Die neue bolivianische Verfassung

Alle werden autonom

Die neue Verfassung Boliviens soll allen gesellschaftlichen Gruppen gerecht werden und mischt verschiedene Rechtskonzepte. Doch die alte Oligarchie will sich nicht integrieren.

Noch am Abend der Wahl trat Präsident Evo Morales auf den Balkon des Präsidentenpalastes in La Paz, konstatierte das »Ende des koloniales Staates« und verkündete die »sofortige Neugründung der Republik«. Mit 61,47 Prozent Zustimmung hat die bolivianische Bevölkerung in einem Referendum am vorvergangenen Sonntag eine neue Verfassung angenommen.
Der Abstimung gingen heftige Konflikte voraus, die das Land zeitweise zu spalten drohten. Von August 2006 bis Dezember 2007 hatte die Verfassunggebende Versammlung getagt und dann einen Vorschlag präsentiert. Um einen Teil der konservativen Opposition für die Verfassungsreform zu gewinnen, modifizierte das Parlament im vorigen Jahr den Entwurf. Das Ergebnis ist ein sper­riger Text mit vielen Formu­lierungen, die offenbar das Ergebnis nächtelanger Verhandlungen waren. Die Verfassung soll es allen recht machen: Bolivien wird zu einem »sozialen, plurinational-gemeinschaftlichen, freien, unabhängigen, souveränen, demokra­tischen, interkulturellen, dezentralisierten Einheitsrechtsstaat mit Autonomien«.
Nicht nur dem ersten Artikel merkt man an, dass verschiedene Konzepte zusammengewürfelt werden: liberaler Rechtsstaat und indigene Tra­ditionen, kollektives und privates Eigentum, Autonomie der Regionen und der indigenen Gruppen, Universalismus und Partikularismus. Der Staat soll zudem das Recht auf Ernährung, Bildung, Gesundheitsversorgung, Arbeit, Rente, Trink­wasser und angemessene Entlohnung garantieren. Die sprachliche Klarheit gehört also an vielen Stellen nicht zu den Stärken der mehr als 400 Artikel, das dürfte auch zu rechtlichen Problemen führen. Es wird spekuliert, dass 100 weitere Gesetze nötig sein werden, um die Details zu klären.

Die 37 indigenen Gruppen, die sich von der alten Republik ausgeschlossen fühlten, haben sich mit dieser Verfassung gegen die weiße Oberschicht durchgesetzt. Artikel 30 garantiert den »indigenen Bauernvölkern« territoriale Selbstbestimmung, ihre traditionellen Institutionen sollen »Teil der staatlichen Struktur« werden. In ihren Gebieten dürfen sie über die Nutzung der erneuerbaren natürlichen Ressourcen entscheiden, sofern nicht die »legitimen Rechte Dritter« verletzt werden. Diese Einschränkung gehörte zum Kompromiss mit den oppositionellen Parlamentariern, die 2008 dem Entwurf zugestimmt hatten. Sie ermöglicht theoretisch weiterhin den Zugriff von Regierung und Investoren auf diese Ressourcen. Über fossile Brennstoffe entscheidet der Zentralstaat, an den Verkaufserlösen sollen die Indigenas, auf deren Boden sie gefördert werden, ebenso teilhaben wie die Departements.
Pluralität und Differenz sind Leitgedanken, indigene Prinzipien und Symbole werden in die staatliche Repräsentationspolitik aufgenommen. Die bolivianische Nation setze sich interkulturell zusammen, die Legislative nennt sich fortan »plurinationale gesetzgebende Versammlung«. Doch auch die Prinzipien des demokratischen Rechtsstaats sollen gelten, eine Gratwanderung, die vor allem bei der »indigenen Gerichtsbarkeit« problematisch werden dürfte. In den ­indigenen Gebieten haben traditionelle Institutionen Vorrang, ihre Entscheidungen müssen von allen staatlichen Behörden anerkannt werden, aber auch verfassungsgemäß sein.
Die Verfassung soll nicht mehr in erster Linie die in Stein gemeißelten unveräußerlichen Grundrechte festlegen, sondern vielmehr bestehendes Unrecht ausgleichen und alle gesellschaftlichen Gruppen integrieren. Sie ist sozusagen hochgradig politisch, eine Verfassung in ­Bewegung. An einigen Stellen ist der Text außergewöhnlich detailliert, in anderen wichtigen Punkten überlässt er das Weitere nachfolgenden Gesetzen, wohl um politischen Verhandlungsspielraum zu bewahren.

Einen zentralen Streitpunkt konnte die Verfassung nicht vollständig klären: das Verhältnis zwischen der Zentralregierung und den neun Departements. Im Text wird diesen »Autonomie« zugestanden, gleichberechtigt mit den indigenen Gruppen. So ist ein indigenes Gebiet künftig weitgehend unabhängig von der jeweiligen Regionalregierung. Die Konsequenz, so befürchtet die Opposition, sei ein Chaos von Befugnissen und Zuständigkeiten in einem verschachtelten Staatsgebilde. Rubén Costas, Präfekt des wohlhabenden Departements, nannte die Regelungen »falsch und anarchisch«. Letztlich aber fürchten die Regionalfürsten im Osten des Landes vor allem um ihre Macht. Sie führen das Netzwerk von Unternehmern an, die regionale Autonomie von der linken Regierung in La Paz fordern.
Die Regelungen in der Verfassung reichen ihnen nicht aus. In den 2008 aufgestellten Autonomie­statuten für Santa Cruz werden den Regionalfürsten viele staatliche Aufgaben übertragen, unter anderem das Recht, Steuern zu erheben und ein eigenes Justizsystem aufzubauen. Tiefland-Caudillos wie Costas und Branco Marincovic vom Zivilen Bürgerkomitee für Santa Cruz haben bereits Widerstand gegen die neue Verfassung angekündigt. Damit dürfte der Kampf zwischen der Hochlandregion, in der Evo Morales großen Rückhalt hat, und den östlichen Departements des »Halbmonds«, Santa Cruz, Beni, Pando und Tarija, in eine neue Runde gehen. Das Referendum zeigte erneut die tiefe Spaltung des Landes. In den Halbmondgebieten lehnten zwischen 56 und 67 Prozent der Bolivianer die Verfassung ab, in den Hochburgen der Regierung, La Paz, Oruro und Potosí, stimmten ihr 70 bis 80 Prozent zu.
Überraschender war ein anderes Ergebnis. Denn gleichzeitig wurde abgestimmt, ob Großgrundbesitz künftig auf 5 000 oder auf 10 000 Hektar begrenzt werden soll. 80 Prozent der Bolivianer stimmten für die kleineren Landgüter, in Santa Cruz, wo die Agrarindustrie boomt, waren es immerhin noch 66 Prozent. Allerdings gilt die Regelung nicht rückwirkend, die Latifundistas dürfen nicht mehr unbegrenzt Land ­kaufen, müssen jedoch keine Enteignung befürchten.

Die Zustimmung reicht zwar formal aus, um die Verfassung anzunehmen, von einer landesweiten Begeisterung über eine erste Verfassung ohne koloniale Prägung kann jedoch keine Rede sein. Noch im August 2008 war Morales bei einem Referendum mit mehr als 67 Prozent der Stimmmen im Amt bestätigt worden. Dennoch ist das Ergebnis für die Regierung und ihre Anhänger ein Grund zum Feiern. Aus der Erfahrung der kolonialen und nachkolonialen Ausgrenzung in­digener Schichten erwuchs in den vergangenen Jahren eine mächtige soziale Bewegung, die 2005 den ehemaligen Kokabauern Evo Morales zum Präsidenten machte, um ein »neues Bolivien« zu gründen.
Dieses schwungvolle Selbstbewusstsein versprühte viel Charme, von dem sich nicht nur Linke in allen Teilen der Welt inspirieren lassen, sondern das auch in der internationalen Zusammenarbeit auf Sympathie stößt. Doch ob die »Evisten« das Grundproblem einer jeden »modernen« Verfassung beheben können, ist fraglich. Das abstrakt konstruierte Staatsvolk ist niemals identisch mit der realen Bevölkerung. Stets gibt es Gruppen, die von der Verfassung ausgegrenzt werden, der Einschluss konstituiert immer auch den Ausschluss des anderen. Es gibt immer Gruppen, über die zwar gesprochen wird, die aber nicht selbst sprechen, ob Frauen, Migranten, In­digene oder Staatenlose. Überdies formuliert jede Verfassung einen Anspruch, die Gleichheit wird garantiert, doch die gesellschaftlichen Verhältnisse produzieren Ungleichheit. In dieser Hinsicht ist die neue Verfassung etwas, was sie nicht unbedingt sein wollte: modern.