Die Rente für ehemalige Ghetto-Arbeiter

Freiwillige Zwangsarbeit

Wer für die Arbeit in einem Ghetto der Nationalsozialisten eine Rente bekommen möchte, muss sich mit der deutschen ­Bürokratie herumschlagen. Erfolge sind rar, und das soll auch so bleiben.

Maurice Deluty lebte in den Jahren 1939 bis 1942 im polnischen Ghetto Nowe Miasto, wo er als Tischler für die Deutschen arbeiten musste. Danach wurde er nach Auschwitz deportiert. Er überlebte. Ein halbes Jahrhundert später beantragte er eine Rente für seine Tätigkeit im Ghetto. Die Deutsche Rentenversicherung Nord lehnte dies jedoch ab. Bei den Tätigkeiten habe es sich um Zwangsarbeit gehandelt, die Rentenkassen seien daher nicht zuständig. Erst vor zwei Jahren wurde dem mittlerweile 85jährigen vom Sozialgericht in Hamburg endlich eine kleine Rente zugesprochen.
Dies trifft längst nicht auf alle Menschen zu, die während des Nationalsozialismus in einem Ghetto einer Arbeit nachgegangen sind. So etwa im Fall einer polnischen Jüdin, die als 15jährige im Ghetto Golubcze Schnee schaufeln und für deutsche Soldaten Wäsche waschen und putzen musste – das Landessozialgericht Düsseldorf verweigerte ihr jüngst eine Rente, da sie die Arbeit nicht freiwillig ausgeübt habe.
Insgesamt wurden seit 2002 von 70 000 Anträgen ehemaliger Ghettoinsassen auf eine Rentenzahlung nur knapp 6 000 bewilligt, mehr als 90 Prozent der Klagen wurden abgewiesen. Der Bundestag hat vor zwei Wochen einen Antrag der Grünen abgelehnt, die Auszahlung solcher Renten einfacher zu ermöglichen.

Ein halbes Jahrhundert lang hatte sich der deutsche Staat um ein wichtiges Kapitel seiner NS-Vergangenheit nicht geschert. Menschen, die in einem Ghetto oder KZ oder sonstwo auf die eine oder andere Weise zur Arbeit gezwungen worden waren, bekamen weder eine Entschädigung noch eine Altersrente für ihre Tätigkeiten. Nach dem Bundesentschädigungsgesetz von 1956 wurden allein diejenigen entschädigt, die Schäden »aus Gründen politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus oder aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen« – also durch so genanntes spezifisches NS-Unrecht – erlitten hatten. Für die deutsche Justiz bedeutete dies: Der erzwungene Einsatz von Arbeitskraft konnte nicht berücksichtigt werden, denn Zwangs­arbeit, vor allem in Kriegszeiten, sei keine Besonderheit des NS-Staats gewesen.
Im Jahr 2000 wurde mit der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« ein Fonds zur »Entschädigung« der NS-Zwangsarbeiter eingerichtet. Man beschränkte sich auf Einmalzahlungen an eine kleine Gruppe der ehemaligen NS-Zwangsarbeiter. Regelmäßige Altersrenten gab es für die Betroffenen nicht. Dies käme, so das Bun­dessozialgericht im Jahr 1997, allenfalls für eine Arbeit in einem Ghetto in Betracht, wenn es sich um ein »sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis« gehandelt habe, die Arbeit also gerade nicht Zwangsarbeit war, sondern »freiwillig« ausgeübt wurde. Daraufhin beschloss der Bundestag 2002 das »Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungs­verhältnissen in einem Ghetto« (ZRBG). Wer in einem Ghetto der Nazis gearbeitet hatte, sollte eine Rente nach dem deutschen Rentenrecht erhalten. Man müsste nur nachweisen, dass die Arbeit »aus eigenem Willensentschluss« aufgenommen und »gegen Entgelt« geleistet wurde.

Dass die Betroffenen damit »wie normale Arbeitnehmer« behandelt werden, bezeichnet Jerzy Montag, rechtspolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag, als den »Geburtsfehler des Gesetzes«: »Das ohnehin unheimlich komplexe Rentenversicherungsrecht von heute kann auf Arbeitsverhältnisse in einem Ghetto der Nazis nicht einfach übertragen werden.« Und tatsächlich zeigt sich die deutsche Bürokratie hier von ihrer besten Seite. So sind diejenigen, die während der Zeit im Ghetto jünger als 14 Jahre alt waren, von vornherein ausgeschlossen, da man in diesem Alter nach geltendem Recht noch keine rentenversicherungspflichtigen Tätigkeiten ausüben kann. Auch ist völlig unklar, wann in einer lebensbedrohlichen Zwangssituation in einem Ghetto eine Arbeit »aus eigenem Willens­entschluss« aufgenommen wurde. »Damit sind die Ghettobewohner quasi gezwungen, ihre eigene Situation zu verharmlosen, obwohl angesichts der Umstände von einem freien Willen zur Arbeit keinesfalls gesprochen werden kann«, so Montag. Ebenso fraglich ist, was unter einem »Entgelt« zu verstehen ist, denn schließlich haben die meisten Menschen ihre Arbeiten gegen kleine Privilegien oder ein paar Lebensmittel ausgeübt. »Ist ein Teller Suppe schon ein Entgelt?« fragt Montag.
So führen die unklaren Formulierungen in dem Gesetz denn auch zu einer restriktiven Praxis der Behörden und Gerichte. Jost Rebentisch vom »Bundesverband Information und Beratung für NS-Verfolgte« in Köln zufolge nehmen sich einige Richter zwar durchaus Zeit für die Beweiserhebung. »Vielfach wird jedoch nach Aktenlage und ohne Kenntnis der Situation im Ghetto entschieden«, meint Rebentisch. Wird dennoch eine Rente gewährt, ist diese nicht üppig, denn bei einer Arbeitszeit von allenfalls ein paar Jahren fällt nach deutschem Rentenrecht nicht viel an. Chris­tiane Reeh von der Jewish Claims Conference berichtet, dass im Durchschnitt 200 bis 250 Euro an Rente nach dem ZRBG gezahlt werden. »Für viele Menschen ist das dennoch ein wichtiger Beitrag zum Lebensunterhalt. Von Bedeutung ist daneben aber vor allem die symbolische Anerkennung der menschenunwürdigen Lebens- und Arbeitsbedingungen«, so Reeh.
Auf Druck der Betroffenen hatte die Bundesregierung 2007 eine sofortige Einmalzahlung an jeden Ghettoarbeiter in Höhe von 2 000 Euro beschlossen – allerdings verbunden mit der Pflicht, auf sonstige Rechtsansprüche zu verzichten. Dieses Verfahren ist nach Ansicht von Jerzy Montag zwar einfacher, trotz allem dauere es »noch immer fürchterlich lange« – von insgesamt 44 000 Anträgen sind gerade einmal 14 000 bewilligt worden.

Während die wenigen ehemaligen Ghettoinsassen, die noch leben, bis zum Schluss um die Anerkennung ihrer Arbeit und um ihre Rente kämpfen müssen, befasst sich der Innenausschuss des Bundestags seit vergangener Woche mit dem Abschlussbericht über die Entschädigung der Zwangsarbeiter. Insgesamt hat die »Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« 4,4 Milliarden Euro an gut 1,6 Millionen Menschen gezahlt und damit einigen Betroffenen ein kleines bisschen geholfen. Für die meisten der insgesamt rund zwölf Millionen NS-Zwangsarbeiter war jedoch nichts übrig oder kam jede Entschädigung zu spät. Geholfen wurde daher vor allem der deutschen Wirtschaft, die sich durch ihre Beteiligung an dem Stiftungsfonds weitgehend absichern konnte vor neuen Klagen der Betroffenen.
Darüber hinaus kann ein weiteres Kapitel der deutschen Vergangenheit für bewältigt erklärt werden, und die Repräsentanten des deutschen Staats werden sich im »Jahr der Deutschen« in dieser Hinsicht wohl noch einmal kräftig auf die Schulter klopfen. Wie beschrieb doch Angela Merkel einmal die deutsche Vergangenheitspolitik: »Bereits frühzeitig hat (…) die Bundesrepu­blik Deutschland das große Leid, das zahlreichen Menschen von deutscher Seite widerfahren ist, anerkannt. Das ist und war Konsens in unserem demokratischen Gemeinwesen seit 1945.« Da sollte man sich um ein paar Renten doch nicht den Kopf zerbrechen.