Die Ideologisierung des israelisch-palästinensischen Konflikts

Al-Qassam und die Märtyrer

Vor allem die Ideologisierung verhindert eine Lösung des israelisch-palästinen­sischen Konflikts. Der Friedensprozess muss zunächst in der palästinensischen Gesellschaft stattfinden.

»Wir Araber, besonders die Gebildeten unter uns, sehen die zionistische Bewegung mit großer Sympathie (…) Wir heißen die Juden von ganzem Herzen in ihrer Heimat willkommen. Gemeinsam arbeiten wir für einen reformierten und erneuerten Nahen Osten.« Nach Faisal bin al-Hussein, der 1919 die arabische Delegation bei den Friedensverhandlungen in Paris führte und diese Sätze in einem Brief an den zionistischen Delegierten Felix Frankfurter schrieb, wird die Hamas gewiss keine Rakete benennen.
Diese zweifelhafte Ehre wurde vielmehr Izz al-Din al-Qassam zuteil, der 1930 eine Geheimorganisation gründete und bis zu seinem Tod bei einem Feuergefecht mit britischen Polizisten im Jahr 1935 mindestens acht jüdische Zivilisten hatte ermorden lassen. Selbst Mohammed Amin al-Husseini, der antisemitische Mufti von Jerusalem, hielt Distanz zu Qassam, unterstützte aber den Aufstand, der im folgenden Jahr begann. Dass während der drei Jahre dauernden Revolte immer wieder jüdische Zivilisten und Siedlungen angegriffen wurden, führte zu einer weitgehenden Trennung der Bevölkerungsgruppen.
Einhellig war die Unterstützung für den Aufstand nicht. Der Mufti ließ seine Anhänger ausschwärmen, um Gefolgschaft zu erzwingen, zahlreiche Dissidenten wurden ermordet. Ein Angehöriger des oppositionellen Darwash-Clans berichtet darüber in Worten, die seltsam vertraut klingen: »Der Mufti und seine Männer sagten, mein Vater sei ein Verräter. Doch mein Vater wollte den Krieg verhindern. Er sagte dem Mufti: Der Krieg wird dazu führen, dass wir Palästina verlieren. Wir müssen verhandeln. Der Mufti sagte: Wenn das Schwert spricht, gib es keinen Platz für Gespräche.«
Ähnlich ergeht es derzeit dem palästinensischen Präsidenten Mahmoud Abbas, aber auch seinem ägyptischen Amtskollegen Hosni Mubarak. Kompromissbereitschaft gilt als Verrat, nicht nur unter Islamisten, sondern auch in großen Teilen der Solidaritätsbewegung. Der palästinensische »Widerstand« dient vielen als Projektionsfläche für militaristische Romantik und antisemitische Ressentiments.

Auch der auf jede Eskalation unweigerlich folgende Aufmarsch internationaler Vermittler ist nur selten hilfreich. Meist geht es ihnen um machtpolitische Interessen, nationale oder persönliche Profilierung. Um Frieden könnte man sich ja auch mal anderswo bemühen. Ein viel geringeres Interesse findet jedoch der Bürgerkrieg in Sri Lanka, dessen Präsident Mahinda Rajapakse die Geschehnisse in Gaza »schrecklich« findet und seine Armee immer weiter auf das Gebiet der Guerillabewegung LTTE vorrücken lässt, in dem 300 000 Zivilisten vor Artillerie- und Panzergranaten fliehen.
Den Konflikt zu ideologisieren und zu internationalisieren, gehört zur Strategie der palästinensischen Führung, einst der PLO und nun der Islamisten. Doch während die PLO zumindest vorgab, eine säkulare, an Demokratie interessierte Organisation zu sein, verbergen die Islamisten ihren Judenhass und ihren Wunsch, der palästinensischen Bevölkerung die Sharia aufzuzwingen, nicht.
Vor allem die Ideologisierung verhindert eine friedliche Lösung. Denn eigentlich stehen bei Friedensgesprächen recht banale Probleme zur Verhandlung, die meisten Streitpunkte könnten leicht geklärt werden, wenn es allein um materielle Forderungen ginge. Die meisten Israelis stimmen einer Zweistaatenlösung grundsätzlich zu, die sich an den Grenzen von 1967 orientiert, wollen jedoch die Siedlungblöcke in der Umgebung Jerusalems ihrem Territorium zuschlagen.
Das steinige Ödland in der Umgebung Jerusalems hat für die Palästinenser vor allem ideologischen Wert. Es war allerdings die britische Kolonialmacht, die, um die zionistische Bewegung zu schwächen, Husseini zum Mufti von Jerusalem machte, ihm einen Obersten Islamischen Rat an die Seite stellte, ihn mit beachtlichen Pfründen ausstattete und so maßgeblich dazu beitrug, dem Amt eines Provinzgeistlichen Prestige zu verschaffen und Jerusalem erneut jene symbolische Bedeutung zu geben, die es in der islamischen Geschichte nur selten hatte. Islamisten und Nationalisten haben den Mythos Jerusalem dann weiter gestärkt, doch die religösen Stätten auf dem Tempelberg werden ohnehin von Muslimen verwaltet, und ein nur wenige Kilometer entfernter palästinensischer Regierungssitz in Abu Dis oder auch Bethlehem könnte ja den arabischen Namen für Jerusalem, al-Quds, tragen.
Schwieriger ist es, eine Lösung für die palästinensischen Flüchtlinge und ihre Nachkommen in den arabischen Staaten zu finden. Ihnen werden seit Jahrzehnten Staatsbürgerschaft und Integration verwehrt, weil sich die arabischen Regierungen das »Flüchtlingsproblem« erhalten wollen. Über dieses Problem, dass die »internationale Gemeinschaft« tatsächlich lösen könnte und müsste, sprechen die Vermittler nur ungern. Denn andere, vor allem westliche Länder, müssten den Zwangspalästinensern gewähren, was die »arabischen Brüder« ihnen verweigern, eine unbeschränkte Arbeitserlaubnis und eine neue Staatsbürgerschaft.
Seit mehr als 60 Jahren bekämpfen diverse palästinensische Gruppen den Staat Israel. Zeit genug eigentlich, um zu bemerken, dass es nur eine Lösung geben kann, die von der Mehrheit der Israelis akzeptiert wird. Doch in großen Teilen der palästinensischen Gesellschaft haben sich Militarismus und Märtyrerkult verfestigt, bei den Extremisten ist eine Todessehnsucht unverkennbar. So wurde sogar der Hamas-Führer Nizar Rayan vor der Bombardierung seines Hauses telefonisch gewarnt. Doch Rayan (»Gott schenkt uns den Sieg oder den Märtyrertod«) wollte nicht einmal seine Familie evakuieren, zwei seiner Frauen und mehrere Kinder starben.

Zionistische und israelische Militäraktionen haben diese Haltung gestärkt, aber nicht geschaffen. Ihre Wurzeln liegen in der Epoche, als die arabische und palästinensische Nation sowie ihr konkurrierendes Pendant, der islamistische Gottesstaat, erfunden wurden. Wenige Jahre nachdem Faisal 1919 mit Chaim Weizmann, dem späteren ersten Präsidenten Israels, eine Vereinbarung über die Förderung der jüdischen Einwanderung und ein gemeinsames arabisch-zionistisches nation building in der Region geschlossen hatte, begannen Männer wie Qassam, einen spezifisch islamischen Antisemitismus zu propagieren, den islamistische Theoretiker wie Sayyid Qutb in den folgenden Jahrzehnten weiterentwickelten.
In der gleichen Epoche entstand der arabische Nationalismus, seine Theoretiker wie Sati al-Husri schöpften vor allem aus den Quellen der völkischen deutschen Philosophie. Der palästinensische Nationalismus wurde meist als besonders konsequente Variante des arabischen Nationalismus verstanden. Mochten arabische Regierungen ihre Truppen zurückziehen oder gar Frieden mit Israel schließen, die Palästinenser kämpften weiter.
Nationalisten und Islamisten haben einander oft erbittert bekämpft, die Hamas setzt ihren Kampf gegen die konkurriende Fatah auch unter dem israelischen Bombardement fort. Allerdings können beide Ideologien auch zu einer nationalreligiösen Haltung verschmelzen. Ohnehin besteht Einigkeit darüber, dass die Nation bzw. die Ummah, die islamische Gemeinschaft, bedingungslose Gefolgschaft verdient. Einen militaristischen Märtyrerkult pflegen auch viele nationalistische Gruppen, dies ist ein Grund dafür, dass Abbas, dem die street credibility des Kämpfers fehlt, Probleme hat, die Fatah zu kontrollieren.

Unausweichlich war diese Entwicklung nicht. Sie wurde begünstigt durch soziale Faktoren, so verließen vornehmlich Angehörige der städischen Mittelschichten die palästinensischen Gebiete. Dies führte, so der Soziologe Salim Tamari, zum Verlust einer »liberalen und pluralistischen Komponente« und der »Dominanz einer kleinstädtischen ländlichen Kultur«. In den siebziger Jahren arbeiteten 40 Prozent der palästinensischen Erwerbstätigen in Israel, mit jeder Eskalation wurden es weniger. Die beiden Gesellschaften rückten noch weiter auseinander, derzeit gibt es kaum alltägliche Kontakte. Überdies verloren die palästinensischen Frauen eine Einkommensquelle, die sie von den Patriarchen unabhängiger gemacht hatte, die Männer waren fortan auf die politischen Verbände, die Verwalter des Geldes, angewiesen.
Man kann sich manche Anführer jüdischer Untergrundgruppen vor 1948 durchaus auch auf der anderen Seite vorstellen. Zuweilen bekannten rechte Zionisten offen, dass sie eine gewisse Bewunderung für den Feind hegen. »Ich bin manchmal neidisch auf die Art, wie die Palästinenser sich einsetzen, ohne zu zweifeln«, meinte etwa Ariel Sharon. Doch Politiker wie Sharon stellten nie die Prinzipien der bürgerlichen Demokratie in Frage, und hin und wieder zweifelten sie. Die israelische Gesellschaft ist sehr selbstreflexiv, die Militarisierung der Gesellschaft führte zur Zivilisierung des Militärs. Fast jeder hat Angehörige oder Freunde, die in der Armee dienen, und jeder Mann muss bis zum Alter von 40 Jahren damit rechnen, an die Front geschickt zu werden. Das bremst Stammtischstrategen und Schwadroneure.
Die meisten Israelis sind der Ansicht, dass der andauernde Raketenbeschuss hin und wieder eine militärische Antwort erfordert, doch kaum jemand glaubt, dass es eine militärische Lösung gibt. Werden den Palästinensern hingegen Zugeständnisse gemacht, ob im Rahmen von Verhandlungen, wie Mitte der neunziger Jahre, oder einseitig, wie 2005 beim Rückzug aus dem Gaza-Streifen, folgt unweigerlich eine Terrorwelle. An weiteren Friedensplänen besteht daher kein Bedarf, weniger noch an einer diplomatischen Anerkennung der Hamas, der die islamistische Organisation jedoch mit jeder Eskalation einen Schritt näher kommt. Die israelische Regierung wird sich vorläufig mit einer Mischung aus Verhandlungsinitiativen und Militäraktionen behelfen müssen.
Denn der Friedensprozess muss zunächst in der palästinensischen Gesellschaft stattfinden, nicht nur zwischen Fatah und Hamas. Dass in der Westbank mit deutlich geringerem Enthusiasmus demonstriert wurde als in vielen westlichen Städten, ist ein Zeichen für die Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung. Noch aber wirkt der Konsenszwang fast ungebrochen.