Zum 100. Geburtstag der spanischen Malerin Remedios Varo

Leben im Surrealismus

Nachträglich zum 100. Geburtstag der spanischen Malerin Remedios Varo (1908–1963).

In Mexiko ist sie ein Star, ihre Plastiken säumen die Straßen der Hauptstadt, und auch die deutsche Schriftstellerin Monika Maron rekurriert in ihren Romanen immer wieder fasziniert auf die surrealistische Malerin und Bildhauerin Leonora Carrington, die, obwohl mittlerweile 91 Jahre alt, immer noch tätig ist in Mexiko-Stadt. Dass die gebürtige Britin Carrington zwar die große Überlebende, aber beileibe nicht die einzige Malerin des Surrealismus ist bzw. war, die in Mexiko Zuflucht gefunden und gearbeitet hat, darauf hat die mexikanische Kunsthistorikerin Lourdes Andrade in zahlreichen Büchern hingewiesen, die bis heute nicht ins Deutsche übersetzt worden sind. Zu Andrades (Wieder)entdeckungen gehört, neben der Französin Alice Rahon, die Spanierin Remedios Varo Uranga, deren Geburtstag sich im Dezember 2008 zum 100. Mal jährte, wenngleich sie selbst auch immer behauptet hat, fünf Jahre jünger zu sein.
Dass sie im deutschsprachigen Raum fast vollständig unbekannt ist, dürfte nicht nur damit im Zusammenhang stehen, dass man hier mit der surrealistischen Bewegung immer recht wenig anzufangen wusste, sondern auch mit der Tatsache, dass Remedios Varo eine früh emanzipierte Frau und eine engagierte Republikanerin war, die politisch nicht ohne Weiteres einzuordnen ist: 1936, mit dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs, finden wir sie auf trotzkistisch-republikanischer Seite in Barcelona. Und an der Seite des Dichters Benjamin Péret. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie bereits ein Kunststudium an der Kunstakademie Madrid hinter sich, das sie als 15jährige aufgenommen hatte. Und natürlich den für malende und schreibende Kreise seinerzeit unverzichtbaren Aufenthalt in Paris, außerdem eine erste Ehe mit dem spanischen Anarchisten Gerardo Lizzaraga, der 1939 in Barcelona zurückblieb, um bis zum Schluss gegen die Franquisten zu kämpfen. Varo und Perét hingegen flohen nach Paris.
Eines Abends ging Remedios Varo dort mit dem Fotografen Emerico Weisz, dem späteren Ehemann von Leonora Carrington, ins Kino und entdeckte in der Wochenschau, in einer Reportage über ein Lager für spanische Republikaner auf französischem Boden, ihren Ehemann Lizagarra unter den Gefangenen. Es gelang dem Freundeskreis um Varo, Weisz und Perét, Lizagarras Freilassung durchzusetzen, und nicht mit zwei, sondern mit drei Männern – mit dem Maler Victor Brauner – gelang ihnen die Flucht nach Südfrankreich, nachdem Paris am 14. Juni 1940 von den Deutschen okkupiert worden war.
Über ein Jahr lebte Varo nun mit anderen illustren Intellektuellen, zu denen Leute wie André Breton oder Victor Serge und seine Lebensgefährtin Laurette Sejourné gehörten, in der von Varian Fry angemieteten Villa Bel Air, dann konnte sie gemeinsam mit Perét nach Casa­blanca entkommen, von wo aus es dann weiter nach Mexiko-Stadt ging.
Mexiko-Stadt war in den frühen Vierzigern nicht nur das Exilzentrum zahlreicher stalintreuer Kommunisten wie Anna Seghers, Bodo Uhse, Ludwig Renn oder Egon Erwin Kisch, denen der einflussreiche Gewerkschaftsführer und Präsidentenberater Vicente Lombardo Toledano die Einreise ermöglicht hatte, sondern auch das Sammelbecken einer künstlerischen Avantgarde, die sich politisch zwischen Anarchismus, Trotzkismus, Esoterik und Surrealismus bewegte und zu der neben Leonora Carrington auch der österreichische Maler Wolfgang Paalen und seine erste Frau Alice Rahon gehörten, außerdem die mexikanischen Schrift­steller Octavio Paz und Rosario Castellano.
Als der deutsche Schriftsteller Gustav Regler, der sich 1940 von den Kommunisten losgesagt hatte, nach Mexiko kam, lancierte die dort exilierte KPD-Gruppe eine Kampagne gegen ihn. Dass die Kunst der Surrealisten ihm geholfen habe, dies durchzustehen, schrieb Regler in seiner Autobiographie.
Regler und ganz besonders seine Frau Marieluise Vogler, die 1945 an den Folgen einer Krebs­erkrankung verstarb, fanden neue Freunde, »ungerufene«, wie Regler schreibt, »die sich bald als ein unfasslich beglückendes Mehr in ihrem Leben herausstellten; ich meine die Gruppe der surrealistischen Maler und Dichter, die sich von Paris und London nach Mexiko zurückgezogen hatten: Wolfgang Paalen, Alice Rohan, Onslow-Fort, Leonora Carrington, Benjamin Péret, mit ihnen, in einer Distanz, die sich mit dem gemein­samen Leiden der Isolation verminderte, der russische Revolutionär und Romancier Victor Serge, ein Überlebender der Moskauer Prozesse, der, in einem ersten Gespräch schon, mir alle verlorenen Freunde zu ersetzen schien.«
Diese mexikanischen Jahre waren insbesondere für Remedios Varo von großer Armut geprägt. Sie malte, aber sie gestaltete auch Werbe­plakate, um sich und Perét über Wasser zu halten, der gemeinsam mit der Trotzkis Witwe Natalia Sedowa dessen Schriften ins Französische übersetzte. Nachts streifte sie, bisweilen in Männerkleidung, mit Leonora Carrington durch Mexiko-Stadt. Sie befreundete sich mit Kati Horna, einer anarchistischen Fotografin aus Ungarn, die sie bereits während des Spanischen Bürgerkriegs kennen gelernt hatte und die 1979, vier Jahre nach dem Ende der Franco-Diktatur, ihre Negative aus dem Krieg der spanischen Regierung zur Verfügung stellte, ohne dass diese bisher etwas mit ihnen anzufangen gewusst hätte.
Doch erst nach der Trennung von Perét 1947, der nach Paris zurückkehrte, und einem zweijährigen Arbeitsaufenthalt in Venezuela, gelang der Malerin Varo der Durchbruch. Die finanzielle Basis dafür bot Walter Gruen, der der dritte Ehemann von Remedios Varo wurde. Gruen, ein jüdischer Sozialdemokrat, hatte sich aus Österreich vor Hitler nach Mexiko retten können, seine erste Frau bei einem Badeunfall verloren und sich daraufhin in die Arbeit gestürzt: Gruen eröffnete das erste Schallplattengeschäft in Mexiko-Stadt und wurde solchermaßen erfolgreich, dass er darauf bestehen konnte, seine Frau solle sich ganz ihrer Kunst widmen, von der er überzeugt war. 1955 nahm Remedios Varo zum ersten Mal an einer Ausstellung teil, vier Jahre später schon galt sie als Berühmtheit und wurde bewundert von Diego Rivera und dem Regisseur Luis Buñuel.
Ihre Bilder sind von großer Selbstironie. Die Frau, die auf große Erfolge in der Männerwelt hätte verweisen können, wenn sie es denn gewollt hätte, war nicht im landläufigen Sinn attraktiv: Ihre Nase, die von extremen Ausmaßen war, hat sie in selbstkarikierenden Bildern immer wieder hervorgehoben; auf einem anderen verweist sie dankbar auf die Abhängigkeit von Gruen, wobei die Tatsache der Abhängigkeit nicht unterschlagen und problematisiert wird. Wie die meisten derjenigen, die in Mexiko eine endgültige Zuflucht gefunden hatten, war sie fasziniert von den vorspanischen mexikanischen Kulturen und hat die für die Surrealisten typischen Traumgestalten auf die Leinwand gebannt, Wesen, die mit ihrem Hintergrund verfließen und Ängste symbolisieren – die Angst vor dem Tod, von dem man sich geradezu umzingelt sah vor Einsamkeit und Uniformität. Und immer wieder das Gefühl von Bedrohung und die Empfindung, gerade noch einmal davon gekommen zu sein.
In ihrem Fall dauerte das Davon-Gekommen-Sein bis zum 8. Oktober 1963. Remedios Varo, deren große Leidenschaft die Zigaretten waren, von denen sie täglich mehrere Päckchen rauchte, verstarb an diesem Tag, für ihre Freunde überraschend, an einem Herzinfarkt. Leonora Carrington, Alice Rahon und Kati Horna, aber auch Margarita Nelken und der Schriftsteller Max Aub folgten dem Sarg, Rosario Castellanos schrieb einen Nachruf in Gedichtform.
Walter Gruen kümmerte sich von nun an um den künstlerischen Nachlass von Remedios Varo. Ihre Bilder wurden wie die von Leonora Carrington zum mexikanischen Kulturgut erklärt. Kunst­historiker, Händler und Journalisten durchstreifen heute die ehemaligen Künstlerviertel von San Angel, Las Flores und Coyacan – mittlerweile arrivierte Orte – auf der Suche nach Leonora Carrington und Spuren von Paalen oder Varo.