Von Belém nach Davos

Für eine Handvoll Nudeln

Mit dem World Economic Forum in Davos wollen die Globalisierungskritiker nichts zu tun haben. Doch allzuweit liegen die Ansichten gar nicht auseinander.

»Ein kluges Wort, und schon ist man Kommunist«, hieß es in den siebziger Jahren. Das kluge Wort ist nun nicht mehr nötig, es wird immer leichter, als links zu gelten. »In ein paar Jahren werden wir alle Sozialisten sein«, prophezeite der brasilianische Befreiungstheologe Leonardo Boff in Belém. »Entweder wir teilen das wenige, was wir haben, oder es wird für niemanden mehr etwas geben.« Dass sich die Produktivkräfte ein wenig entwickelt haben, seit der heilige Martin vor rund 1 600 Jahren seinen Mantel zerschnitt und einem frierenden Bettler eine Häfte überreichte, ist Boff wohl entgangen.
Nicht alle verstehen unter einer »solidarischen Ökonomie« die basisdemokratische Verwaltung des Elends, und viele konnten sich nicht für den »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« begeistern, den der venezolanische Präsident Hugo Chávez propagiert. Die neue große Herausforderung wurde registriert. »Die weltweite Krise verlangt von den Globalisierungskritikern auch globale Antworten und Alternativen«, sagt Hugo Braun, Mitglied des Koordinierungskreises von Attac Deutschland. Die Bewegung wurde von der Wirklichkeit überholt. Wer mag noch von der Tobin-Steuer sprechen, wenn die Regierungen weitergehende Maßnahmen planen? Elmar Altvater bekennt: »Durch die Teilsozialisierung der Banken erscheint die Gegenseite plötzlich als radikal.«
Da läge es nahe, die bislang recht dürftigen theoretischen Grundlagen der Globalisierungs­kritik zu überprüfen. Doch weiterhin empören sich die meisten Globalisierungskritiker über den gefühlten Kapitalismus, vergessen darüber den real existierenden Kapitalismus und können deshalb schwerlich zu dessen Überwindung bei­tragen.

»Wenn wir keine Lösung propagieren, wird sie aus Davos kommen, mit mehr Kapitalismus und weniger Rechten«, sagte der Soziologe Boaventura de Souza Santos. Dieses »mehr« an Kapitalismus wird meistens mit »zu wenig« staatlicher Regulierung gleichgesetzt sowie mit einem Geschäftsgebaren, das Raffale Correa, Präsident Ecuadors und der Newcomer unter den »Sozialisten des 21. Jahrhunderts«, als »ein perverses, auf Gier basierendes System« bezeichnete.
Den Teilnehmern des World Economic Forum in Davos wird das nicht ganz gerecht. Dort beschloss man, »die ethische Wertebasis des Geschäfts als eines konstruktiven sozialen Akteurs zu verbessern«, sorgte sich um die »Ernährungssicherheit«, stellte fest, dass die Überwindung der Krise und der Kampf gegen die globale Erwärmung zusammengehören und forderte nicht etwa weniger, sondern mehr staatliche Regulierung. So weit scheinen die Ansichten der globalen Oligarchie des Kapitals und des Mainstreams der Globalisierungskritik gar nicht mehr auseinander zu liegen. Hätten sich die an einer »Entfaltung unternehmerischer Fähigkeiten« interessierten Geschäftsleute statt in Davos in Belém eingefunden, wäre ihnen manch ein potenzieller Interessent über den Weg gelaufen. Denn auch die Produkte einer »solidarischen Ökonomie« müssen Käufer finden.
Es ist nicht verwerflich, wenn Globalisierungskritiker die Interessen von Kleinproduzenten vertreten, solange es darum geht, den Menschen eine akzeptable Existengrundlage zu verschaffen. Doch bereits die im Kapitalismus erreichte Entwicklung der Produktivkräfte würde genügen, um alle Menschen ausreichend zu versorgen und ihnen allerlei Luxus zu bieten. Eine rational organisierte, also sozialistische Ökonomie, bedarf daher keiner Solidarität mehr, da sie nicht den Mangel »gerecht« verwalten muss. Die »solidarische Ökonomie« hingegen idealisiert eine wirtschaftliche Zwangsgemeinschaft, die überdies, da ihre Mitarbeiter sich selbst um ihre Reproduktion kümmern, leicht dazu dienen kann, Staat und Kapital von ungeliebten Versorgungspflichten zu entbinden.

Die Erhaltung des Regenwalds ist notwendig, egal ob die Leute darin im Smoking herumlaufen oder sich mit einem Penisköcher begnügen. Dass der Penisköcher zweifellos das in tropischer Hitze vorteilhaftere Kleidungsstück ist, bedeutet jedoch nicht, dass seine Träger den Weg zur Überwindung des Kapitalismus weisen können. Statt schlicht Bürgerrechte und Maßnahmen gegen die Diskriminierung zu fordern und auch etwa das Recht indonesischer Regenwaldbewohner auf ihren Penisköcher zu verteidigen, wenn nationalreligiöse Eiferer es in Frage stellen, wird »Identität« zelebriert und als Alternative zum Kapitalismus eine »indigene Lebenweise« propagiert. Selten wird in der Debatte über »kollektive Rechte« problematisiert, dass indigene Traditionen auch reaktionär ein können.
Auch gegen eine reformistische Sozialpolitik ist nichts einzuwenden, sofern sie den Leuten, die es nötig haben, die Taschen füllt. Wenn mehr Venezolaner nun zum Arzt gehen und statt Maisfladen auch mal Nudeln essen können, ist das erfreulich, hat mit Sozialismus jedoch ebensowenig zu tun wie die Einführung eines staatlichen Gesundheitssystems und die Reduzierung der Armut in Thailand unter dem rechtspopulistischen Premierminister Thaksin Shinawatra. Vielleicht sollte man auch einmal den saudi-arabischen König Abdullah einladen. Seine Vorgänger haben, anders als der Kompromissler Chávez, sämtliche Bodenschätze verstaatlicht, der Staatsanteil an der Wirtschaft übersteigt 70 Prozent. Überdies wäre der saudische Säbeltanz eine Bereicherung der folkloristischen Darbietungen.

Als linker Jahrmarkt hat das WSF sicherlich seinen Wert, es finden sich genügend Radikale für anregende Debatten, und die Gelegenheit ist günstig, um internationale Kontakte zu knüpfen. Doch der Mainstream der Globalisierungs­kritik könnte sogar gefährliche Tendenzen begünstigen.
Die »solidarische Ökonomie« kann in eine kapitalistische Modernisierungspolitik integriert werden, die Eigenverantwortung betont und die gesellschaftliche Reproduktion diversen communities übertragen will. Eine weitgehend kritiklose Bewunderung für »indigene Identitäten« legitimiert ein Gesellschaftsbild, in dem jeder Gruppe das Recht zugestanden wird, sich von den Prinzipien der Aufklärung zu verabschieden. Und die Hofierung des autoritären Populisten Chávez lässt befürchten, dass viele Globalisierungskritiker bereit sind, sich führen zu lassen und sich mit einem Nudelgericht zufrieden zu geben.