hier nicht mehr.«
Die frischen Spuren ihrer Anwesenheit sind in Oostende jedoch allgegenwärtig. Nicht nur in den verlassenen Gebäuden am Hafen finden sich zugemauerte Fenster. Auch im ranzigen kleinen Rotlichtviertel in der Nähe sind die Türen der Abbruchobjekte verbarrikadiert. Ein kilometerlanger Infrarotzaun umgibt den vor der Auffahrt zu den Fähren gelegenen Bahnhof, auf der anderen Seite des Geländes verhindern mehrere Lagen Stacheldraht, dass blinde Passagiere kurz vor dem Check-in von einer Brücke auf Laster springen könnten. Jeder Einwohner in Oostende weiß, was sich im Sommer im Boske abgespielt hat, im »Wäldchen«, dem verwinkelten Park hinter dem Hafen. Gruppen von Transitmigranten verschanzten sich dort vor dem Zugriff der Polizei in den Büschen. Vereinzelte Chipstüten und Socken im Herbstlaub zeugen von den flüchtigen Be­wohnern. Seltsam nur, dass die Plastikflaschen im Unterholz halbvoll sind, und die mit roten Tex­tilbändchen markierten Lichtungen im Unterholz sehen aus wie kürzlich erst niedergetrampelt. Sollte sich der Kommissar irren?
Wie zum Beweis krempelt Habib* die Enden seiner Jogginghose hoch und präsentiert seine dick bandagierten Unterschenkel. Ein Andenken an seinen letzten Versuch, sich unbemerkt auf einem Truck einzuschiffen. Zwei Wochen ist das her. Zwei aufeinandergestapelte Container, zehn Meter hoch. Die Polizei kam, bevor Habib springen konnte. Beim Sturz brach er sich die Knöchel, doch das entmutigte ihn nicht. »Sobald ich wieder laufen kann, versuche ich es wieder. Jede Nacht probieren es zwei oder drei von uns. Ab und zu schafft es einer.« Ihre Verheißung heißt Großbritannien. Reichlich Arbeit, und dazu weder Aus­weis- noch Meldepflicht, diese Aussicht lässt Habib mit einer kleinen Gruppe junger Männer aus dem Maghreb seit zwei Monaten im Boske ausharren. Viel Regen, kaum etwas zu essen, ein Dutzend gescheiterter Fluchtversuche.
»Das Leben hier ist schlecht, richtig schlecht«, sagt der 28jährige Algerier. Immerhin ist da noch das staatliche Wohlfahrtszentrum CAW, wo Habib und die anderen nachmittags Billard spielen und Kaffee trinken, um die Zeit zu vertreiben. Jilali*, ein junger Marokkaner, schlägt sich seit mehr als fünf Jahren durch die EU. Skandina­vien, Deutschland. In den Niederlanden saß er im Abschiebeknast. Wenn es das Wetter erlaubt, rasiert er draußen im Hof seinen Schicksalsgenos­sen die Haare.
»Dies ist ein freier Ort«, erklärt Tine Wyns, die Direktorin des Zentrums. Selbst im Frühjahr, als täglich um die 80 Flüchtlinge die Anlaufstelle ansteuerten, hatte man eine inoffizielle Absprache mit der Polizei, die Räume nicht zu betreten. Probleme gab es ohnehin genug. »Wir hatten viel zu wenig Nahrungsmittel, und die medizinische Lage war sehr schlecht. Viele Flüchtlinge kamen mit Verletzungen zu uns, die sie sich zugezogen hatten beim Versuch, in einen LKW zu gelangen. Die Krankenhäuser leisteten aber nur Notversorgung. Sie nähten die Wunden, aber die Fäden muss­ten sich die Menschen selbst ziehen.« Schnell kamen die Mitarbeiter an die Grenzen ihrer Kapa­zitäten. »Also baten wir das Rote Kreuz und Ärzte ohne Grenzen um Hilfe. Sie schlugen vor, ein Durchgangslager zu errichten.« Die Stadtverwaltung wollte davon jedoch kurz vor der Hauptsaison nichts wissen. Stattdessen griff man zu re­pressiven Maßnahmen – bis sich die Aufregung um Oostende wieder gelegt hat. »Im Herbst füllt sich die eigentlich für Obdachlose bestimmte Anlaufstelle wieder«, sagt Wyns. Dies ist ein Kennzeichen der besonderen Situation der Transitmigranten. Wenn sie zu auffällig werden, sperrt man sie ein. Noch lieber aber lässt man sie weiterziehen und entledigt sich damit des Problems.

Es waren vermutlich die Erfahrungen von Sangatte, die dafür sorgten, dass die Verantwortlichen in Oostende Angst bekamen. Mit dem Wort »Durchgangslager« verbindet man in dieser Gegend eine Einrichtung, die im Jahr 1999 rund 100 Kilometer und eine Grenze weiter südlich, in dem französischen Dorf Sangatte bei Calais, entstand. Damals campierten zahlreiche Flüchtlinge aus dem Kosovo in den Straßen der französischen Hafenstadt Calais. Um sie unterbringen zu können, eröffnete das Rote Kreuz damals in Sangatte ein Auffanglager für 600 Menschen, bald waren es doppelt und dreimal so viele. Der Ort entwickel­te schnell eine ungeheure Anziehungskraft auf Flüchtlinge aus Afghanistan und dem Irak, vor allem, weil Sangatte in unmittelbarer Nähe zum 1994 eröffneten Kanaltunnel von Calais liegt. Zehn­tausende Migranten scheiterten beim Versuch, den Tunnel zu durchqueren. Innerhalb Europas wurde das Camp in Sangatte wegen der katastrophalen humanitären Zustände zum Symbol eines entmenschlichten Grenzregimes. Zwischen Frank­reich und England sorgte das Camp für gehörige Spannungen, ehe der damalige französische Innenminister Nicolas Sarkozy 2002 die Schließung anordnete. In der Folge zeigte sich, dass die inner­europäische Migration den gleichen Regeln gehorcht wie die Suche nach einer undichten Stelle an den EU-Außengrenzen. Auch innerhalb Europas sind die Routen flexibel und können in aller gebotenen Schnelle an die lokalen Gegebenheiten angepasst werden.
Auf den Mikrokosmos der Glückssucher an der Meerenge von Calais hatte die Schließung des Flüchtlingscamps in Sangatte einen Zentrifugaleffekt. In den vergangenen Jahren tauchten neue Namen auf der Landkarte der Migration auf.
Loon Plage ist einer von ihnen, ein Nest von 6 000 Einwohnern im windigen Hinterland des französischen Hafens von Dunkerque. Das Camp außerhalb der Ortschaft, das seit fünf Jahren zwi­schen verrosteten Güterzuggleisen und Lade­termi­nals in den niedrigen Büschen liegt, ist für die Bewohner der Gegend alles andere als ein Geheimnis. »Jeder in Loon weiß, wo sie leben«, erklärt die Verkäuferin in der Dorfbäckerei. »Sie« – das sind rund 50 Männer aus Afghanistan und aus dem Nordirak, die in Sichtweite des drittgröß­ten französischen Hafens in zehn Zelten auf ihre Chance warten. Bretter, Abfall und Plastikplanen schaffen mitten in Westeuropa ein Ambiente, das an ein Krisengebiet denken lässt. Es fehlt an allem.
Hassan macht ein Feuer auf dem feuchten Boden und wärmt sich die Hände. »Es ist fürchter­lich hier. Wir können nicht duschen, wir finden kaum Schlaf, denn der Platz in den Zelten reicht nicht aus, und nachts wird es schon kalt. Ab und zu kommen Menschen und bringen uns ein paar Nahrungsmittel. Aber selbst, wenn wir etwas haben, wird uns manchmal schlecht davon.« Mit 31 ist Hassan einer der Ältesten hier. Am meisten Erfahrung hat er ohnehin, schließlich war er bereits in Sangatte. In welchem Land er sich in der Zwischenzeit aufhielt, will er nicht sagen. Wozu auch, wenn die Gegenwart wieder einmal aus Warten an der Kanalküste besteht.
Jeder hier hat eine hochgefährliche Odyssee hin­ter sich. Flugzeuge, Fähren, Autos, LKW. 20 000 Dollar hat das One-Way-Ticket bis an die verrammelte Tür zum besseren Leben in Großbritan­nien gekostet. Salah* war Soldat in einer Antiterror-Einheit der irakischen Armee. Bagdad, Falluja, Mos­sul. In Loon Plage ist seine neue Uniform die ­eines Flüchtigen: Trainingshose, zerschlissene Schuhe, die Jacke möglichst dick, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Vorgestern hat er es erneut probiert. Doch der Fahrer des Trucks entdeckte ihn hinter dem Reifen. 2 000 Pfund Strafe und ein Verfahren wegen Menschenschmuggel würde ihn ein blinder Passagier in der Fracht kos­ten. Dieser Druck auf die Fahrer erschwert die Sache zusätzlich. Für Hassan, Salah und die anderen jedoch ändert das nichts daran, dass der einzige Ausweg das Meer ist. Um jetzt noch umzukehren, dafür sind sie viel zu weit gekommen.

Immerhin lässt die Polizei das Camp in Loon ­Plage in Ruhe. Ein paar Kilometer weiter in Calais sieht das ganz anders aus. Tränengas zum Frühstück, das ist normal geworden für Stephen*. Der 24jährige aus Eritrea bewohnt mit mehr als 100 Schicksalsgenossen ein aufgegebenes Fabrik­gebäude, das regelmäßig von rabiaten Ordnungs­hütern Besuch bekommt. Was in Loon als kleine Randerscheinung ignoriert und in Oostende als wachsendes Phänomen mit gezielter Repression zügig beendet wurde, gehört in Calais seit Jahren zum Alltag. Eine rudimentäre Infrastruktur hat sich um die Transitmigration entwickelt, Abbruchobjekte und la jungle, ein Waldstück in Hafennähe, haben sich als permanent-proviso­rischer Unterschlupf etabliert. Die International Organization for Migration (IOM) unterhält hier einen Stützpunkt und rät zur »freiwilligen Rückkehr«, Hilfsorganisationen verteilen Essen und Kleidung. Völlig offen streunen die Bewohner von la jungle im stockenden Feierabendverkehr in Richtung Hafen um die wartenden Trucks. Ebenso unverhüllt jedoch macht die Polizei ihnen deutlich, dass sie hier nicht willkommen sind. Stephen weist auf einen Mann mit Krücke, der in einem überfüllten Hof in der Schlange um Essen ansteht. »Den haben sie neulich erst verprügelt.«
Selbst Familien mit kleinen Kindern sitzen in der Dämmerung auf dem Bordstein. In Plastikschalen halten sie die Mahlzeit, die die Freiwilligen der Association Salam wie jeden Abend oben auf der Rampe ausgeben. Was nach der Schließung von Sangatte als eine spontane Hilfsaktion begann, ist hier inzwischen eine feste Institution geworden. Hélène ist eine der Mitarbeiterinnen. Die Organisation sei gegründet worden, um der Sache einen offiziellen Rahmen zu geben, erzählt sie: »Während der Essensausgabe sind die Flüchtlinge vor Polizeiübergriffen geschützt.« Abend für Abend kommen um die 400 Menschen auf das Gelände zwischen dem Hafen und der Straße nach Sangatte. »Manchmal«, sagt Hélène, »sind es auch doppelt so viele.« Es scheint fast, als seien es noch mehr geworden, seit das Lager von Sangatte dicht gemacht wurde.
Dass die britische Regierung ihrerseits alles tut, um die Anziehungskraft, die Großbritan­nien auf die Glückssucher aller Länder hat, außer Kraft zu setzen, ist auf dieser Seite des Kanals noch nicht angekommen. Weder die im November eingeführte Ausweispflicht für Nicht-EU-Ausländer, noch das Punktesystem für die gleiche Zielgruppe, das den Zugang zum Arbeitsmarkt auch jenen erschwert, die nicht versteckt auf einem LKW ins Land einreisten. »Blue Birds over the White Cliffs of Dover«, das alte Lied auf den Lippen der Reisenden, die sich mit dem Fährschiff der Insel nähern, bekommt angesichts der immer rigoroseren Kontrollen allmählich eine andere Bedeutung. Oben auf den Klippen von Dover thront im Übrigen eine Festung, die schon zu Zeiten Napoleons eine Invasion vom Kontinent abwehren sollte. Später wurde daraus eine Haftanstalt für junge Straftäter. Seit 2002 befindet sich darin ein Abschiebegefängnis mit dem klang­vollen Namen »Immigration Removal Centre«.

* Name von der Redaktion geändert